Menschen mit Behinderung auf dem Abstellgleis

(Neue Zürcher Zeitung)

Gastkommentar
von CHRISTIAN LOHR

Zugpassagiere, die blind, gehörlos oder im Rollstuhl sind, sollen die neuen Züge der SBB nicht selbständig nutzen können. Dies die Quintessenz eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts (BVG), welches die Beschwerde von Inclusion Handicap gegen die befristete Betriebsbewilligung für die neuen Doppelstockzüge (FV-Dosto) der SBB fast gänzlich abgelehnt hat. Das Dosto-Urteil ist gesellschaftspolitisch ein massiver Rückschlag und zeigt sinnbildlich, wie steinig der Weg bis zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen noch ist. Der Entscheid torpediert die Bemühungen zum Abbau von Hindernissen und ist gegen die Selbstbestimmung gerichtet. Und deshalb ist es nur folgerichtig, dass Inclusion Handicap das Urteil an das Bundesgericht weiterzieht.

Inklusion und autonome Lebensführung sind das erklärte Ziel der Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz ratifiziert hat. Menschen mit Behinderungen wollen selber entscheiden können, wie und wo sie wohnen. Ihr Anspruch, im ersten Arbeitsmarkt arbeiten zu können, sollte heute eigentlich unbestritten sein. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist auch die Mobilität. Deshalb verlangt das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in der Schweiz auch einen hindernisfreien öV bis ins Jahr 2023. Umso enttäuschender ist das Urteil des BVG, das weit mehr als einen symbolischen Charakter hatschliesslich soll der Dosto 40 Jahre lang verkehren.

Das Urteil ist auch ein Widerspruch zur Behindertenpolitik des Bundesrates, bei der Anspruch auf Selbstbestimmung ein Schwerpunkt ist. Selbstbestimmung ist nicht selbstverständlich, wenn aus behinderungsbedingten Gründen selbständige Entscheide nicht getroffen werden können. Für Menschen mit Behinderungen ist das zu oft der «normale» Alltag, und sie sind in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, wenn es um Fragen geht wie: Mit wem will ich leben? Welchen Beruf will ich ergreifen? Welche der öffentlichen Dienstleistungen kann ich in Anspruch nehmen? Was alle Menschen in unserer Gesellschaft erwarten dürfen, gilt auch für Menschen mit Behinderungen: Hindernisse abbauen bedeutet Ausrichten unserer Dienstleistungen und Einrichtungen auf die Bedürfisse aller Einwohner und Einwohnerinnen. Es ist ein Beitrag zur Lebensqualität und zu einer Gesellschaft, die Menschen nicht ausschliesst. Und er erschliesst vor allem auch das Potenzial der Menschen mit oder ohne Behinderungen, in Anerkennung der Beeinträchtigungen, mit welchen Mann oder Frau zu leben hat.

Der Entscheid des BVG ist ein dunkler und technokratischer Entscheid. Im Vordergrund stehen die technischen Normen; das Fehlen einer Auseinandersetzung des Gerichts mit den menschen- und grundrechtlichen Anliegen ist überaus spürbar. Diese Anliegen sind gesellschaftspolitisch nicht nur berechtigt, sondern sie werden auch vorausgesetzt. Mobilität und Flexibilität des Einzelnen sind gesellschaftliche Schlüsselbegriffe in allen Lebensbereichen, sei dies in der Schule, bei der beruflichen Ausbildung, im Sport, beim Wohnen, in der Freizeit oder in der Arbeit. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts ist für mich einerseits bereits Vergangenheit und anderseits ein schlechtes Beispiel auf dem langen Weg zur Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen. Gesellschaftspolitisch müssen wir den entgegengesetzten Weg gehen in Richtung einer Gesellschaft, für die Selbstbestimmung auch von Menschen mit Behinderungen selbstverständlich ist.
Christian Lohr ist Nationalrat (cvp., Thurgau) und Vizepräsident Pro Infirmis