Mehr als nur Beschäftigung

(Der Bund)

Arbeitsmarkt Immer mehr Restaurants und Läden in Bern stellen Menschen mit Beeinträchtigungen an.Dabei steht nicht der soziale Gedanke, sondern das Business im Zentrum. Wie funktioniert das Geschäftsmodell?


Im Restaurant Fabrique28 in Bern arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Foto: rot

 

Simon Preisig

Es sind nur die Details, die einem zeigen, dass das kürzlich eröffnete Restaurant Fabrique28 ander Berner Monbijoustrasse halt doch nicht ein ganz normales Lokal ist. Zum Beispiel die Tatsache, dass eine Servicekraft nur für zwei Tische zuständig ist.Ähnlich geht es einem beim Einkaufen im neuen Lola-Laden im Mattenhofquartier. Er wirkt wie ein gewöhnlicher Quartierladen,wären da nicht die höhere Anzahl an Angestellten.

Die Erklärung dafür heisst Inklusion, so nennt sich das Prinzip, wenn in einem Betrieb Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammenarbeiten.Der Gedanke der Inklusion ist nicht neu, gerade in der Kulturszene gibt es bereits seit längerer Zeit solche Projekte. Neu ist aber, dass zunehmend auch Gastrolokale und Läden an bester Lage Personen einstellen, die nicht so viel leisten können wie andere.

Neues Lokal in der Lorraine

Der wichtigste Treiber hinter dieser Entwicklung in der Stadt Bern ist Blindspot. Seit vier Jahren betreibt die Organisation das Restaurant Provisorium46 in der Berner Länggasse, letztes Jahr eröffnete Blindspot das besagte Fabrique28 an der Monbijoustrasse, und bald sollen auch im ehemaligen Spunten Felder in der Berner Lorraine unterschiedlichste Menschen arbeiten. Das Haus wird im Moment saniert,im Herbst soll es losgehen – trotz Corona.

Zurzeit arbeiten 30 Personen für Blindspot. Einige sind klassisch ausgebildete Servicefachkräfte, andere sind wegen Beeinträchtigungen wie Trisomie 21,des Asperger-Syndroms oder einer psychischen Erkrankung weniger leistungsfähig. Dennoch erhält Blindspot keine direkten Subventionen. Wie schafft es die Organisation trotzdem, im hart umkämpften Gastrobereich erfolgreich zu expandieren?

Service muss erstklassig sein

Momentan sind die Blindspot-Restaurants wie alle andern geschlossen. Die Angestellten kochen füreinander, um in der Übung zu bleiben. Doch wenn es wieder losgeht, wird die Nachfrage nach guten Restaurants bald wieder gross sein, davon ist Blindspot-Geschäftsleiter Jonas Staub überzeugt. Unddas «gut» ist ihm wichtig, denn beim Service macht er keine Abstriche. «Wer meint, man könne den sozialen Aspekt in den Vordergrund stellen, der macht einen grossen Fehler», sagt Staub. Der Service müsse erstklassig sein, warmes Bier und kalter Kaffee würden von den Gästen nicht goutiert – egal, ob sie von Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung bedient würden. Seine Angestellten seien darum auch Profis auf ihrem Gebiet, also etwa Köche und Servicefachkräfte und keine Sozialpädagogen.

Im Vergleich zu herkömmlichen Betrieben wird die anfallende Arbeit bei Blindspot schlicht zwischen mehr Personen aufgeteilt. «Der Lohn der Mitarbeitenden hängt davon ab,wie viel sie leisten können», sagt Staub. Die Differenz zwischen dem Leistungslohn von Blindspot und dem Geld, das man zum Leben braucht, bezahlt die IV mit einer Rente oder über Ergänzungsleistungen.

«Wer meint, mankönne den sozialen Aspekt in den Vordergrund stellen, der macht einen grossen Fehler.»
Jonas Staub
Geschäftsleiter von Blindspot

Für Staub sind solche Lohnzuschüsse aber keine Subventionsgelder: «Unser Fürsorgesystem gleicht den Nachteil aus, die diese Person wegen ihrer Krankheit oder Behinderung hat», sagt er. Blindspot sei sich des Sozialstaats bewusst, man biete einfach Stellen an, die für möglichst alle Menschen zugänglich seien – laut Staub der Kerngedanke der Inklusion.

Hohe Motivation gefragt

Der Bewerbungsprozess bei Blindspot läuft zweistufig ab: In einem ersten Schritt muss der Bewerber seine Motivation in den Vordergrund rücken. Erst dann wird laut Staub geschaut,wie viel die Person leisten kann.Doch gerade Menschen mit tiefem Leistungslohn und viel Motivation seien für Blindspot einabsoluter Trumpf: Denn niemand habe ein so grosses Potenzial, besser zu werden, wie Menschen mit hoher Motivation.

Menschen orientieren sich laut Staub meist an den Stärkeren,in solch durchmischten Gruppen wie in den BlindspotBetrieben würden Menschen mit Beeinträchtigungen darum sehr viel lernen. Dennoch müsse allen Angestellten klar sein, dass man mit Bars und Restaurants ein «knallhartes Business» betreibe. Aber genau das sei auch eben auch Inklusion, sagt Staub.

Inklusion auch im Bioladen

Mit einem ähnlichen Geschäftsmodell wie dem von Blindspot funktionieren auch die Lola-Läden und der Take-away von Contact. Letztes Jahr eröffnete dieStiftung eine zweite Filiale im Berner Mattenhofquartier. Eininnovatives Sortiment mit vielen veganen Produkten und ein hippes Ladeninterieur lassen Kundinnen und Kunden den sozialen Gedanken hinter dem Geschäft nur sehr bedingt spüren.Dabei arbeiten in den Betrieben von Contact junge Erwachsene mit Sucht-oder anderen Probleme. Sie sollen dank der Arbeitseinsätze oder der dort absolvierten Lehre den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt schaffen. Die Läden und der Take-away kommen abgesehen von dem Lohnersatz für die weniger leistungsfähigen Mitarbeitenden ebenfalls ohne Subventionen aus.

Nicht alle Betriebe von Contact arbeiten mit dem Ansatz der Inklusion. Anders als Blindspot führt Contact etwa auch einen Recyclingbetrieb, der Stellen für Schwerstabhängige anbietet und der auf direkte Zahlungen des Kantons angewiesen ist. Hier steht das Angebot einer Tages-struktur im Mittelpunkt und nicht die völlige Inklusion. Rahel Gall, Geschäftsführerin bei Contact, erklärt dies damit, dass man junge, suchtgefährdete Menschen nicht mit jahrelang Drogenabhängigen zusammenbringen sollte. «Dies könnte die Jungen negativ beeinflussen», sagt sie.

Weniger Jobs als Bewerber

Unabhängig davon: Die in den letzten Jahren geschaffenen inklusiven Jobs in Bern vermögen die grosse Nachfrage nicht zu decken. «Wir können lange nicht allen Bewerbenden eine Stelle anbieten», sagt Staub von Blindspot. Aber dass Menschen miteiner Behinderung lieberin einem zentral gelegenen und populären Restaurant am Puls der Gesellschaft anstatt in einem Beschäftigungsprogramm arbeiten würden, sei doch logisch.

Zwar plant Staub mit Blindspot eine Expansion in andere Schweizer Städte und womöglich auch ins Ausland, wie er sagt.Doch noch mehr Schub für seine Vision von Inklusion erhofft er sich durch das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen, das der Kanton Bern per Ende 2022 in Kraft setzen will. Darin steht der Wechsel von der Objektfinanzierung (Subvention eines Behindertenheims)zur Subjektfinanzierung (direkte Hilfe der Betroffenen) im Fokus. Künftig sollen also behinderte Menschen noch stärker selber entscheiden, wie ihre Unterstützungsgelder ausgegeben werden,zum Beispiel, indem sie im Restaurant von Blindspot arbeiten und sich die Differenz zwischendem zu tiefen Blindspot-Lohn und dem nötigen Lebensunterhalt ausgleichen lassen.

Ganz so weit wie ursprünglich erhofft, gehe das neue kantonale Gesetz nicht, erklärt Walter Zuber, Geschäftsführer der Berner Sektion von Pro Infirmis. Dennoch sei die Neuerung eine Verbesserung zur heutigen Situation.

Nicht allen wird geholfen

Auf eine Stärkung der Rechte der Behinderten hofft auch Rafael Egloff vom Kollektiv der Heiteren Fahne in Wabern. Das Könizer Kulturzentrum hat sich seit seiner Gründung 2013 der Inklusion verschrieben. In der Heiteren Fahne arbeiten rund 35 Menschen ohne und mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen,Tendenz nach wie vor langsam steigend.

Egloff freut sich auch über inklusive Stellen, die andere Betriebe wie Blindspot und Contact für Menschen mit Beeinträchtigung schaffen. Doch er weist auch darauf hin, dass es je nach Art der Beeinträchtigung viel schwieriger sei, Unterstützungsgelder zu erhalten, also den Menschen zu ermöglichen, wirklich von ihren Jobs leben zu können. So seien gerade geflüchtete Menschen mit psychischen Herausforderungen durch die IV und andere staatliche Stellen kaum unterstützt. «Da kann es auch gut einmal vorkommen, dass eine Person trotzdem bei uns arbeiten kann und wir die entsprechende Stelle halt quersubventionieren.» Ganz grundsätzlich träumt Egloff von einer Gesellschaft, in der jeder und jede so viel leistet, wie er oder sie kann. «Dass sich die Höhe des Lohns an Leistung orientiert, ist aus inklusiver Perspektive sowieso überholt.»

Was heisst Inklusion im Beruf?

Alle Menschen sollen unabhängig von einer Behinderung oder andern Beeinträchtigungen möglichst freien Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dies verlangt die Behindertenrechtskonvention der UNO, zu der sich die Schweiz verpflichtet hat. Das bedeutet, dass Barrieren abgebaut werden müssen, die verhindern, dass Menschen mit Behinderung möglichst viele Jobs verrichten können. Dies betrifft einerseits Menschen ohne IV-Rente, wie eine querschnittgelähmte Person, die auf den Rollstuhl angewiesen ist. Darum müssen etwa neue Bürogebäude zwingend mit einem Lift ausgestattet werden.Andererseits sollen auch Menschen profitieren, deren Lohn grösstenteils von der IV bezahlt wird. Auch sie sollen ihre Arbeit,wie in den porträtierten Betrieben indiesem Artikel, möglichst selber auswählen können. (spr)