Nicht alle Ustermer Bürger haben politische Rechte

(Zürcher Oberländer)

Uster Bald sind Wahlen. Doch manche Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung dürfen nicht wählen gehen.Sie haben keine politischen Rechte. Auch in der Stadt Uster nicht, welche die lnklusion von Behinderten fördern will.

Laura Cassani
Nicht alle Ustermerinnen und Ustermer werden in zwei Wochen einen Wahlzettel in die Urne werfen und mitbestimmen,wie der Kantons- und Regie rungsrat künftig zusammengesetzt sein sollen. Die einen, weilsie am Sonntag verschlafen oderweil sie sich nicht für Politik interessieren, andere, weil sie keinen Schweizer Pass haben.

Es gibt aber auch Menschenmit Schweizer Pass, die vielleicht gerne politisch mitentscheiden würden – es aber nicht dürfen.Menschen,die als dauernd urteilsunfähig gelten und unter umfassender Beistandschaft stehen, sind in der Schweiz vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Das sind in der Regel Menschen mit schwerer geistiger oder psychischer Behinderung.

«Risiko der Demokratie»

In der Stadt Uster, die sich als Inklusionsstadt positionieren unddie Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in den kommenden Jahren besonders fördern will (siehe Box), leben und arbeiten viele Menschen, die umfassend bebeistandet sind. Unter anderem im Werkheim oder inder Stiftung Wagerenhof.

Schweizer Behindertenorganisationen fordern, dass Unterstützungsangebote geschaffenwerden, die es auch diesen Menschen erlauben, ihre politischen Rechte wahrzunehmen. Die heutige Situation widerspreche der Uno-Behindertenrechtskonvention. Das Argument: Auch urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger seien nicht immer in der Lage sich eine rationale Meinung über eine politische Vorlage zu bilden.«Dass viele trotzdem stimmen gehen, gehört zum normalen Risiko einer Demokratie», wird der Jurist Pierre Margot – cattin im «Tages-Anzeiger» zitiert.

Die Politik vermissen?

Patrick Stark, Geschäftsleiter des Werkheims Uster,sagt: «Ichweiss bei uns von niemandem,der es vermisst, dass er oder sienicht abstimmen oder wählen darf.» Das heisse aber nicht, dasses das nicht gebe. Und auch inder Stiftung Wagerenhof hat manes laut Gesamtleiter Andreas Dürst noch nie erlebt, dass jemand hätte wählen wollen, derdas nicht durfte.

Von Stark und Dürst wird die Forderung nach politischen Rechten auch für umfassend Bebeistandete nicht ausdrücklich wiederholt. Werkheim-Leiter Stark bleibt allgemein: «Unsist es ein grosses Anliegen, dassdie Menschen im Werkheim anden gesellschaftlichen Prozessenteilhaben können. Dazu gehörtauch, dass sie politische Rechtewahrnehmen können.» Wagerenhof-Leiter Dürst würde sicheine Einzelfallprüfung wünschen: «Wenn eine Person das Stimm- und Wahlrecht wünscht,sollte sie ihre politischen Rechte unabhängig von ihrer Beistandschaft ausüben dürfen.»

Auf Bundesebene ein Thema

Die Behindertenorganisationen fordern nicht nur, dass alle Schweizerinnen und Schweizer die gleichen Rechte haben – egal,ob mit oder ohne Behinderung.Sie setzen sich auch dafür ein dass allen geistig Behindertendas Abstimmen und Wählen leichter gemacht wird. Das Parlament verpflichtete den Bundesrat Ende 2017, Massnahmen zu prüfen, um bestehende Hindernisse abzubauen. Ein erster Erfolg.

«Demokratie muss man lernen», sagt Patrick Stark. Auchim Kleinen. Im Werkheim gibtes deshalb einen Betriebsrat, wogewählte Abgeordnete die Interessen ihrer Kolleginnen und Kollegen an den geschützten Arbeitsplätzen vertreten. «Am Anfang hat sich gezeigt, dassviele sich nicht gewohnt waren,andere Personen in ein Amt zu wählen.» Im Wagerenhof findet regelmässig eine Gesprächsrunde statt, in der auch aktuelle politische Fragestellungen thematisiert werden können. Sie heisst «Mir redä mit» – wobei berück-sichtigt werden muss, dass ein Gross teil der Bewohnerinnenund Bewohner im Wagerenhof keine verbale Sprache zur Verfügung haben.

«Kein präsentes Thema»

Doch das Interesse für Politik istunter den Ustermerinnen undUstermern mit Behinderung offenbar nicht sehr gross. Ein Werkheim-Bewohner, der kaum eine Sitzung des Ustermer Gemeinderats verpasst und jetzt sogar für den Kantonsrat kandidiert, sei die Ausnahme, so Stark.Auch im Wagerenhof sei Politik«kein präsentes Thema», sagtDürst.In beiden Ustermer Institu-tionen ist allerdings – politisches Interesse hin oder her – klar:

Menschen mit geistiger Behin-derung brauchen Unterstützung,wenn sie ihre politischen Rechte ausüben. Manchmal sei es nurschon schwierig zu verstehen, obman Ja oder Nein auf den Zettel schreiben muss, wenn mangegen eine Vorlageist,sagt Werkheim-Geschäftsleiter Stark.Die Betreuungspersonen böten individuelle Unterstützung. «Es ist uns wichtig, niemandemunsere eigene Meinung aufzudrücken.»

Nur schon den Sachverhaltzu erklären, also kein Ja, Nein oder die Wahl einer bestimmten Politikerin zu empfehlen, sei herausfordernd, gesteht Stark. Die Befürchtung, dass Betreuungspersonen auf die Wahlentschei-dung Einfluss nehmen könnten,sei nicht ganz von der Hand zuweisen, sagt auch Dürst. Er fügtaber an: «Auch durch die Sozialisation in der Familie oder ineinem sonstigen sozialen Um-feld findet eine gewisse Beein-flussung statt.»

Leichte Sprache nötig

Würden die Behörden eine ein-fachere Sprache verwenden,wäre schon viel geholfen. Darinsind sich die beiden UstermerFachleute einig. Wagerenhof-Leiter Dürst findet gar, dass Wahl-und Abstimmungsunterlagen«unbedingt»insogenannter«Leichter Sprache» verfasst wer-den müssten. Das ist eine Sprache, die klaren Grundsätzen folgt- etwa möglichst keine Nebensätze zu verwenden. Und zudemvon einer Gruppe von Betroffenen vor der Veröffentlichung ge-prüft wird. Für Dürst steht fest:«Nur wenn Unterlagen in geschrieben sind,ist für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung politische Teil-habe überhaupt möglich.»

Auf dem Weg zur Inklusionsstadt

Bis ins Jahr 2021 wird in Usterjährlich fast eine Viertelmillion investiert, um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zu fördern. Uster will zur Inklusionsstadt werden. Dabei soll auch die politische Partizipation von Ustermerinnen und Ustermern – nicht nur solchen mit geistiger Beeinträchtigung – gefördert werden, sagt Elisabeth Hildebrand, die seit letztem Herbst lnklusionskoordinatorin der Stadt ist. Einen konkreten «Massnahmenkatalog» gebe es keinen,vielmehr würden «Mut und Selbst-vertrauen» in verschiedenen Projekten und auch in Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen gefördert.Hildebrand betont, dass das Thema der politischen Rechte für umfassend bebeistandete Menschen nicht kommunal geregelt werde. Trotzdem sagt sie:«Ich bin der Meinung, dass wir mehr Demokratie wagen können.»Es gehe nicht nur um das Recht,wählen und abstimmen zu dürfen,sondern auch gewählt zu werden.«Vielfalt soll sich auch bei den gewählten Vertreterinnen und Ver-tretern abbilden.» (lac)