«Plötzlich lag ich auf dem Rücken»

(Gesundheitstipp)

Bahnreisen sind für Rollstuhlfahrerin Anita Wymann oft ein Stress – denn die SBB-Umsreige hilfe lässt zu wünschen übrig

Ungenügende Organisation, zu wenig kompetentes Personal: Bei der Umsteigehilfe der SBB funktioniert vieles nicht so, wie es sollte. Schlimm traf es die Multiple-Sklerose-Patientin Anita Wymann. Ihr Rollstuhl kippte auf der Hebebühne.

Tobias Frey

Es sollte ein friedlicher Ausflug werden – mit der Bahn von Bern nach Lenzburg AG. Die Reisegruppe, die sich im November letzten Jahres traf, bestand aus zehn Leuten, darunter waren drei Rollstuhlfahrer. Eine von ihnen: die Bernerin Anita Wymann. Die Gruppe hatte sich gut organisiert und bei den SBB eine Umsteigehilfe bestellt (siehe Kasten).Dabei kommen Umsteigeassistenten mit einer Hebebühne und hieven die Rollstühle vom Perron in den Wagen.

Eine einzige Hilfefür fünf Behinderte

Auf der Heimfahrt, beim Um-steigen im Bahnhof Aarau, geschah es: Der Rollstuhl von Anita Wymann kippte auf der Hebebühne nach hinten, sie schlug hartauf: «Plötzlich lag ich auf dem Rücken. Zum Glück dämpfte der Fuss eines Mitreisenden den Aufprall meines Kopfes etwas ab.» Sie vermutet, dass der Umsteigeassistent die Hebebühne falsch einstellte und sie mit dem Rollstuhlgegen eine Kante stiess:«Der Mann war vermutlich im Stress.»Kein Wunder: Er war alleine. Die SBB boten für drei Rollstühle und zwei Gehbehinderte nur gerade einen Assistenten auf.

Das war kein Einzelfall: Die Umsteigehilfe der SBB steht bei Behindertenorganisationen immer wieder in der Kritik. Silvia Raemy von Agile.ch,dem Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen, sagt:«Die Umsteigehilfe lässt zu wünschen übrig.»

Beim Ausflug ging noch weiteres schief: Auf der Hinreise platzierte die Umsteigehilfe die Gruppe im reservierten Wagen -doch der war gar nicht für Rollstühle geeignet. Die drei Rollstuhlfahrer mussten sich in einer Reihe im Gang aufstellen.

Herbert Bichsel ist der Gleichstellungsbeauftragte von Agile.ch.Er war auf der Reise dabei und berichtet:«DieKontrolleurin musste über die Sitze und über die Rollstühle klettern, um durch den Wagen zu kommen.» Eine für Rollstuhlfahrer befahrbare Toilette gab es im Wagen auch nicht. Und auf der Rückreise fand der Umsteigeassistent den für die Gruppe vorgesehenen Wagen nicht.

Oft hätten die Umsteigeassistenten auch «kein Fingerspitzengefühl», wie man mit Behinderungen umgeht, kritisiert Wymann.Ein Beispiel: Auf der erwähnten Reise versperrte die Hebebühne den weissen Streifen am Bahnsteig,an dem sich Blinde mit dem Stock orientieren können. Herbert Bichsel erzählt:«Als aus dem Wagen zufälligerweise eine blind Person ausstieg,drückte sie der Umsteigeassistent mit dem Rücken einfach weg.»

Bereits im Vorjahr hatte die Gruppe einen Ausflug unternommen. Die SBB wiesen ihr den ersten Wagen nach der Lok zu – in Wahrheit war es dann aber der hinterste. «Wir mussten so schnell wie möglich zum Ende des Zugs gelangen», erzählt Anita Wymann.


«Die Verkehrs-betriebe habenLeute mitBehinderungenlange nicht ernstgenommen»

Marc Moser, Behindertendachverband Inclusion Handicap“

  Marc Moser vom Behindertendachverband Inclusion Handicap sagt: «Solche Situationen sind für Leute mit Behinderungen nicht nur sehr unangenehm, sondern auch entwürdigend.» Sie stünden im permanenten Stress, ob sie ihr Reiseziel ohne Zwischenfall erreichen. Silvia Raemy von Agile.ch fordert: Die SBB müssten nicht nur die Organisation verbessern, sondern auch die Assistentenbesser schulen.

Autonomes Reisen ist noch in weiter Ferne

Die SBB bieten die Umsteigehilfe nicht freiwillig an. Im Jahr 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Die dazugehörige Verordnung schrcibt vor:Leute mit Behinderungen sollen autonom den öffentlichen Verkehr benützen können. Wo dies nicht der Fall ist, müssen die Verkehrsbetriebe Hilfe anbieten.

Doch für Rollstuhlfahrer ist das autonome Reisen noch inweiter Ferne. So gab der Gesetzgeber den Bahn- und Verkehrs-unternehmen eine Übergangsfristvon 20 Jahren – und selbst die halten die Betriebe nicht ein. Marc Moser von Inclusion Handicap:«Die Verkehrsbetriebe haben das lange Zeit nicht ernst genommen.»Heute sind gerade einmal rund 740 von 1800 Bahnhöfen so gestaltet, dass Rollstuhlfahrer jedes Gleis erreichen und selbständig in einen Bahnwagen können – selbst grosse Bahnhöfe wie in Bern gehören nicht dazu.

Ende letztes Jahr kündigten die SBB zwar an, bis zum Jahr 2023 weitere 580 Bahnhöfe zu sanieren.Damit verbleiben aber immer noch knapp 500, die für Rollstuhlfahrer vor allem eines darstellen:eine unüberwindliche Barriere.Die SBB wollten sich zurKritik nicht äussern.

Aufruf: Haben Sie Erfahrungmit der SBB-Umsteigehilfe?Schreiben Sie uns:Redaktion Gesundheitstipp,«Umsteigehilfe»,Postfach 277, 8024 Zürich,redaktion@gesundheitstipp.c


Das sollten Benutzer von Umsteigehilfen beachten

Die SBB-Umsteigehilfe istkostenlos. Melden Sie sichmindestens zwei Stundenim Voraus beim Call CenterHandicap: Tel. 0800 007 102(6 bis 22.30 Uhr).

Anspruch auf den Diensthaben Rollstuhlfahrer undGehbehinderte. Dazu zählen auch gebrechlicheSenioren.

Wichtig: Die Umsteigehilfeder SBB transportiert keinGepäck.

Grössere Bahnhöfe bietenzusätzlich kostenpflichtigeUmsteigehilfen an SOS Bahnhofhilfe Zürich,Tel. 044 211 92 77.SOS Bahnhofhilfe Bern,Tel. 079 606 49 69.SOS Bahnhofhilfe Basel,Tel. 061 271 37 23.Der Verein Compagnavermittelt kostenpflichtigeUmsteigehilfen und Beglei-tungen: Tel. 071 220 16 07.



Anita Wymann: Beim Umsteigen im Bahnhof Aarau stürzte sie mit ihrem Roll stuhl von der Hebebühne