Mehr politische Rechte für Menschen mit Behinderungen

(Südostschweiz / Bündner Zeitung)

Der Kanton Genf hat behinderten Menschen das Stimm- und Wahlrecht erteilt. Bündner Behindertenverbände hoffen, dass dieser historische Entscheid einen Nachahmer-Effekt auslöst.
von Pierina Hassler

Politische Rechte: Der Kanton Genf ist der erste der 26 Kantone, in dem Menschen unabhängig von ihrer geistigen oder psychischen Behinderung abstimmen und wählen dürfen.Bild Natacha Pisarenko / Keystone

 

Seit Sonntag ist es offiziell – der Kanton Genf macht Schluss mit der Diskriminierung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung. Weit über 75 Prozent des Genfer Stimmvolkes will,dass rund 1200 Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, politischeRechte erhalten.

«Das ist ein historisches Ereignis und muss wegweisend für alle Kantone sein», sagt Kathrin Thuli, Geschäftsführerin von Pro Infirmis Graubünden. Genf sei der erste Schweizer Kanton, in dem Menschen unabhängig von ihrer geistigen und psychischen Behinderung abstimmen und wählen dürften. «Allerdings ist Genf jetzt auch der einzige Kanton, der das internationale Behindertenrecht respektiert.» Der Ausschluss von Behinderten bei Abstimmungen und Wahlen verstosse klar gegen Artikel 29 der UNO-Behindertenrechtskonvention,der die Schweiz 2014 beigetreten sei,so Thuli.

Eine Diskussion lancieren

Philipp Ruckstuhl, Geschäftsführer der Behindertenorganisation Procap Grischun, argumentiert ähnlich. «Das Genfer Abstimmungsresultat ist sehr gut und könnte tatsächlich wegweisend sein.» Ruckstuhl, der für die CVP im Grossen Rat sitzt, will die Gelegenheit beim Schopf packen. «Ich werde nächste Woche in der Session eine Anfrage zum Thema zuhanden der Regierung einreichen.» Er wolle wissen,wie der Kanton Graubünden zu möglichen Anpassungen des Abstimmungsrechts von Menschen mit Behinderungen mit einer umfassenden Beistandschaft stehe. Ruckstuhl findet es wichtig, dass eine Diskussion entsteht.«Dieses Abstimmungs- und Wahlrecht betrifft nicht viele Menschen, trotzdem muss darüber gesprochen werden. Genf hat eine Vorreiterrolle übernommen und die Debatte angestossen.»

Eine Meinung respektieren

Die Churerin Dina Schmid ist körperlich behindert. Auch sie spricht von der Abstimmung in Genf als «historisches Ereignis». Als «Direktbetroffene» freue sie sich sehr, dass das Genfer Stimmvolk ein Zeichen gegen die Diskriminierung von Behinderten gesetzt habe. Dies sei aber auch nicht mehr als recht. «Wir körperlich Behinderten ohne einen Beistand haben es quasi noch am besten», sagt Schmid. «Aber geistig Behinderte und alle anderen,die eine umfassende Beistandschaft haben, werden einfach von der politischen Welt ausgeklammert.»

«Vielleicht traut man uns nicht zu,dass wir alles richtig verstehen.»
Dina Schmid Frauenstreikkollektiv Graubünden

Sie könne zwar gewisse Bedenken gegenüber diesen Menschen verstehen, erklärt Schmid. «Vielleicht traut man uns nicht zu, dass wir alles richtig verstehen.» Es solle ihr aber niemand sagen, dass nicht auch Nicht-Beeinträchtige Rat und Hilfe suchen würden, wenn eine komplizierte Abstimmung bevorstehen würde. Zudem gebe es Behindertenorganisationen,die beim Lesen und Ausfüllen des Stimmmaterials helfen würden.

Schmid sagt von sich, sie sei ein politischer Mensch. «Das war ich schon als Kind.» Mittlerweile ist sie Mitglied der SP Chur, des Bündner Frauenstreikkollektivs und diverser Behindertenorganisationen. Aktuell möchte sie eine Gruppe gründen, um zusammen mit anderen behinderten Menschen zu politisieren. «Ich würde gerne noch mehr für die Behindertenpolitik in Graubünden machen.»

Würde und Selbstwert

Obwohl das Resultat in Genf deutlich ausgefallen ist, gab es im Vorfeld die Art von Bedenken, die Schmid angesprochen hat. Die Genfer SVP und die Jungfreisinnigen beispielsweise befürchteten, dass damit das Risiko erhöht werde, dass andere Personen das Stimmrecht anstelle der Behinderten ausüben könnten. Kathrin Thuli von Pro Infirmis wischt diesen Einwand beiseite: «Das Missbrauchsrisiko bei Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung ist nicht grösser als beispielsweise bei betagten Personen.» Aber natürlich sei sich Pro Infir-mis bewusst, dass geistig und körperlich behinderte Menschen Unterstützung brauchen würden.

In Genf wurde schon vor der Abstimmung vom vergangenen Sonntag darüber nachgedacht, einfache und verständliche Unterlagen zu kantonalen und kommunalen Abstimmungen zu verschicken. «Das muss sein», fordern auch Thuli und Ruckstuhl. «Nur so kann man behinderten Menschen Selbstwert und Würde vermitteln.»