Pflegende Angehörige – anerkennen und entlasten

(Physioactive.ch/de)

RICHARD ZÜSLI

Ungefähr 600 000 Personen in der Schweiz betreuenund/oder pflegen Angehörige. Wie Angehörige unterstützt und entlastet werden können, dazu gibt es verschiedene Initiativen. Was bis anhin jedoch fehlt, ist eine nationale Strategie

Betreuung geschieht oft im Stillen und Verborgenen. Doch es sind sehr viele Personen, die in irgendeiner Form für ihre Angehörigen sorgen: Gemäss einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit von 2019 befindet sich in der Schweiz jede 13. Person in dieser Rolle, also nahezu 600 000 Personen . Sogar eine beträchtliche Anzahl Kinder und Jugendliche kümmert sich bereits um ihre Eltern, Grosseltern oder eine andere Person. Am meisten involviert sind Angehörige zwischen 50 und 60 Jahren. Über alle Altersklassen hinweg entfallen am meisten Betreuungsleistungen auf die eigene Mutter und den eigenen Vater, während die über 80-Jährigen am häufigsten für den Partner oder die Partnerin sorgen.

Hilfe im Alltag, Administration, Körperpflege…

Die Betreuenden sind für ihre Angehörigen da, beobachten ihr Wohlergehen, übernehmen finanzielle und administrative Aufgaben oder andere Hilfestellungen im Alltag. Ein grosser Teil von ihnen unterstützt die Angehörigen auch bei der Behandlung oder übernimmt Aufgaben bei der Körperpflege (Definitionen zu pflegenden Angehörigen siehe Kasten). Wie die Umfrage weiter zeigen konnte, setzen betreuende Angehörige viel Zeit für diese Aufgaben ein. Die Mehrheit – zwei Drittel von ihnen – leistet bis zu 10 Stunden pro Woche. Mehr als 20 Stunden oder gar rund um die Uhr pflegt und betreut jede und jeder Zehnte.

Aktionsplan und Förderprogramm des Bundes

Um gezielt Lücken im Bereich pflegende und betreuende An-gehörige zu schliessen, verabschiedete der Bundesrat 2014 einen Aktionsplan. Das Ziel war es, die Bedingungen für betreuende Angehörige zu verbessern.


Die meisten Betreuungsleistungen entfallen auf die eigene Mutter oder den eigenen Vater.

 


Definition Betreuende Angehörig
Wer ist eigentlich ein/e betreuende/r Angehörige/r? Es gibt ver-schiedenen Definitionen. In einigen Ländern ist auch von Carer oder Caregiver die Rede.«Betreuende und pflegende Angehörige sind Personen aller Al-tersgruppen, die einen Menschen, dem sie sich verbunden füh-len und/oder verpflichtet fühlen, über längere Zeit und in we-sentlichem Ausmass in der Bewältigung und/oder Gestaltung des Alltags unterstützen, sofern er dies aus gesundheitlichen Gründen nicht alleine kann.»Hannah Wepf, Heidi Kaspar, Ulrich Otto, Iren Bischofberger, Agnes Leu: Pflegerecht, Ausgabe 3/17 [2]«Ein betreuender Angehöriger oder eine betreuende Angehörige ist eine Person, die ihre persönliche Zeit regelmässig einsetzt zur Unterstützung einer ihr nahestehenden Person jeden Alters, die in ihrer Gesundheit und/oder Autonomie eingeschränkt ist. Damit leistet der/die betreuende Angehörige sogenannte Care-Arbeit.»Andreas Bircher, Schweizerisches Rotes Kreuz «Betreuung ist eine Unterstützungsform. Sie unterstützt Men-schen dabei, trotz Einschränkungen den Alltag selbstständig zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.»In Anlehnung an «Wegweiser für gute Betreuung im Alter», Paul Schiller-Stiftung 2020


Als grössten Mangel konnte das Fehlen von aktuellen Daten identifiziert werden. Eine Fülle an fundierten neuen Erkenntnissen erbrachte das vierjährige Förderprogramm «Entlastungsangebote für be-treuende Angehörige 2017–2020» des Bundesamts für Ge-sundheit BAG. Es konnte im Herbst 2020 erfolgreich abge-schlossen werden.

Die Eltern kranker Kinder – zehn Prozent aller betreuenden Angehörigen – können aufatmen. Für sie gibt es bald eine handfeste Massnahme: den ab Juli 2021 geltenden bezahlten Betreuungsurlaub von 14 Wochen. Schon ab Januar 2021 ist die kurzzeitige Arbeitsabwesenheit für Familienmitglieder geregelt. Seit Längerem können Menschen mit einer Behinderung bei der Invalidenversicherung Assistenzentschädigungen beantragen und so betreuende Personen entlöhnen. Und in gewissen Fällen erhalten Angehörige eine Betreuungsgutschrift von der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Diese Anspruchsberechtigung soll ausgeweitet werden.

Strategie für betreuende Angehörige gefordert

Was im Bereich Demenz und Palliative Care selbstverständlich ist – eine nationale Strategie – fehlt für betreuende Angehörige vollständig. Vor allem in der deutschsprachigen Schweiz gibt es keinen systematischen gemeinsamen Bezug der Akteure. Keine explizite Strategie, aber bemerkenswerte gemeinsame Aktionen und Kooperationen existieren seit einigen Jahren in der Westschweiz und im Tessin.


Rund die Hälfte der betreuenden Angehörigen findet kein passendes Entlastungsangebot.

 

An der letztjährigen «Swiss Public Health Conference» schlug Patrick Hofer, Vorstandsmitglied von «Pro Aidants», in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit und Gesundheitsförderung Schweiz deshalb vor, sich schweizweit gemeinsam auf eine «Strategie zur Unterstützung und Förderung betreuender Angehöriger» zu einigen. Das Rad braucht hierzu nicht neu erfunden zu werden. «Eurocarers», die Dachorganisation der europäischen Betreuenden-Organisationen, hat schon viel und gute Vorarbeit geleistet .

Ins gleiche Horn stiess am Abschlussanlass des oben erwähnten BAG-Förderprogramms Adrian Wüthrich, alt Nationalrat, Präsident und Geschäftsführer von «Travail.Suisse» und ehemaliger Präsident der IGAB, der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung. Er forderte ebenfalls eine nationale Strategie für betreuende Angehörige.

Einen konkreten Vorschlag für eine mögliche Carer-Strate-gie für die Schweiz brachte der Verein «Pro Aidants» 2020 auf seiner Homepage und im Jahresbericht ins Spiel.

10 Schritte für eine carer-freundliche Schweiz

Der Vorschlag von «Pro Aidants» für eine Schweizer Strategie für pflegende Angehörige, in

Anlehnung an Eurocarers, im Wortlaut:

  • Carer definieren und wertschätzen. Warum? Weil am Anfang von Entscheidungen zuungunsten von Carern oft ein fehlendes Verständnis steht, was Carer überhaupt tun.
  • Carer identifizieren. Warum? Weil Carer ihre Arbeit im Stillen leisten und man sie zuerst kennen muss, bevor man sie gezielt ansprechen kann.

Angehörige wünschen sich von den Fachpersonen, dass sie in ihrer Rolle unterstützt und als kompetente Partner wahrgenommen werden

 

  • Den Bedarf und die Bedürfnisse von Carern erheben.Warum? Was Carer brauchen, ist sehr individuell. Nur wenn zusammen mit Carern ermittelt wird, was sie genau benötigen, können sie wirksam unterstützt werden.
  • Unterstützung eines partnerschaftlichen Miteinanders bei der integrierten und gemeindenahen Pflege und Betreuung. Warum? Die Integration der unterschiedlichsten professionellen und informellen Akteure ist eine Voraussetzung für eine angemessene Pflege und Betreuung. Carer spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
  • Erleichtern des Zugangs zu Informationen über An-gehörigenbetreuung und Care-Life-Balance. Warum? Carer wird man in der Regel schleichend oder ohne lange Planung von einem Tag auf den anderen. In beiden Fällen werden grundlegende Informationen benötigt, die fundiert und leicht verfügbar sind.
  • Auf die Gesundheit der Carer achten und negative gesundheitliche Folgen verhindern. Warum? Als Resultat des Einsatzes für andere überlastet sich ein Teil der Carer und wird selber pflegebedürftig.
  • Carern eine Pause gönnen. Warum? Dass vorübergehend jemand anders die Pflege- und Betreuungsaufgaben übernimmt (Entlastungspflege), wird von Carern oft als die wichtigste Form der Unterstützung zur Linderung von Pflegebelastung und Stress wahrgenommen.
  • Carern den Zugang zu Schulungen ermöglichen und Anerkennung ihrer Fähigkeiten. Warum? Gut informierte und gut unterstützte Carer handeln vorbeugend und sind in der Lage, länger und unter besseren Bedingungen zu sich selbst zu schauen und für die von ihnen betreute Person eine qualitativ bessere Pflege zu leisten.
  • Armut der Carer verhindern und ihnen ein aktives Berufsleben/Bildung ermöglichen. Warum? Pflegende, die studieren oder arbeiten wollen und können, sollten dazu befähigt und nicht diskriminiert werden. Sie sollten in der Schule/an der Universität und am Arbeitsplatz unter-stützt werden, um ihren Beschäftigungsstatus zu erhalten
  • Die Perspektive der Carer in alle relevanten Politikbereiche einbeziehen. Warum? Initiativen zugunsten pflegender und betreuender Angehöriger sind verknüpft mit einem breiten Spektrum von gesundheits- und sozialpolitischen Massnahmen.

  • Neue Anlaufstelle für Angehörige und App
    Betreuende Angehörige finden auf der Internet-Plattform wis-sen.weplus.care/de Wissensartikel mit ersten Antworten auf Fragen zur Angehörigenbetreuung. Das Angebot wird sukzessi-ve weiterentwickelt anhand der Fragen, die dem Team über die Anlaufstelle proaidants.ch/de-ch/anlaufstelle zugespielt werden.Mit der «We+Care App» wird die Koordination der Betreuung und Pflege im engen Umfeld erleichtert, das heisst: Ein tragfähi-ges Auffangnetz einrichten, Tagespläne organisieren, Anfragen an die Gruppe schicken oder die Übergabe zwischen verschiede-nen Betreuerinnen und Fachpersonen zu koordinieren. All das kann einfach über die App organisiert werden. Die App ist für Familien kostenlos. Die Betaversion ist erhältlich unter: www.weplus.care/test


    Was sich Angehörige von Fachpersonen wünschen

    Das erwähnte Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» des BAG hält den Organisationen den Spiegel vor und zeigt auch, was betreuende Angehörige wirklich benötigen. Die Studien zeigen, dass rund die Hälfte der betreuenden Angehörigen kein passendes Entlastungs- oder Unterstützungsangebot findet. Das Ergebnis erstaunt angesichts der Angebotsfülle und muss vertieft analysiert werden.

    Betreuende Angehörige wünschen sich von Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, dass sie, sie in ihrer Rolle unterstützen und als kompetente Partner wahrnehmen: Die Expertise der Angehörigen ist eine zu wenig genutzte Ressource. Das widerspiegelt sich auch in den zu wenig partnerschaftlichen Formen der Zusammenarbeit zwischen betreuenden Angehörigen und Fachpersonen. Am häufigsten übernehmen Angehörige die Koordination und den Informationsaustausch zwischen Hausarztmedizin oder Pflege und Expertinnen und Experten wie etwa aus der Physiotherapie. Diese Aufgabe ist wertvoll, weil eine gute Koordination über das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten im Alltag entscheidet. Sie ist aber auch zeitintensiv und betreuende Angehörige müssen dafür oft viel Energie aufwenden. Dies kann als Belastung empfunden werden – insbesondere, wenn das Zeitbudget knapp ist oder Angehö-rige sich von Fachpersonen nicht anerkannt fühlen.