Rechte im Spannungsfeld

(Walliser Bote)

Autonomie. Wie kann die Wahlmöglichkeit von Menschen mit Behinderung gewährleistet werden? SYMBOLBILD KEYSTONE

 

Menschen mit Behinderung, die tun und lassen können, was sie wollen: So könnte das Grundkonzept des 2013 eröffneten Pigna-Parks in Zürich zusammengefasst werden. Doch wie sieht selbstbestimmtes Wohnen von Menschen mit Behinderung überhaupt aus? Dieser Frage widmet sich im Wallis ein Verein

MARTIN SCHMIDT
Die Zeiten, in denen Menschen mit einer Behinderung in Heimen untergebracht wurden, wo sie ein Leben abseits der Gesellschafts fristeten, gehören in der Schweiz zum Glück der Vergangenheit an. Doch auch wenn sie nicht mehr ähnlich Gefängnisinsassen eingesperrt werden, sind auch heute noch lange nicht all ihre Rechte gewährleistet. Auch in der Schweiz nicht Und genau hier setzt der Verein für «Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit einer Behinderung», der am 19. Oktober 2017 von neun Studierenden der HES -SO Valais/Wallis gegründet wurde, an.

Keine Wahlmöglichkeit
Gemäss dem Verein sind die vorherrschenden institutiona-lisierten Wohnangebote oft durch strikte Anforderungen im Hinblick auf die Finanzierung und durch eine relativ starre Alltagsplanung gekennzeichnet. So bestünde für die Menschen faktisch oft keine Wahlmöglichkeit.

Menschen mit Behinderung sollen gemäss der UNO-Behindertenrechts- konvention, die in der Schweiz am 15. Mai in Kraft getreten ist, aber dieselben Rechte zustehen. Die Konvention spricht unter anderem von der Schaffung von Chancengleichheit, individueller Autonomie und Unabhängigkeit, der Freiheit, eigene Entscheidungen fällen zu können, der Möglichkeit, am bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben zu können und der Wahl des eigenen Wohnorts. Aber auch von der Erkenntnis über die Vielfalt der Menschen mit einer Behinderung. Und genau dieser Punkt erschwert die Umsetzung der Rechte in vielen Fällen enorm: «Hier stehen wir in einem Spannungsfeld», sagt denn auch Patrick Bayard, Vorstandsmitglied des Vereins für «Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit einer Behinderung». «Auf einer Seite hat ein Mensch mit Behinderung das Recht auf Autonomie. Anderseits braucht dieselbe Person aber auch Betreuung», ergänzt der angehende Sozialarbeiter.Doch was soll der Person abgenommen werden, was soll man sie selbst erledigen lassen? «Das muss von Fall zu Fall beleuchtet werden», antwortet Bayard.

Sich selbst überlassen
Eine ganz eigene Antwort hat man dafür in einem Zürcher Heim gefunden. Dort wurde im Jahr 2013 mit dem Pigna-Park ein Projekt lanciert, bei dem Menschen mit einer schweren kognitiven Beeinträchtigung frei in einem 4000 Quadratmeter grossen Park bewegen können. Man überlässt die Bewohner einfach mal sich selbst. Freiheit bedeute dort, tun und lassen zu können, was jeder und jede einzelne Person möchte.

Dabei sollen die Bewohner ihre Autonomie fern der üblichen pädagogischen Förderkonzepte ausloten. Das alles geschieht zwar unter Aufsicht ihrer Betreuer. Diese greifen aber bloss ein, wenn jemand wirklich Hilfe benötigt


Patrick Bayard

 

Was soll der Person abgenommen werden, was soll man sie selbst erledigen lassen?»

Der Walliser Filmemacher Willi Franz Kurth hat das Leben im Pigna-Park während mehreren Monaten filmisch begleitet. Das Ergebnis ist eine 70- minütige Dokumentation, die heute Abend 18.30 Uhr im Kino Astoria aufgeführt wird. Gefolgt von einer Podiumsdiskussion mit Fachleuten der Behindertenhilfe und mit Führungs-kräften der Behindertenhilfe im Wallis. Mit der Organisation des Filmabends samt Podium will der Verein die Bevölkerung, aber auch die Fachkreise für die Thematik sensibilisieren. Man will aufzeigen, dass alternative Wohnund Beschäftigungsformen erfolgreich sein können, auch wenn sie von den bisherigen institutionellen Konzepten abweichen. «Vielleicht wäre ja ein ähnliches Konzept auch hier im Wallis möglich», so Bayard. Bei den Institutionen und beim Kanton würden die Vereinsmitglieder mit ihren Ideen grundsätzlich auf offene Ohren stossen, so Bayard.

Umzug aus dem Wallis?
Etwas schwieriger dürfte es sich bei der freien Wahl des Wohnorts gestalten: Bayard macht sich für eine freie Wahl über die Kantonsgrenzen hinaus stark. «Es gibt junge Leute mit einer Behinderung, die beispielsweise lieber in städtischeren Orten wie Bern leben würden», sagt er. In diesem Punkt ist Daniel Abgottspon, Direktor von Insieme Oberwallis, nicht ganz gleicher Meinung: Man lege zwar grossen Wert darauf, dass sich die Wohnungsangebote von Insieme nicht bloss auf die Zentren konzentrieren. «Unsere Wohnungen verteilen sich von Bitsch bis nach Gampel», sagt Abgottspon. Er bezweifelt aber, dass es auch Sinn machen würde, Personen ausserhalb des Kantons zu betreuen. Zu sehr wären sie an ihr Umfeld und ihre Verwandten gebunden. Das Thema der Wahlmöglichkeiten ist für Abgottspon aber generell von Bedeutung: «Dafür braucht es aber gewisse Voraussetzungen. Auch vonseiten des Personals», sagt er. «Je mehr Autonomie man Menschen mit Behinderung gewährt, umso mehr spiele jeweils auch das Argument der Sicherheit eine Rolle»,so Abgottspon. Bei Insieme lege man aber grundsätzlich viel Wert darauf, dass die Menschen in die Entscheidungen mit einbezogen werden. Das bedeutet, dass man den Leuten auch ihre Wahlmöglichkeiten vergegenwärtige.

«HEBT MARIO AB?»
Heute Abend wird im Kino Astoria in Visp der Dokumentarfilm «Hebt Mario ab?» des Oberwalliser Filmemachers Willi Franz Kurth aufgeführt. Rund ein Jahr lang begleitete Kurth die Heimbewohner mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen im Pigna- Park in Zürich. Im Anschluss folgt eine Podiumsdiskussion mit Fachleuten zum Thema «Selbstbestimmtes Wohnen»