Misstraut Berset seinen eigenen Leuten?

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Sozialminister lässt angebliche Sparvorgabenin der Invalidenversicherung untersuchen.

FABIAN SCHÄFER, BERN


Für die Integration von Behinderten und Kranken in den Arbeitsmarkt fehlt es der Invalidenversicherung an Personal.ANNICK RAMPE NZZ

 

Auf die «Scheininvaliden» folgen die «fiesen Gutachter». In der Debatte um die Invalidenversicherung (IV) hat der Wind gedreht. Vor Jahren sorgten echte und vermeintliche Schmarotzer für Ärger. Die Kampagne, angeführt von der SVP, brachte die IV in Misskredit. Heute steht sie immer noch im Gegenwind,doch dieser bläst aus der anderen Richtung. Behindertenverbände und linke Politiker geben den Ton an. Im Visier sind primär externe Gutachter, die abklären, ob jemand arbeitsfähig ist. Sie seien oft abhängig von der IV und arbeiteten ungenau oder parteiisch, heisst es.

Neu steht aber noch ein zweiter, gravierender Vorwurf im Raum: Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) macht den IV-Stellen angeblich fragwürdige «Sparvorgaben». Dies berichteten die Tamedia-Zeitungen kurz vor Weihnachten. Eines dieser «Sparziele» beziehe sich auf die Anzahl neuer Renten pro Einwohner. Konsequent zu Ende gedacht, würde das bedeuten, dass das BSV diktiert, wie viele Renten die IV pro Jahr sprechen darf – ein eklatanter Verstoss gegen den gesetzlichen Auftrag, alle Gesuche unvoreingenommen zu prüfen.

Bundesrat sieht Klärungsbedarf

Bundesrat Alain Berset (sp.) hat bereits früher auf die Vorwürfe gegen die IV reagiert. Der Sozialminister hat Ende November eine interne Untersuchung zur umstrittenen Praxis angeordnet, wie sein Sprecher Peter Lauener sagt. Damals hat Berset auch eine Analyse zur Frage der Gutachten in die Wege geleitet. Diese Untersuchung wird extern erstellt.

Wie muss man das verstehen? Dass Berset Untersuchungen einleitet, stattdie IV zu verteidigen, erscheint wie ein Misstrauensvotum gegen die eigenen Fachleute. Sein Sprecher sagt dazu lediglich, es bestehe «Klärungsbedarf». Notwendig sei eine vertiefte Abklärung zur Art und Weise, wie die IV arbeite.

Umso erstaunlicher ist der Vorgang, weil die fragliche Praxis nicht etwa neu ist. Sie geht zurück auf die 5. IV-Revision, die 2008 in Kraft trat. Mit dieser Reform hat der Bund die Eingliederung von Behinderten und Kranken in den Arbeitsmarkt wesentlich verstärkt, etwa in Form von Umschulungen, Ausbildungen und Arbeitsversuchen. Man liess sich dies einiges kosten. Der Bund nahm für die berufliche Integration nach 2008 grössere Mehrausgaben in Kauf,die IV konnte 300 neue Stellen schaffen.Im Gegenzug sollte das BSV überprüfen, ob sich diese Investition auszahlt.Unter anderem vereinbaren das Amt und die IV-Stellen jedes Jahr mehrere Kennzahlen. Es sind diese Werte, welche die IV-Kritiker nun als «Sparvorgaben» angreifen. Das BSV weist dies zurück und spricht von «Leistungszielen».

Unabhängig vom Namen scheinen diese Ziele nicht besonders relevant zu sein. Rückmeldungen aus IV-Stellendeuten darauf hin, dass es sich eher um Planzahlen als um verbindliche Grössen handelt. Das BSV hat auch nicht versucht, die «Vorgaben» durchzusetzen.

Der Direktor der IV-Stelle Bernspricht offen über das Thema. «Ich gab dem BSV immer klar zu verstehen, dass zum Beispiel eine Vorgabe zur Quote der Neurenten rechtlich nicht infrage kommt», sagt Dieter Widmer. Stets habe er verlangt, dass entsprechende Feststellungen in der Zielvereinbarung erwähnt würden. Das Amt habe dies «anstandslos» akzeptiert. In der Vereinbarung für 2020 steht etwa, dass die Neurentenquote nur als «Planzahl» und «im Sinne einer Schätzung» anerkannt werde. Für Widmer ist der Fall damit klar: «Ich habe diese Werte nie als Vorgabe empfunden.» Er habe sie auch intern nie kommuniziert.

Noch ein zweiter Aspekt spricht dagegen, dass das BSV mit den umstrittenen Zahlen eine harte Sparpolitik durchsetzen will: Wenn die Berner IV-Stelle gewisse Ziele nicht erreicht hat -was in den letzten Jahren durchaus vorkam -, hatte dies laut Widmer keine Konsequenzen. Aus seiner Sicht bestünde auch gar keine Grundlage für Sanktionen irgendwelcher Art.

Somit blieb die fragliche Praxis in Bern folgenlos. Dennoch findet Widmer,der Sache wäre gedient, wenn das Amt künftig auf diese Planzahlen verzichten würde. Seine Sorge: Das Vorgehen spielt jenen Kreisen in die Hände, die ohnehin argwöhnen, das IV-Personal denke mehr an die Staatsfinanzen als an die Versicherten. Widmer weist diese Vorwürfe zurück: «Wir fällen keine politisch motivierten Rentenentscheide.» Man setze auf den Dialog und habe die Anzahl der Beschwerdeverfahren zuletzt reduzieren können.

Ähnlich tönt es im grössten Kanton: Auch in Zürich hatte es keine Konsequenzen, wenn ein Zielwert verfehlt wurde. Anders als in Bern werden die Zahlen intern zwar kommuniziert. Martin Schilt, Leiter der IV-Stelle Zürich,betont aber, im Alltag hätten sie keine Bedeutung. Er sieht die Ziele eher als«Wasserpegelmesser»: Sie sollen insbesondere zeigen, ob die berufliche Eingliederung vorankomme. Schilt plädiert für eine andere Auslegung der Zahlen:«Es geht nicht darum, möglichst viele Renten zu verweigern, sondern möglichst oft dafür zu sorgen, dass eine Rente gar nicht nötig ist, weil wir jemanden erfolgreich integrieren können.»

Hier sieht der Zürcher IV-Chef das wahre Problem: «Wir haben nicht genug Ressourcen, um alle Personen eingliedern zu können, bei denen das möglich wäre.» 2014 hat das BSV den Personalbestand und die Budgets der IV-Stellen plafoniert. In Zürich führe dies zu Engpässen, so Schilt. Er hat die Prioritäten zur beruflichen Integration verschoben – und nimmt in Kauf, dass andernorts Pendenzen wachsen. Das BSV arbeitet seit längerem an einem neuen Finanzierungsregime, ohne bisher einen Vorschlag präsentiert zu haben.

Finanzielle Probleme ungelöst

Der Spielraum für einen weiteren Ausbau ist allerdings klein. Die Finanzlage der IV ist angespannt, und die Politik schreckt davor zurück, die ursprünglich angekündigten Sparmassnahmen zu beschliessen. Die IV hat bei der AHV immer noch Schulden von 10,3 Milliarden Franken. Der Bund schiebt den Zeitpunkt, in dem die IV schuldenfrei sein soll, laufend hinaus. Ursprünglich war 2024 das Zieljahr. Vor zwei Jahren hiess es, «spätestens» 2030 werde man so weit sein. Derzeit – und bis auf weiteres – gilt 2032 als Stichjahr.