Reintegrierenstattinvalidisieren

(Neue Zürcher Zeitung)

Reintegrieren statt invalidisieren Fälle von Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Leiden nehmen stark zu – zwei Versicherer geben erfolgreich Gegensteuer

Die Statistiken der Invalidenversicherung (IV) zeichneten in den vergangenen zehn Jahren ein erfreulich entspanntes Bild, wenn es um die absolute Zahl von Neurentnern ging. Die Zahl der Neurentner wegen Invalidität verharrte in den Jahren bis 2016 in der relativ engen Bandbreite von 26 bis 35 neuen IV- Bezügerinnen und Bezüger je 1000 Versicherte. Spezialisten, die sich mit Krankmeldungen, Arbeitsunfähigkeit und Massnahmen zur Wiedereingliederung von Berufes wegen beschäftigen, sehen indes einige Anzeichen dafür, dass der Trend drehen könnte. Vor allem der Umstand, dass sich vermehrt Jugendliche wegen psychischer Krankheiten beim Arbeitgeber abmelden, lassen die Alarmglocken läuten.

Früh die Risiken erkennen

Die PK Rück ist eine der Institutionen, denen sehr viel daran liegt, einer allfälligen Häufung von Arbeitsunfähigkeitsfällen frühzeitig auf die Spur zu kommen. Die seit Jahren stark wachsende Versicherung nimmt von ihren Kunden, der Regel autonome Sammelstiftungen und andere grosse BVG-Vorsorgeeinrichtungen, Prämiengelder entgegen für die Übernahme von Todesfall- und Invaliditätsrisiken. Hierbei werden in aller Regel Dreijahre-Verträge abgeschlossen, wobei ein enger Kontakt mit den Arbeitgebern gesucht wird. Steht die IV mit ihren kantonalen Zahlstellen gleichsam am Ende einer langen Kausalitätskette, wenn es um oft schleichende, lange kaum erkennbare Invalidisierungen geht, kann die PK Rück mit Case Management vergleichsweise früh eingreifen.

Das Unternehmen nimmt für sich in Anspruch, mit einer Neuverrentungsquote von 1,5 Promille den gesamtschweizerischen IV-Wert (2,7 Promille im Jahr 2016) um rund 40% zu unterbieten. Jede der jährlich etwa 3300 gemeldeten Personen mit Arbeitsunfähigkeit werde so betreut, dass die Eingliederung in den Erwerbsprozess bestmöglich ablaufe. In mehr als neun von zehn Fällen sei dank aufwendigem Coaching, welches das frühzeitige Beiziehen von Psychologen und anderen Fachkräften einschliesst, eine Invalidisierung verhindert worden. Derart hohe Reintegrationsquoten stehen m Kontrast zur IV,wobei dort grosse Unterschiede zwischen den Kantonen auffällig sind. Es muss schon erstaunen, wenn in den Kantonen Neuenburg und Glarus im Jahr 2016 (die Zahlen für 2017 liegen noch nicht vor) auf 1000 Versicherte 38 bzw. 37 IV-Renten gesprochen wurden, während es 17 und 19 IV-Renten in den Kantonen Uri und Luzern waren; dieses Gefälle ist auch langfristig sichtbar.

Vermutlich grosse Dunkelziffer

Der Ansatz der PK Rück zielt auch auf Leistungsanreize für die angeschlossenen Arbeitgeber, denen im Falle von aktivem Leistungsmanagement tiefere Prämien verrechnet werden. Wenn sich seit 2011 die gemeldete Zahl von Arbeitsunfähigen im PK-Kundenkreis glatt auf 2,3% des Versichertenbestandes verdoppelt hat, lässt sich das teilweise mit diesen Anreizen für eine Prämienverbilligung erklären. Hanspeter Tobler, der die PK Rück führt, sagt dazu, man erfahre mehr und früher davon, wenn in einer Firma am Arbeitsplatz Probleme auftauchten.

Trotz all diesen Bemühungen registriert die Versicherung PK Rück im Zeitraum 2014 bis 2017 eine auffällige Verschiebung bei den Ursachen einer bleibenden Arbeitsunfähigkeit. Im Jahre 2014 waren noch Rückenleiden bzw. «andere Krankheiten» (Krebs; Herz- und Kreislaufbeschwerden) mit 29% bzw.32% die häufigsten Gründe für Absenzen vom Arbeitsplatz. Deren Anteil ist stark gesunken (siehe Grafik), wogegen der Anteil «psychischer Krankheiten» gleich um 6 Prozentpunkte auf 29% gesprungen ist.

Andreas Heimer von PK Rück schätzt, dass jeder zweite Fall auf eine Depression (oder ein Burn-out) und jeder vierte Fall auf eine Anpassungsstörung, beispielsweise nach einem menschlichen Verlust in der Familie, entfalle. Weiter gebe es viele, die trotz psychologischen Problemen voll arbeiteten, aber ihr Leiden vor dem Vorgesetzten und den Kollegen verbergen würden. PK Rück hat hierzu aber auch eine gute Bot schaft: Ihre Kontakte mit Arbeitgebern und betroffenen Personen zeigten, dass nach einer Offenlegung eine grosse Bereitschaft bestehe, der Chronifizierung eines Leidens entgegenzuwirken.

Krankentaggeld zeigt Ähnliches

Die Erfahrungswerte der PK Rück lassen sich durch Daten der Swica, der grössten Anbieterin von Taggeldversicherungen in der Schweiz, weitgehend erhärten. Viele ihrer 27 300 Unternehmenskunden mit insgesamt 620 000 Versicherten willigen in ein betriebliches Gesundheitsmanagement ein, das auf einen regen Informationsaustausch schon vor der Ausbezahlung von Krankentaggeldern gerichtet ist.

Basierend auf einer Auswertung von zwei Grosskunden, die zu den 15 grössten Arbeitgebern des Landes zählen und deren Namen und Branchenzugehörigkeit geheim ist, wird vor allem für psychische Leiden ein Anstieg gemeldet. Im Zeitraum 2014 bis 2017 wurde hier ein Zuwachs von 20% auf 23% aller Fälle registriert. Die Swica-Pressestelle ergänzt, die Entwicklung sei bei denjenigen Kunden, die eine vertiefte Abklärung der Fragen um Erkrankungen wünschten, ähnlich wie bei den beiden erwähnten Grossunternehmen.

Die Swica versucht auch, mit Care-Managern von chronischen Leiden bedrohten Versicherten zu helfen. Erstgespräche haben zum Ziel, medizinische, berufliche und private Gründe für die Erkrankung zu eruieren. In der Praxis komme es vor, dass ein Patient eine Verschuldung als Belastung preisgebe, von der der Arbeitgeber nichts gewusst habe.Standort-Gespräche mit dem Arzt und weiteren Spezialisten werden von der Swica organisiert, um den Wiedereinstieg in Etappen vorzubereiten.

Inzwischen beschäftigt die Swica 85 Care-Manager, wobei diese Jahr für Jahr mehr Fälle bearbeiten. Wie im Falle der PK Rück sind auch hier die Anreize gegeben, Invalidisierung wenn immer möglich zu verhindern. Frühzeitige Interventionen mit dem Ziel Reintegration sind gerade für Jugendliche Gold wert. Jahrzehntelang IV-Renten zu bezahlen, kann ins grosse Geld gehen und ist weder aus gesellschaftspolitischer noch menschlicher Sicht ein erstrebenswerter Weg.