Ohne Vorschuss keine IV-Beschwerden

(Basler Zeitung)

Wer sich gerichtlich gegen einen Entscheid der Invalidenversicherung wehrt, kann seit kurzem im Kanton Zürich zu einem Kostenvorschuss verpflichtet werden. Basel-Stadt und Bern sind noch strenger


Für die Gerichte hat die Kostenpflicht für IV-Beschwerden zu einem teils erheblichen Mehraufwand geführt.Foto: Keystone

 

Andrea Fischer

Das Verfahren vor dem kantonalen Sozialversicherungsgericht ist laut Gesetz kostenlos. Gemeint ist, dass Versicherte keine Gerichtsgebühren zahlen, wenn sie sich gegen einen negativen Entscheid einer Sozialversicherung wie etwa AHV, Arbeitslosen- oder Krankenversicherungvor dem kantonalen Gericht wehren. Es gibt allerdings eine gewichtige Ausnahme: Verfahren gegen die Invalidenversicherung (IV) sind seit 2006 kostenpflichtig. Damit hoffte man, dasses weniger Beschwerden gegen IV-Entscheide geben würde-deren Zahl war damals stark angestiegen.

Da die IV-Verfahren den weitaus grössten Anteil im Sozialversicherungsbereich ausmachen,ist trotz des anderslautenden gesetzlichen Grundsatzes ein beträchtlicher Teil der Verfahren längst nicht mehr unentgeltlich.Die Versicherten müssen mit Gebühren von bis zu 1000 Franken für den Gang ans kantonale Gericht rechnen. Hinzu kommen allfällige Kosten für eine Anwältin oder einen Anwalt, die ein Vielfaches ausmachen.

Neu hat nun das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich per 1. Juni auch einen Kostenvorschuss für IV-Fälle eingeführt. Dieser ist vor Beginn des Verfahrens zu leisten. Die entsprechende Gesetzesänderung hatte das Kantonsparlament letzten Herbst mit grossem Mehr unterstützt.

Alles halb so wild?

Trotzdem wird sich für alle jene,die in Zürich gegen einen Entscheid der IV klagen, nicht viel ändern.Das Sozialversicherungsgericht will die neue Möglichkeit, einen Vorschuss zu verlangen, nur zurückhaltend nutzen. Gedacht sei er namentlich für jene Fälle, in denen eine Beschwerde schon von vornherein als aussichtslos erscheint, teilt das Gericht mit. Somit werden die meisten beschwerdewilligen Zürcher auch künftig erst am Ende des Verfahrens zahlen müssen, falls sie verlieren. Damit ist Zürich vergleichsweise grosszügig.

Wie machen es die anderen Kantone?

Andernorts ist der Kostenvorschuss die Regel. Das zeigt eine Stichprobe in Basel-Stadt, Bern und vier weiteren Kantonen ( AG,ZG, LU, SG). Sie alle geben an,dass sie für Beschwerden gegen IV-Entscheide generell einen Vorschuss erheben. Bei einzelnen Kantonen ist es ein fixer Betrag, bei den andern entsprichtder Vorschuss den voraussichtlichen Verfahrenskosten. Werde der Vorschuss nicht fristgerecht bezahlt, trete das Gericht auf die Beschwerde gar nicht erst ein,sagt Gerichtsschreiber Daniel Imhasly vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Gewinnt die Beschwerde führende Person das Verfahren, erhält sie den Vorschuss wieder zurück.

Was wird mit dem Vorschussbezweckt?

In erster Linie sichern sich die Gerichte damit ab. Der Vorschussstelle sicher, dass die Gerichtskosten bezahlt seien, sagt Aldo Elsener, Präsident des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug.Zudem würden es sich Recht suchende Personen erst recht überlegen, ob sich der Gang ans Gericht lohnt, so die Hoffnung.Denn Vorschüsse wirkten zusätzlich abschreckend, da sie innert einer beschränkten Frist zu leisten seien, sagt Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht an der UniversitätSt. Gallen.

Was ist, wenn sich jemand die Kosten nicht leisten kann?

Wer nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, kann unentgeltliche Prozessführung beantragen. Die Bedingungen dafür sind allerdings streng, man muss praktisch auf dem Existenzminimum leben. Trotzdem erfüllt ein Viertel bis ein Drittel der Beschwerdeführer die strengen Voraussetzungen und kann kostenlos prozessieren; das zeigt die Umfrage unter den Kantonen.Dieser Anteil sei sehr hoch, aber nicht erstaunlich, sagt Rechtsprofessor Kieser. Denn bei den IV-Verfahren gehe es um existenzielle Leistungen und meistens um Personen, die finanziell nicht gut dastünden.

Hat die Kostenpflicht,wie erhofft, zu weniger IV-Beschwerden geführt?

Nein. Ein spürbarer Rückgang bei den IV-Beschwerden sei nicht eingetreten, sagt Ueli Kieser. Umfragen unter den Gerichten bestätigen dies. Die Kosten- und Vorschusspflicht hat im Gegenteil für die Gerichte zu einem teils erheblichen Mehraufwand geführt. Grund sind die zahlreichen Gesuche um unentgeltliche Prozessführung, die alle einzeln geprüft werden müssen. Die frühere Aargauer SP-Ständerätin Pascale Bruderer plädierte denn auch in einer Parlamentsdebatte 2018 dafür, die Kostenpflicht für IV-Gerichtsverfahren aufzuheben. Doch das Gegenteil ist nun der Fall.

Die Kostenpflicht wird ausgeweitet: Warum?

Künftig sollen nicht nur IV-Verfahren, sondern auch andere Verfahren im Sozialversicherungsbereich kostenpflichtig sein. Die entsprechende Gesetzesänderung tritt auf Anfang nächsten Jahres in Kraft. Konkret können die Kantone auch für Streitigkeiten über die AHV, die Kranken- oder Unfallversicherung Kosten erheben- allerdings nur, wenn es um Beiträge beziehungsweise um Prämien geht. Erneut hofft man,damit Bürgerinnen und Bürger davon abzuhalten, unnötige Gerichtsverfahren zu führen.

Wichtig anzumerken: Streitigkeiten um Leistungen von Sozialversicherungen – wie etwa Renten – bleiben mit Ausnahme der IV zumindest vorläufig unentgeltlich. Dafür brauchte es zusätzliche Gesetzesänderungen.

Im Zivilprozess sollen die Kostenvorschüsse sinken

Weit umstrittener als im Sozialversicherungsverfahren ist der Kostenvorschuss in Zivilprozessen, wie zum Beispiel bei Scheidungsverfahren.

Seit der Einführung der einheitlichen Zivilprozessordnung 2011 können die Gerichte von der klagenden Partei die vollen Prozesskosten als Vorschuss verlangen. Und da die Prozesskosten umso höher sind, je höher der Streitwert ist, können auch die Vorschüsse exorbitant sein. Kommt hinzu, dass die klagende Partei auch das Inkassorisiko trägt, wenn sie obsiegt. Das heisst, sie muss selbst das Geld von der Gegenpartei eintreiben. Diese Regeln stiessen bei Fachleuten auf teils heftige Kritik. Dem Mittelstand werde dadurch der Gang ans Gericht sehr stark erschwert,so der Tenor.

Nun sollen die Hürden gesenkt werden. In seiner im Februar veröffentlichten Botschaft schlägt der Bundesrat vor, die Vorschüsse auf die Hälfte der Prozesskosten zu begrenzen.Ausserdem soll der Staat das Inkassorisiko übernehmen,wie das früher vielerorts der Fall war. Es soll allerdings Ausnahmen geben. Demnach können die Kantone für das zweitinstanzliche Verfahren vor einem Kantonsgericht auch weiterhin einen vollen Kostenvorschuss verlangen, wenn dies sachlich gerechtfertigt sei.Das Inkassorisiko dürften sie in Ausnahmefällen ebenfallsden Parteien überlassen. So bestehe die Gefahr, dass die heutige unbefriedigende Situation in vielen Fällen bestehen bleibe, kritisierte der frühere Schaffhauser Oberrichter Arnold Marti unlängst in einem Fachartikel. Es sei daher zu hoffen, dass das Parlament dies korrigiere. (afi)