Neuer Elan für Selbstvertretung in der Romandie

(Insieme Magazin / deutsche Ausgabe)

Nach der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz hat die Bewegung der Selbstvertretung inder Westschweiz 2015 Fahrt aufgenommen. Die Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter haben sich Gehör verschafft, um diese Rechte auch im Alltag umzusetzen. Das Projekt «insieme inklusive greift auch in den Westschweizer Kantonen.

Text: Martine Salomon – Fotos: zvg

Rund zehn Besucherinnen und Besucher mit geistiger Behinderung betreten das Gebäude des Grossen Rats des Kantons Waadt, beeindruckt von der Architektur des Baus. Ein Sekretariatsmitglied erklärt ihnen mithilfe eines Videos, wie das Kantonsparlament funktioniert und wie die Sitzverteilung der Parteien im Saal aussieht. Sie lassen sich auf der Tribüne nieder und hören den Debatten zu. Die erste Vizepräsidentin begrüsst die Gäste offiziell. Anschliessend nehmen sie an einem reichen Imbiss in der Cafeteria teil, bei dem ihnen einige Parlamentsabgeordnete die Hand geben. Dies erfüllt die Besuchermit Stolz. «Wir wurden wie Päpste empfangen», sagt Doriane Gangloff, Ausbildnerin und Coach der Selbstvertreter, welche die Gruppe Anfang März begleitet hat. Diese hatte sich bereits im letzten Herbst getroffen, um sich über die eidgenössischen Wahlen zu informieren.Dabei konnten die Mitglieder auch drei Waadtländer Kandidaten treffen.«Allestellten Fragen. Einige erteilten den Politikern gar Ratschläge! Diese blieben viel länger als vorgesehen. Die Atmosphärewar aufrichtig und entspannt.»

Diese Personen bilden die erste «insieme inklusiv»-Gruppe in derRomandie . Nachdem das Konzept in der Deutschschweiz lanciert worden war, setzte es Doriane Gangloff für insieme Schweiz zusammen mit den Regionalverbänden auch in der Westschweiz um, zuerst in der Waadt, später in den anderen Kantonen.Ziel ist es, diese Menschen dabei zu unterstützen, sich ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden, sich auszudrücken und sich zu behaupten:«Wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, haben sie viel zu sagen!»Einmal auf individueller Ebene, für ihr eigenes Leben. Auf einer zweiten Ebene können sie verstärkt auch global Einfluss nehmen und sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen.«Hier war eseinfach, denn diese Politiker waren in Sachen Behinderung bereits sensibilisiert. Den Selbstvertretern ist jedoch nicht zwingend bewusst, dasses auch Persönlichkeiten geben könnte, die ihre Anliegen nicht unterstützen! Darauf muss man sie vorbereiten.»

Seine Rechte wertschätzen

Den Menschen mit Behinderung eine Stimme geben. Das ist die Motivation des Projekts «Rechte und Partizipation», das vom Verein ASA Handicap Mental geleitet wurde. Im Jahr 2014 ratifizierte die Schweiz die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mitBehinderungen (UNO-BRK). ASA Handicap Mental bildete darauf in den sechs französischsprachigen Kantonen Diskussionsgruppen zu diesem Thema. Dazu nahm sie Kontakt mit den betreffenden Einrichtungen auf, die wiederum 53 Personen mit Behinderungen vorschlugen (6 bis 12 pro Gruppe), in Begleitung von 16 Fachleuten.Alle Mitglieder hatten einen Bezug zu den Institutionen, auch wenn einige ausserhalb wohnten. «Sie ergriffen die Chance, denn sie hatten sich bereits in ihren Institutionen eingesetzt, um etwas zu bewirken. Ohne es zu wissen, waren sie also bereits so etwas wie Selbstvertreter. Da sie sich schon sehr früh ihrer Rechte bewusst waren,wollten sie noch weiter gehen», erklärt Doriane Gangloff, die den Prozess begleitet hat.

Sie lernten, in der Öffentlichkeit zu reden, und wurden mit den Rechten vertraut gemacht, die in der UNO-BRK stehen. 2015 kamen sie 10- bis 15-mal zusammen, um diese Rechte mit der Realität in ihrem Alltag zu vergleichen: Privatleben, Unterkunft, Familie,soziale Kontakte, Schul- und Berufsleben, Verwaltung, Politik, Jus-tiz, Sport und Kultur. Sie listeten die Hindernisse auf und schlugenLösungen vor. Das Ergebnis ihrer Überlegungen wurde im Dossier«Anerkennt unsere Rechte!» publiziert. Dieses wurde an Bundesrat Alain Berset, den Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), an die Verantwortlichen der Institutionen sowie an die Zuständigen der Kantone verschickt.

Auswirkungen


Wie geht Politik? Besuch im Waadtländer Kantonsparlament.

 

«Ich habe Probleme beim Ausfüllen von Formularen», erklärten einige der Teilnehmenden. Auch im öffentlichen Verkehr ist es nicht einfach, die Informationstafeln zu verstehen oder am Automaten ein Ticket zu lösen. Noch schlimmer ist es bei Umleitungen: «Die Qualität der Lautsprecher ist schlecht, und die Durchsagen werden zu schnell verlesen.» Die Betroffenen haben auch das Gefühl, ihre Meinung für Entscheidungen im Leben oder im Alltag zähle wenig.«Oft entscheiden andere für mich.» «Ich möchte selbst bestimmen,wie ich mich kleide.» Hinzu kommen auch noch verletzende Bemerkungen oder Verhaltensweisen im sozialen Leben; «Die Leuteschauen mich komisch an.»

Von Anfang an herrschten unter den Teilnehmenden eine gute Stimmung und Wohlwollen. «Jene, die sich besser ausdrücken können,begriffen, dass sie nicht zu viel reden sollten, damit auch jene zu Wort kommen, die mehr Mühe haben», erklärt Doriane Gangloff.

Zum Auftakt des Treffens sagen alle, wie es ihnen geht, und äussern allfällige Bedenken. So kann vermieden werden, dass sie später die Diskussionen stören. Dann geht man zurTagesordnung über, welche die Begleitpersonen zusammen mit den Selbstvertretern ausgearbeitet haben. Einige der dabei präsentierten Lösungen wurden bereits realisiert. So hat die Genfer Gruppe die Jugendlichen in den Schulen dafür sensibilisiert, Menschen mit geistiger Behinderung im öffentlichen Verkehr nicht mehr zu belästigen. Auch Ärzte wurden von der Gruppe angesprochen. Denn es kommt immer wieder vor, dass sich der Arzt oder die Ärztin während der Konsultation nur an die Erziehungsbeauftragten, nicht aber an die betroffene Person wendet.

«Unser Wunsch war es, dass diese Gruppen, die im Rahmen der UNO-BRK gegründet wurden, über längere Zeit funktionieren»,sagt Doriane Gangloff. Aktiv sind aber nur noch zwei, jene in Genfund in Neuenburg. «Die Gründe dafür kann man sich etwa ausmalen. Meiner Ansicht nach war es eine Frage des Willens. Denn so eine Gruppe ist zeitintensiv und braucht Organisation, Energie und Personal.» Um zu verhindern, dass diese Gruppen obsolet werden,müssen sie von Leuten getragen werden, die eine Führungsrolle übernehmen. Wenn aber zum Beispiel Begleitpersonen aus den Institutionen den Arbeitsplatz wechselten, wurde dieses System wieder unterbrochen.

«Innerhalb der einen oder anderen Institution entstanden zwar ver-gleichbare kleine Gruppen», sagt Doriane Gangloff. «Ideal wäre jedoch, Gruppen auf Kantonsebene zu fördern, die – unabhängig von Institutionen oder Vereinen – allen offenstehen würden», glaubt sie. Diesen Wunsch haben auch mehrere ehemalige Teilnehmende ausgesprochen.


In der Öffentlichkeit des Wort ergreifen – das kann man lernen