Menschen mit Beeinträchtigung monieren: «Wir werden nicht ernst genommen»

(Aargauer Zeitung / Aarau-Lenzburg-Zofingen)

von Kelly Spielmann


Im Kommissionszimmer diskutieren die Nationalräte Beat Flach, Irène Kälin, Thierry Burkart und Christian Lohr mit den Beeinträchtigten über ihre Anliegen.

 

Bei «insieme inklusiv» setzen sich neun Menschen mit Beeinträchtigung für ihre Rechte ein – und diskutieren dafür im Bundeshaus mit Nationalräten.

Cinzia Perri ist wütend. Sie wendet ihren Blick vom Zugfenster ab, blickt zu ihren Mitreisenden und kratzt etwas Farbe von ihren lackierten Fingernägeln. «Viele Leute denken, wir können nichts, sind blöd. Die denken: Die sind weniger gut, weil sie behindert sind», sagt sie. Eric Reitmaier unterbricht sie. Das Wort «behindert» mag er nicht. «Wir haben eine kognitive Beeinträchtigung, wir sind nicht behindert», betont er.

Er stört sich daran, dass viele Jugendliche den Ausdruck als Beleidigung verwenden. Robin Zimmermann nickt. Ihm liegt dieses Anliegen besonders am Herzen, wie Alexander May von insieme Aarau-Lenzburg erklärt. «Er hat uns in der Gruppe darauf aufmerksam gemacht, dass das Wort verletzend sein kann.» Robin Zimmermann selber sagt nicht viel. Jedenfalls nicht vor Fremden. Doch er hat seine eigene Meinung – und die ist ihm wichtig.


insieme inklusiv: Kurt Stöckli, Robin Zimmermann, Laura Murciano, Pia Gysi, Nina Wiederkehr, Tamara Hofstetter, Cinzia Perri, Eric Reitmaier, Gruppenleiter Alexander May und Projektleiter Jan Habegger mit Hund Cliff (von oben nach unten).

 

Deshalb macht er, wie acht weitere Mitglieder von insieme Aarau-Lenzburg, bei «insieme inklusiv» mit. «Mit dem Projekt möchte insieme die UNO Behindertenrechtskonvention innerhalb der regionalen Vereine umsetzen», erklärt May, der Moderator der Gruppe. Den Mitgliedern soll mehr Teilhabe und Mitgestaltung ermöglicht werden. Denn, wie May sagt: «Sie können mehr, als viele Menschen ihnen zutrauen.» Die Teilnehmer unternehmen in der Gruppe beispielsweise Ausflüge, die sie mit punktueller Unterstützung selber organisieren. Jeder habe dabei die Möglichkeit, seine Stärken einzusetzen. Robin Zimmermann sei am Computer stark, Tamara Hofstetter ein Organisationstalent. Die geplanten Ausflüge werden jeweils bei insieme Aarau-Lenzburg in das Programm aufgenommen.

«Noch keine Gleichstellung»

Ein wichtiges Thema sind auch die Rechte von Menschen mit einer Beeinträchtigung. So waren drei Mitglieder im August im Ausschuss der UNO-Behindertenrechtskonvention, um ihre Anliegen zu vertreten. Mit diesem Thema hängt denn auch der aktuelle Ausflug zusammen: Die Gruppenmitglieder besuchen Nationalräte im Bundeshaus.

Die ursprüngliche Idee hinter dem Ausflug: Die Teilnehmer sollen die Gemeinsamkeiten bei der Mitbestimmung als Mitglied in einem Verein und als Bürger eines Staates erkennen. Beim Gespräch mit den Nationalräten sollen sie ausserdem die Möglichkeit haben, über ihre Anliegen und Probleme zu diskutieren. Doch der erste Punkt im Programm ist, den Nationalräten von der Tribüne aus zuzusehen. Während einer Stunde beobachten sie die Diskussion über Lohngleichheit – ein interessantes Gespräch für die insieme-Mitglieder, die sich selber täglich mit dem Thema Gleichberechtigung auseinandersetzen müssen. Sei es am Bahnhof, auf der Strasse oder im Berufsalltag: «Man nimmt uns einfach nicht gleich ernst wie die anderen», so Cinzia Perri.

Auch von Seite des Staates sehen die Teilnehmer Probleme. Denn: die Schweiz ist der UNO-Behindertenrechtskonvention beigetreten. Damit verpflichtet sie sich, Hindernisse für Menschen mit Beeinträchtigungen zu beheben, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern. «Und auch heute ist das in der Schweiz noch nicht der Fall», so Alexander May. Zu dieser Problematik hoffen die Teilnehmer auf Antworten von den Nationalräten. Verständlich, dass die Gruppe aufgeregt ist, als sie endlich von der Tribüne geholt und zum Treffen in ein Kommissionszimmer geführt wird.

Zu wenig Ergänzungsleistungen?

«Leider gibt es zurzeit politische Mehrheiten in diesem Gebäude, die lieber weniger Geld ausgeben, statt es am richtigen Ort auszugeben.» So die Meinung von SP-Nationalrat Cédric Wermuth zum Thema Ergänzungsleistungen. Kurt Stöckli, der bei «insieme inklusiv» dabei ist, ärgert sich über diese. «Wenn man selbstständig in einer Wohnung leben will und nicht im Heim, bekommt man zu wenig Geld», findet er. Dabei sei das ja günstiger. Davon, ausgiebig über sein Anliegen zu reden, kann man ihn kaum noch abbringen. «Wenn ich mal in meinem Element bin, kann mich nichts mehr stoppen», lacht er. Stöcklis Stärke ist das Diskutieren. Wichtig sei für die Gruppe gewesen, verschiedene politische Einstellungen anzutreffen.

Deshalb sind neben Wermuth noch Irène Kälin (Grüne), Beat Flach (GLP), Thierry Burkart (FDP) und Christian Lohr (CVP) dabei. Eingeladen war auch Hansjörg Knecht (SVP). Er hatte zwar zugesagt, habe aber vergessen, den Termin in die Agenda einzutragen. Deshalb kam er nicht zum Treffen. Die anwesenden Nationalräte befassten sich aber intensiv mit den Fragen der Teilnehmer.

Beeinträchtigt, nicht behindert

Pia Gysi will abstimmen und fordert ein Abstimmungsheft in einfacher Sprache – Beat Flach würde dies begrüssen, denn «auch wir verstehen die komplexe Sprache manchmal nicht». Cinzia Perri möchte vielleicht einmal heiraten und deshalb nicht auf einen Teil der Rente verzichten müssen – Kälin gibt ihr recht, denn «das Leben wird nicht günstiger, wenn man verheiratet ist». Nina Wiederkehr möchte nicht behindert genannt werden, weil sie das verletzt. Das kann besonders Christian Lohr nachvollziehen: «In über 90 Prozent aller Artikel, in denen ich vorkomme, wird erwähnt, dass ich behindert bin.» Burkart meint, dass es möglich wäre, bei Gesetzesrevisionen den Begriff durch Menschen mit Beeinträchtigung zu ersetzen. Flach fügt an: «Man darf ungeniert sagen: Ich bin nicht behindert. Ich habe eine Beeinträchtigung.» Nina Wiederkehr wiederholt: «Ich bin nicht behindert!» Neben ihr sitzt Robin Zimmermann – und nickt.