Selbstvertretung ich führe Regie in meinem Leben

(Werdenberger & Obertoggenburger)

Ein Paar, beide mit Lernbehinderung, erzählte diese Anekdote: «Wir wollten heiraten. Die Beiständin war damit nicht einverstanden und die Pfarrerin verweigerte die kirchliche Trauung. Sie stellten zur Bedingung,dass wir zuerst ein halbes Jahr einen Ehevorbereitungskurs besuchen müssen und erst dann würden sie entscheiden. Also buchten wir eine Reise nach Las Vegas und heirateten dort in einer Kapelle.»

Viele Menschen mit einer Behinderung machen diese Erfahrungen: Es werden Regeln aufgestellt, welche für nicht behinderte Menschen nicht gelten.Sie müssen für Alltägliches um Erlaubnis fragen: Darf ich ein Bier trinken? Darf ich einen Fernseher im Zimmer haben?
Darf ich alleine in einer Wohnung leben? Mit wem zusammen darf ich eine WG gründen? Darf ich die Regelschule besuchen? Darf mein Freund mit mir duschen?

Übertrieben? Nein, das ist Realität. Wir sind uns oft nicht bewusst, wie sehr nicht behinderte Menschen in die Privat-sphäre von Betroffenen eingreifen und ihnen die Wahlfreiheit nehmen. Dabei ist dies nicht mehr rechtens. Wir haben mit dem Behindertengleichstel-lungsgesetz und der UNO -Behindertenrechtskonvention Grundlagen geschaffen, damit auch Menschen mit einer Behinderung ihr Leben so gestalten können, wie es aus ihrer Sicht richtig ist.

Viele Betroffene haben begonnen, sich selbst aktiv für ihre Rechte einzusetzen. Das ist auch gut so. Wer denn sonst, wenn nicht sie? Sie wollen sich nicht mehr als Bittsteller verstanden wissen, sondern als Mitbürger mit gleichen Rechten und Pflichten. Sie beginnen sich selbst zu vertreten. Das gibt auch Konflikte. Ihre Erwartungen entsprechen in vielen Punkten nicht mehr der Welt, die nicht behinderte Menschen für sie ausgedacht haben.

In der Ostschweiz gibt es seit März 2016 die «Augenhöhe! Fachstelle zur Förderung von Selbstvertretung» mit Sitz in St. Gallen. Sie unterstützt Betroffene, Angehörige, Politiker, Arbeitgeber, Heime und Fachleute dabei, die Selbstvertretung zu fördern, und bietet Schulungen an.

Gemäss Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz 1213 000 Menschen mit einer Behinderung. 4 Prozent davon haben eine angeborene Behinderung, alle anderen werden erst im Laufe des Lebens erworben. Es kann also gut sein, dass auch wir selbst einmal zu dieser grössten Minderheit in der Schweiz gehören. Gut wenn wir diese Selbstvertretung bereits jetzt positiv unterstützen, damit wir vielleicht später einmal Wahlmöglichkeiten statt Fremdbestimmung erleben dürfen.

Stefan Kühnis Kant.
Geschäftsleiter der Pro Infirmis Glarus