Plattform: Google ist auch blind

(Tactuel)

Der barrierefreie Zugang zu Websites ist essentiell, damit sich Menschen mit visuellen und anderen Formen von Behinderungen informieren können. Aber auch Sehende profitieren von einer barrierefreien Programmierung. Für eine bessere digitale Welt soll der Accessibility Developer Guide der Stiftung «Zugang für alle» sorgen.
Von Andrea Eschbach

In rasantem Sprechtempo liest ihm der Computer vor, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Gerd Bingemann nutzt die Screenreader-Software JAWS. Der Ungeübte versteht nur Bahnhof. „Wenn eine Website Grafiken, Tabellen oder Bilder ohne hinterlegten Text hat, ist sie für mich nicht lesbar“, erklärt der hörsehbehinderte Interessenvertreter beim Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND. „Viele Webseiten sind nicht zugänglich für mich“.


Gerd Bingemann nutzt die Screenreader-Software JAWS

 

Die von der Stiftung «Zugang für alle» bereits zum vierten Mal durchgeführte Accessibility-Studie 2016 zeigt, dass nach wie vor zahlreiche Websites und Mobile Apps nicht für alle Menschen zugänglich sind. Für 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist die Nutzung des Internets eingeschränkt und damit die Teilnahme an vielen gesellschaftlichen Bereichen nicht möglich. Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Ein Design für alle

Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung «Zugang für alle» hat es sich zum Ziel gesetzt, diese Barrieren zu überwinden. Seit bald zwanzig Jahren setzt sich die Organisation für eine behindertengerechte Technologienutzung ein. Mit dem „Accessibility Developer Guide“ (ADG) ist die Stiftung nun einen grossen Schritt weiter auf diesem Weg gekommen. Dahinter steht die Idee des „Design for all“, das den User in den Mittelpunkt stellt. Unabhängig von Einschränkungen soll eine Website entwickelt werden, welche von der grösstmöglichen Anzahl Benutzer sinnvoll gebraucht werden kann.

Doch das Wissen um barrierefreie Websites, so Andreas Uebelbacher, Leiter des Bereichs Dienstleistungen bei «Zugang für alle», stecke noch in den Kinderschuhen.

Damit die individuelle Anpassbarkeit funktioniert, sind beim Design und der Programmierung von Internetangeboten einige Regeln zu beachten und Vorkehrungen zu treffen. So fasst der sehbehinderte Auszubildende Reto Inniger Zusammen: „Damit eine Website für alle zugänglich ist, müssen Seiten und Dokumente beispielsweise korrekt strukturiert gestaltet sein, grafische Informationen weisen Textalternativen auf, und Farbkontraste müssen ausreichend sein für gute Wahrnehmbarkeit der Inhalte. Darüber hinaus muss eine Website nur mit der Tastatur bedienbar sein und alle dynamischen Elemente wie Akkordeons, Tabs, etc. müssen auch mittels Screenreader verständlich werden“.

Lange galten barrierefreie Websites als hässlich und prüde. Doch dieses Vorurteil ist Schnee von gestern. „Für einen barrierefreien Zugang muss man heute keine Einbussen im Design mehr hinnehmen“, erklärt Andreas Uebelbacher. Zu den Vorteilen barrierefreier Websites zählen die Qualität in der Bedienbarkeit, die Usability, oder auch die Qualität im Design: „Das Layout muss übersichtlich ordnen, Farbkontraste müssen im Test ausreichen, die Schrift lesbar und vergrösserbar sein. Das Ganze ergibt auch Vorteile im Unterhalt: „Weil Darstellung und Inhalt konsequent getrennt werden müssen, ist eine barrierefreie Website einfacher zu warten und zu erweitern, ein Redesign wird kostengünstiger“. Barrierefreie Webseiten werden zudem nicht nur schneller und sauberer dargestellt, sie werden besser indexiert und sind die beste Voraussetzung in Suchmaschinen wie Google früh zu erscheinen. Accessibility und Suchmaschinen-Optimierung gehen hier Hand in Hand: „Google ist auch blind“, erklärt Uebelbacher.

Stets aktuell dank Open Source

Der im Juni lancierte ADG wurde von «Zugang für alle» in Zusammenarbeit mit führenden Web-Agenturen der Schweiz entwickelt. Der Guide enthält zahlreiche im Browser live ausführ- und manipulierbare Code-Beispiele. Besonders hilfreich: Der Programmierer kann sich gute und schlechte Beispiele demonstrieren lassen. Und da der ADG auf Open Source beruht, soll er künftig auch wachsen – grundsätzlich kann jeder Beispiele beisteuern, und aufgenommen werden sie, wenn sie einer Prüfung auf Barrierefreiheit standhalten. Der ADG verwendet dafür die in der Entwicklergemeinde weit verbreiteten Tools wie GitHub, Node.js oder Markdown.

Jedes Unternehmen kann seine Firmen-Website mit Experten der Stiftung massgeblich verbessern und am Ende auch zertifizieren lassen. Doch nur wenige Unternehmen nutzen bislang diese Möglichkeit. Roland Schlüchter, Inhaber der Internet-Agentur Ping in St. Gallen erklärt: „Verpflichtet zu barrierefreien Websites ist bislang nur der Staat. Wir haben bislang nur wenig Anfragen, barrierefreie Websites zu gestalten. Dabei wären die Kosten gleich hoch wie bei der Gestaltung einer nicht-barrierefreien Website.“ So weist Roland Schlüchter seine Kunden zwar immer wieder auf die Thematik des Zugangs für alle hin, jedoch zieht das Argument Suchmaschinen-Optimierung noch deutlich mehr als die Zugänglichkeit. „Das Bewusstsein auf der Kundenseite muss sich erst bilden, vor allem bei kleineren Unternehmen“. Aber Roland Schlüchter ist sich sicher, das Thema wird zunehmend wichtiger. Der ADG wird hier eine grosse Rolle spielen: „Wir analysieren ihn derzeit und schauen, was wir in unsere Projekte, unseren Werkkasten übernehmen können“. Gerade hat die Agentur eine barrierefreie Website für Pro Infirmis erstellt: „Für Pro Infirmis war das natürlich ein Muss“, sagt Roland Schlüchter.

„In der besten aller Welten müsste man sich keine Gedanken mehr um barrierefreie Websites machen“, gibt Andreas Uebelbacher einen Ausblick. Und der ADG ist ein Mosaikstein, das zu erreichen.