«Niemand will IV-Rentner einstellen»

(Freiburger Nachrichten)

Früher war er ein begehrter IT-Spezialist. Doch seit er IV-Rente bezieht, findet er keine Stelle mehr. Nur dank der Unterstützung einer Stiftung hat eine Firma ihm ein 30-Prozent-Pensum gewährt.


Francesco Rullo hat jahrelang um eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt gekämpft.
Bild Aldo Ellena

 

Nicole Jegerlehner

COURGEVAUX «Meine Geschichte ist lang, kompliziertund traurig», sagt der 42-jährige Francesco Rullo. «Schon, dass ich die Geburt überlebte,war ein Wunder.» Seine in Deutschland lebenden Eltern waren im April 1979 in Italien in den Ferien, in ihrer Heimat, als die schwangere Mutter bei einem Unfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitt. Die Ärzte holten Francesco mit einem Kaiserschnitt auf die Welt – gut zwei Monate vor dem eigentlichen Geburtstermin. «Meine Überlebenschancen waren sehr gering. Aber ich schaffte es.»

Auch seine Mutter erholtesich. «Bis ich 14 Jahre alt war, hatte ich ein sehr lebenswertes Leben.» Er lebte mit seinen drei Geschwistern und seiner unterdessen geschiedenen Mutter in Deutschland. In der Schule wurde er gefördert, war in einem Programm für Hochbegabte. «Dann zerfiel mein Leben von einem Tag auf den anderen.» Seine Mutter kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die Tante in Turin nahmdie vier Kinder auf. «Statt Geborgenheit und Liebe erhieltich von ihr jedoch nur böse Worte: Sie konnte nicht damit umgehen, dass ich homosexuell bin.»

Innert kürzester Zeit begingder Teenager zwei Suizidversuche. Die Behörden schrittenein, platzierten Francesco Rullo in einem Heim. Als er mit 16 eine Hotelfachschule begann,nahm er sich eine Wohnung.Parallel dazu besuchte er Inforniatikkurse. Als er in einer riesigen Spielhalle bei einem Systemabsturz ohne Vorkenntnisse rettend eingriff, erhielt er seinen ersten Arbeitsvertrag als Informatiker.

Eine Hirnblutung als Glücksfall

Beruflich ging es aufwärts. Doch über Monate hinweg hatte er Kopfweh. Und eines Morgens war er während einigenlangen Sekunden komplett blind. Er zögerte, ins Spital zu gehen. «Sonst ging es mir jagut.» Er blieb ein halbes Jahr lang im Spital: Eine Hirnblutung hatte die Blindheit ausgelöst. Und vor allem fanden die Ärzte einen Hirntumor.

Der Tumor war gutartig.Meist wird so ein Tumor sehr spät entdeckt, wenn er bereits so gross ist, dass er kaum noch operiert werden kann. Bei Francesco Rullo wurde er dank der Hirnblutung früh entdeckt. Doch auch so hinterliess dieüber zwölfstündige Operation Spuren: Als er erwachte, war der damals 19-Jährige auf der linken Seite teilweise gelähmt.

Vor allem das linke Bein war betroffen. «Ich war jung undsportlich. Mit Krücken und mit einer Beinschiene konnte ich gehen.»

Nach einem Jahr suchte der junge Mann wieder eine Arbeit. Trotz der Schmerzen, die ihnseit der Operation begleiteten. Er fand eine Stelle bei einem internationalen IT-Unternehmen, dann warb ihn ein ande-res ab. Er war ein Talent, arbeitete in Nizza, hatte viel Geld,Freunde und Spass. «Ich hatte ein sehr schönes Leben.»

Doch dann machte sich derBeginn eines Magen-Speiseröhren-Krebses bemerkbar. Francesco Rullo wurde zweiMal operiert. Kurz darauf folgte eine Operation wegen einer Hernie am Hoden.

Trotz meiner Freunde fühlte ich mich in Nizza sehr alleine.». Wegen seines Magens musste er achtgeben, was erass. Und ass irgendwann fastnichts mehr. Der 177 Zentimeter grosse Mann wog noch 48 Kilogramm, als sein Bruder,der unterdessen in der Schweiz lebte, ihn im Jahr 2004 zu sich holte.

Von Firmen umschwärmt

Bei seinem Bruder erholte er sich wieder. Francesco Rullofand eine Stelle beim damaligen Mobilfunkanbieter Orange, machte rasch Karriere, verdiente gut, wurde von mehreren Unternehmen umschwärmt und abgeworben. Doch mit den Jahren akzentuierte sich die Lähmung. Francesco Rullo hatte neue Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt, das Pankreas machteihm zu schaffen. Erneut waren Operationen nötig. «Es gingmir sehr schlecht.»

Mit 30 Jahren wurde er zu100 Prozent zum IV-Rentner.Als es ihm wieder etwas besser ging, suchte er eine Teilzeit-stelle. «Aber niemand wollteeinen IV-Rentner einstellen.»Er konnte im zweiten Arbeits- markt Fuss fassen. «Mein Leben stabilisierte sich.» Trotzständigen Schmerzen.

Francesco Rullo trainierte und trainierte. Bis er 2015 ohne Schiene gehen konnte. Dochlange dauerte dies nicht an:Bald musste er wieder die Schiene tragen. Und im Oktober 2015 prallte er auf einer Velotour in einen Baum. Ein Splitter schwächte die Wirbelsäule noch mehr. Södass die Lähmungserscheinungen sich verstärkten und plötzlich auch der
gesunde Fuss einfach so wegknickte.

Der Operationstermin warbereits festgelegt, als der 36-Jährige fiel und mit demRücken auf einer Betonkanteaufschlug. Die Ambulanz brachte ihn ins Spital, aus dergeplanten einstündigen Operation wurden viereinhalb Stunden. Doch die Nerven am Rü-cken waren irreparabel geschädigt. «Seither bin ich quer-schnittgelähmt.» Dazu kommen Schluckbeschwerden, die Arme sind schwächer geworden, er kann kaum mehr das Gleichgewicht halten – es handelt sich um eine höhere Lähmung. «Entweder beim Sturz oder bei der Operation hat sich die Hirnläsion um neun Millimeter vergrössert.»

Zwei Jahre nach Eintretender Querschnittlähmung machte sich Francesco Rullo wieder auf die Suche nach einer Arbeitsstelle. Er war bereit, einige Monate gratis zu arbeiten,um zu zeigen, was er kann.Doch er fand nichts. «Ich wurde vom begehrten IT-Talentzum IV-Rentner, den niemand einstellen will.»

Für Francesco Rullo ist das sehr bedrückend und unverständlich. «Als Behinderter wird man in eine Ecke gestellt.» Er plädiert dafür, dass derBund Anreize dafür schafft,dass Unternehmen IV-Rentner einstellen. «Das wäre doch ein Gewinn für alle.»

«Arbeit tut der Seele gut»,sagt Francesco Rullo. «Arbeit ist eine Anerkennung, eine Wertschätzung.»

Auch wenn er mit sehr wenig Geld auskommen müsse, gehe es ihm bei der Arbeit nicht um den Lohn. «Sondern darum,dass ich mich nützlich fühlen kann.»

Mit der Hilfe von Pro Infirmis fand er vor einem Jahreine 30-ProzentStelle bei der Swisscom. «Sie gaben mir eine Chance, wenn ich sechs Monate gratis arbeite und von der Stiftung Profil begleitet werde.» Das Geld fürs Benzin für den Arbeitsweg erhielt er von der Schweizer Paraplegiker-Stiftung und von Pro Infirmis.

Wieder ein Rückschlag

Doch einmal mehr währte das Glück nicht lange. Die Gesundheit machte Fradcesco Rullo erneut zu schaffen, neue Beschwerden tauchten auf. «Ich schaffe es nicht mehr,nebst allen Therapien arbeiten zu gehen.» Umso mehr, als er am Nachmittag, wenn er seinestarken Medikamente eingenommen hat, schlafen muss.«Es schmerzt sehr, dass ich meine Arbeit wieder aufgeben muss.»

Energie tanken kann Francesco Rullo in der nächsten Umgebung seiner Wohnung am Dorfrand von Courgevaux: in der Natur, bei den Pferden in der Nachbarschaft, mit seiner zwölfeinhalbjährigen Hündin Luna. «Dank der Hilfe meiner Nachbarn und meiner Assistenzperson lebe ich hier in meinem Paradies.»


Pro Infirmis
Hilfe für Menschen mit voller IV-Rente

Pro Infirmis Freiburg feiert das ganze Jahr übersein 75-Jahr-Jubiläum. So auch am Donnerstagabend im Gutenbergmuseum in der StadtFreiburg mit einem rundenTisch zur Frage der Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt.

Mit Insert H begleitet Pro Infirmis Freiburg Personen miteiner vollen IV-Rente auf derSuche nach einem geeigneten Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft. Seit diesem Jahr ist Insert H auch für deutschsprachige Freiburgerinnen und Frei-burger da; zuvor wurden diese von der Stiftung Profil betreut.

Adriano Previtali, Präsident Pro Infirmis Schweiz und Professor am Lehrstuhl für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht der Universität Freiburg, zeigte auf, dass die Schweizer Gesetze den Unternehmen keine Auflagen machen, um Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, sondern auf deren soziale Verantwortung abstellt. esnach dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente» im IV-Gesetz. Er habe sich lange für eine Quotenregelung ausgesprochen, sagte Previtali. «Aber ich bin dabei, meine Meinung zu ändern.» Denn er sehe, dass immer mehr Unternehmen ihre Verantwortung übernehmen und Arbeitsplätze für Behinderte anbieten. Diese Arbeitsplätze seien ansprechende, interessante Stellen,«im Gegensatz zu Ländern mit Quoten, in denen es doch viele Alibi-Arbeitsplätze gibt».

Wichtig sei aber auch, dass die Arbeit richtig bezahlt werde, sagte Adriano Previtali. Oft werde nur ein kleiner Lohn ausbezahlt mit der Begründung, dass sonst die IV-Rente sinke. «Ich bin sicher, dass die Kantone zusammen mit der IV eine Lösung finden könnten.»

Am runden Tisch sagte Chantal Robin, Direktorin der Freibuiger Wirtschafts- und Handelskammer: «Wir sollten viel offener sein.» Sie habe schon oft beobachtet, dass Firmen sich für Mit arbeitende, die nach einem Unfall nicht mehr ihre alte Funktion ausfüllen konnten, einsetzten und nach Lösungen suchten. «Viel schivieriger ist es aber, eine Stelle für Aussenstehende mit einer Beeinträchtigung zu finden.»

Jean-Daniel Wicht, Direktor des Freiburgischen Baumeisterverbands und FDP-Grossrat, sagte am runden Tisch zu, dass er sich bei den Mitgliedern des Baumeisterverbands dafür einsetzen werde, dass sie vermehrt Stellen für IV-Rentnerinnen und IV-Rentner schafften.

Der IV-Rentner Stephane Marty arbeitet seit drei Jahrenbeim Freiburger Kantonsarchiv. Nach rund zehn Jahren in einer geschützten Werkstätte hatte er Lust auf etwas anderes – und fand dank Insert H die Stelle beim Kanton. «Es tut gut, wenn man zur Arbeit gehen kann», sagte er. njb