Rollstuhlfahrende Männer-WG

(Sozial Aktuell)

Eigenverantwortlich leben dank dem Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung

Text: Peter Buri Bilder Schwerpunkt: Luc François Georgi
Das Assistenzmodell in der Schweiz steckt noch in den Kinderschuhen. Es ist jedoch der einzige Weg zur Inklusion aller Menschen mit einer Beeinträchtigung. Dabei spielt eskeine Rolle, ob sie körperlicher, geistiger oder seelischer Artist oder ob eine Sinnesbehinderung vorliegt. Das Assistenzmodell ermöglicht es auch Menschen mit schwerem Handicap, selbstbestimmt zu leben. Ein Erfahrungsbericht eines Direktbetroffenen.

Zu meiner Person: Ich heisse Peter Buri, bin 30 Jahre alt,kaufmännischer Angestellter und Single. Meine Diagnose lautet Muskeldystrophie Duchenne Typ 2. Dies ist eine progressive, sich schleichend verschlechternde neuromuskuläre Erkrankung aufgrund eines Gendefekts. Ich wohneseit bald vier Jahren in der Wohnbaugenossenschaft Oberfeld im beschaulichen Ostermundigen BE in einer roll-stuhlfahrenden 2-Männer-WG, in einer coolen und geräumigen Mietwohnung.

Seit etwas mehr als 18 Jahren bin ich mit der Stiftung Schulungs- und Wohnheime Rossfeld verbunden. Ich be-suchte dort die 6. bis 10. Klasse, da es in der öffentlichenSchule nicht mehr ging. Daraufhin absolvierte ich am sel-ben Ort eine kaufmännische Ausbildung im Profil E mit EFZ. Seither arbeite ich im Rossfeld im geschützten Rahmen als Kaufmann.

Der Assistenzbeitrag der IV im DetailDer Assistenzbeitrag ist eine finanzielle Hilfe der Invalidenversicherung, der es auch schwer behinderten Menschen ermöglicht, in Eigenregie eine Person oder auchmehrere Personen für die individuell benötigten Hilfeleis-tungen anzustellen. Voraussetzung ist, dass sie über dasnötige Mass an Selbstständigkeit verfügen. Eingeführt wurde der Assistenzbeitrag im Rahmen der 6. IV-Revisionvom 1. Januar 2012.

Das einheitliche Modell läuft schweizweit über die IV, jedoch erarbeiten einzelne Kantone ergänzend noch eigene Modelle, und nicht jeder Kanton ist gleich weit in der Umsetzung.

Anspruch auf einen Assistenzbeitrag haben grundsätzlichalle versicherten Personen, die eine Hilflosenentschädigung beziehen und zu Hause leben. Auch diejenigen, diebeabsichtigen, aus einem Heim auszuziehen, haben einen Anspruch darauf.Volljährige Versicherte mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit (Versicherte, die einenVormund/Beistand haben oder noch der elterlichen Sorgeunterstehen) müssen nebst genügend grosser Selbstständigkeit mindestens eine der folgenden Voraussetzungenerfüllen:

– einen eigenen Haushalt führen können
– Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt
– Ausbildung auf Sekundarstufe II
– Ausbildung auf Tertiärstufe absolvieren
– auf dem ersten Arbeitsmarkt während mindestenszehn Stunden pro Woche einer Erwerbstätigkeit nach-gehen
– bereits vor dem 18. Lebensjahr einen Assistenzbeitragbezogen haben, aufgrund eines Intensivpfiegezuschlagsfür einen Pflege
– und Überwachungsbedarf von min-destens sechs Stunden pro Tag

Minderjährige Versicherte müssen eine der folgenden Voraussetzungen erfüllen:
– in einer Regelklasse die obligatorische Schule regel-mässig besuchen- sich in einer Berufsausbildung auf dem regulärenArbeitsmarkt befinden
– eine Ausbildung auf Sekundarstufe II absolvieren- auf dem regulären Arbeitsmarkt während mind. zehnStunden pro Woche erwerbstätig sein
– einen Intensivpfiegezuschlag für einen Pflege
– undÜberwachungsbedarf von mindestens sechs Stundenpro Tag beziehen

Die persönlichen Chancen und der gesellschaftliche Nutzen

Der Assistenzbeitrag ermöglicht es Personen mit Handi-cap, ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Le-ben in den eigenen vier Wänden zu gestalten. Pflegende Angehörige werden deutlich entlastet, und ein Heimauf-enthalt kann hinausgezögert oder gar verhindert werden. Minderjährigen Bezügern ermöglicht der Assistenzbeitragdie Integration in ihrem gewohnten gesellschaftlichenund familiären Umfeld. Schwer pflegebedürftige Kinderund Jugendliche, die zu Hause statt in einer Institution ge-pflegt werden, haben ebenfalls Anspruch auf den Assienzbeitrag. Auch für alle Politikerinnen, die immer lauter «Sparen!» rufen, findet sich ein Anreiz: Selbst bei einemAusbau der Leistungen bzw. einer Erhöhung der Stunden-und Nachtansätze können im Vergleich zu einem Heim-platz noch deutlich Kosten eingespart werden.


Peter Buri ist selbstständiger Beraterfür persönliche Assistenz.

 

Konsequent den eigenen Weg gehen

Für Personen mit Handicap, die sich auf den Weg in dieSelbstbestimmung machen, gilt es während des gesamtenProjekts, den eingeschlagenen Weg konsequent bis zumEnde zu gehen. Denn um Träume zu verwirklichen, beginnt man wie bei allem Neuen im Leben auf Feld 1. Bevordu jedoch auf Feld 1 beginnst, leistest du bereits viel undhast wohl bereits einen längeren Weg hinter dir. Denn be-vor du eine Lawine lostrittst, gehst du davon aus, dass esZeit ist, etwas an deinem Istzustand zuändem.

Vielleicht bist du mit deinem «Heim» oder deinem «Zu-hause» nicht ganz oder gar nicht mehr zufrieden, weil
– dunicht die gewünschte Privatsphäre hast und immeralle alles von dir mitbekommen.
– dukeine Spitex mehr willst, weil da immer andereLeute kommen.- deine Eltern nichtmehr die Kraft haben, dich zube-treuen oder deine Pflege zugew ährleisten.
– deine Partnerin/dein Partner nicht deine persönliche Pflegekraft ist.
– dueinfach weisst, dass es an der Zeit ist, etwas andeiner Situation zuändern.

Arbeitgeber werden

Mit dem IV-Assistenzbeitrag erhalten Direktbetroffene die Möglichkeit, Personen einzustellen, um die herum mansich wohlfühlt, die einem zusagen. Und sie werden zum Arbeitgeber in einem heiklen, höchst intimen und komplexen Umfeld. Jede Entscheidung hat unweigerlich direkteKonsequenzen. Es können situationsbedingt Abhängig-keitsverhältnisseentstehen.

Es ist eine Herausforderung, ein gutes Team von Mitarbeitenden zusammenzustellen. Wenn man einmal ein gut funktionierendes und eingespieltes Team hat, ist es sehrwichtig, auf die Teamhygiene zu achten – also zu schauen,dass eine gute Stimmung herrscht, nach dem Motto «Einerfür alle und alle für einen». Wenn Personal ausfällt, egal obkurz- oder langfristig, muss man selber für passenden Ersatz schauen.

Mein eigener Sprung ins kalte Wasser

Diese Zeilen zu veröffentlichen, erfüllt mich mit Stolz. Esermöglicht mir, Direktbetroffenen ein Vorbild zu sein undihnen allen eine Stimme zu geben. Ich kann der Öffentlichkeit zeigen, dass es auch für Menschen mit schwerem Han-dicap möglich ist, ein selbstbestimmtes und eigenverant-wortliches Leben zuleben.

Ich bin sehr froh, dass ich mich damals gemeinsam mitmeinem jetzigen WG-Partner Lukas Keller für den Sprungins kalte Wasser entschieden habe. Es gab jedoch auchMomente, in denen ich leichte Zweifel hegte. Für mich waraber jeweils schnell klar, dass ich zuviel gewonnen hatte,um vorschnell aufzugeben. Was ich persönlich daraus gelernt habe: Dass Probleme existieren – dass es aber fürjedes Problem mindestens eine oder zwei passende Lösun-gen gibt.

Die Initialzündung für meinen Entscheid war wohl der Todmeiner Mutter, denn danach konnte ich nicht mehr vielaus dem Wohnheim raus und mir fehlte ein «Ausgleich».Mir fiel beinahe die Decke auf den Kopf; immer am selbenOrt sein, dort wohnen, wo ich auch arbeitete. Ein weitererGrund waren die immer absurderen Regeln der Heimlei-tung, wie zum Beispiel: Am Wochenende hatte man be-reits um 3.15 Uhr in der Nacht zurück im Heim zu sein ansonsten werde man erst um 7.15 Uhr nach dem Morgen-rapport vom Tagdienst ins Bett gebracht; keine Hilfe zumEssen ausserhalb der offiziellen Essenszeiten; am Wochen-ende keine Möglichkeit, umrichtig auszuschlafen.Ich kann wirklich allen nur empfehlen, den Schritt in dieSelbstbestimmung zu wagen. Man kann nur gewinnen,denn im schlimmsten Fall kann man ins Heim zurückkeh-ren. Darum mein Motto: Wer nichts wagt, der gewinntauch nichts! Wer aufgibt, hat schonverloren.


Bilder Schwerpunkt: Luc François Georgi

 

Links

Informationen zum Assistenzbeitrag:
www.ivbe.ch/de/leistungen/geldleistungen/assistenzbeitrag

Adressen von Beratungsstellen im Kanton Bern:
https://www.proinfirmis.ch/angebot/bern

Das Angebot des Vereins Assistenzbüro ABü:
www.assistenzbuero.ch/de/angebot/angebot