«Manchmal muss man sich richtig durchkämpfen»

(Insieme Magazin / deutsche Ausgabe)

Ob Verträge, Broschüren, Webseiten oder Wahlunterlagen – damit auch Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiver Beeinträchtigung diese lesen und verstehen können, müssen sie in Leichte Sprache übersetzt werden. Und um sicherzugehen, dass diese Texte tatsächlich bei der Zielgruppe ankommen, werden sie von Prüfgruppen mit Lernschwierigkeiten getestet. Zu Besuch bei einer Prüfgruppe im Büro für Leichte Sprache von Pro Infirmis in Zürich.

Reportage: Susanne Schanda – Fotos: Vera Markus

Soraya Dawoud und Hanspeter Roost haben eine Lernbehinderung und prüfen für Pro Infirmis seit acht Jahren Texte in Leichter Sprache auf ihre Verständlichkeit. Heute stehen zwei Texte für die neue Website von insieme Schweiz auf dem Programm. Der erste Text bereitet den beiden kaum Schwierigkeiten. Soraya liest laut vor. Einzig über den Begriff «kognitive Beeinträchtigung» stolpert sie. Sie versucht es noch einmal, kann das Wort aber nicht aussprechen.Hanspeter fragt: «Was heisst konditiv?» Die Prüfleiterin Andrea Tobler erklärt, dass «kognitiv» alles bezeichne, was im Denken passiere, «kognitive Beeinträchtigung» sei ein anderer Begriff für «geistige Behinderung». Diesen Begriff hingegen wollen die beiden nicht akzeptieren, denn er sei entwertend. «Das drückt uns runter», erklärt Hanspeter und schlägt als Alternativen «Lernbeeinträchtigung» oder«Handicap» vor. Schliesslich einigen sie sich darauf, den Begriff so stehen zu lassen, weil er schwierig zu ersetzen ist. Wenn die Prüfenden über eine schwierige Stelle hinweglesen und keine Einwände zum Verständnis machen, stellt die Prüfleiterin Kontrollfragen.Der Fähigkeit, die Begriffe korrekt auszusprechen, komme dabei keine vorrangige Bedeutung zu. «Ausserdem ist es wichtig, bei den Gesprächen eine gute und wertschätzende Prüfungsatmosphäre zu schaffen, in der sich alle wohl fühlen und sich einbringen können.Diskussionen und die Auseinandersetzung mit Themen sollen Platz haben und sachlich und ohne Wertung besprochen werden können»,sagt Andrea Tobler.

Beim zweiten Text gibt es schon mehr zu korrigieren. Etwa die Al-tersbezeichnung von Kindern «zwischen 0 und 6 Jahren». «Null, das geht doch gar nicht?!», meint Soraya Dawoud und schlägt «von Geburt an …» vor. Auch die Abkürzung Kita wirft Fragen auf. Während sie vermutet, dass damit ein Kindergarten gemeint ist, tippt ihr Kollege auf Spielgruppe. Andrea Tobler schlägt vor, die Abkürzung auszuschreiben: Kindertagesstätte. Das Fremdwort «integrativ» kommt in diesem Text gleich fünfmal vor. Es ist schwierig auszusprechen, aber die beiden Prüfenden verstehen, was gemeint ist.

Lesen – auch in der Freizeit

Soraya Dawoud, die selbstständig in einer eigenen Wohnung wohnt und an einem geschützten Arbeitsplatz im Züriwerk arbeitet, liest auch in ihrer Freizeit gerne. «Am liebsten Bücher über Hunde. Ich habe auch gerne Geschichten über den Weltraum.» Im Internet lese sie nicht viel, nur gerade die Gratiszeitung «20 Minuten». Auch Hanspeter Roost interessiert sich für die Tierwelt. Er arbeitet ebenfalls im Züriwerk und wohnt betreut in einer Wohnung in einerInstitution. Ausserdem lese er viel über Elektronik und Computer:«Ich will wissen, wie das funktioniert.» Für beide ist das Textprüfen eine befriedigende Aufgabe. «Es ist nützlich, eine Hilfe für andere Leute, eine sinnvolle Aufgabe. Denn vieles ist noch nicht barrierefrei», erklärt Hanspeter. Am schwierigsten seien für ihn Gebrauchsanweisungen zu verstehen. Soraya Dawoud hat in den acht Jahren als Textprüferin schon vieles gelernt: «Wörter auszutauschen,schwierige Wörter durch leichte zu ersetzen. Manchmal ist es leicht,manchmal muss man sich richtig durchkämpfen bei den Texten.»Am schwierigsten seien lange Wörter oder Fremdwörter, darin sind sich die beiden einig.

Texte in Leichter Sprache auf der neuen insieme-Website

Weil Soraya Dawoud und Hanspeter Roost bereits viel Erfahrungin der Textarbeit haben, besteht die Gefahr, dass ihr Sprachniveauum einiges höher ist als das Textverständnis von durchschnittlichen Lesenden mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Dem Einwand begegnet Gloria Schmidt, Fachverantwortliche Leichte Sprache bei Pro Infirmis: «Bei der Auswahl der Prüfenden wird in der Regeldarauf geachtet, dass es durchmischte Prüfgruppen mit unterschiedlichen Sprachniveaus sind. Wegen der wechselnden ‚Themen sind aber auch Soraya und Hanspeter – trotz ihrer Erfahrung – immer wieder neu gefordert.» Zudem gibt sie zu bedenken, dass die Prüfenden nicht die alleinigen «Barometer» für das Verständnis eines Textes seien. «Auch die Person, die die Ausgangstexte in Leichte Sprache übersetzt, hat sich bereits viele Gedanken gemacht, damit ein Text gut verständlich ist.»

Ende April geht die neue Website von insieme Schweiz online. Darauf finden sich auch zahlreiche Texte in Leichter Sprache – auf Herz und Nieren abgeklopft von Prüferinnen und Prüfern wie Soraya Dawoud und Hanspeter Roost


Ausnahmesweise in einer kleinen Priifgruppe: Soraya Dawoud und Hanspeter Roost mit der Prüfleiterin Andrea Tobler von Pro Infirmis

 


Prüfgruppen bei insieme

 

Bei mehreren regionalen insieme-Vereinen gibt es in Zusammenarbeit mit Capito Zürich Prüfgruppen für Texte in leichter Sprache.Die Prüfgruppe von insieme Voud hat bereits erste Texte geprüft.Auch beim Bildungsklub Aargau ist eine Gruppe für die ersten Texte bereit, aufgrund der aktuellen Corona-Situation ist abernoch unklar, wann sie sich erstmals treffen kann. Auch insieme Luzern ist daran interessiert, eine Gruppe zu starten.