So steht es nach Long Covid um eine IV-Rente

(Berner Zeitung)

Langzeitfolgen Fast tausend Patienten haben sich dieses Jahr bei der IV angemeldet, jetzt entscheidet die Versicherung über die Rente. Dabei spielt das Fatigue-Syndrom eine entscheidende Rolle.

Markus Brotschi

Sie geraten auch Monate nach der akuten Erkrankung bei leichter körperlicher Anstrengung ausser Atem, klagen über chronische Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen. Bei manchen Long-Covid-Betroffenen sind die Beschwerden so stark, dass sie nicht mehr arbeiten können. 900 dieser Patienten haben sich im ersten Halbjahr 2021 bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet. Dies berichtet Altea, einNetzwerk von Fachpersonen und Long-Covid-Betroffenen.

Die häufigsten Langzeitfolgen einer Covid-Erkrankung sind Atemnot, chronisches Erschöpfungssyndrom (chronisches Fatigue-Syndrom) sowie Gelenk- und Muskelschmerzen. Bei den IV-Anmeldungen dürften chronische Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten und allenfalls noch psychische Probleme dominieren, sagt Michael Schlunegger, Geschäftsführer von Altea. Atemwegsprobleme dürften hingegen weniger häufig der Grund für eine IV-Anmeldung sein, da diese Beschwerden vor allem in der akuten Phase der Krankheit aufträten.

Menschen, die unter Fatigue leiden, spüren eine Erschöpfung, die auch bei viel Schlaf nichtweggeht. Anwalt Daniel Schilliger von der Behindertenorganisation Procap betreut zurzeitzwei Long-Covid-Patienten mit chronischer Fatigue, die sich bei der IV angemeldet haben. Er warte auf die ersten Entscheide der IV zu Long-Covid, mit denen er im Herbst rechne.

Ein Jahr lang arbeitsunfähig

Voraussetzung für einen Rentenentscheid der IV ist, dass jemand mindestens während eines Jahres arbeitsunfähig geschrieben und in medizinischer Behandlung war. Die Eingliederungsmassnahmen müssen erfolglos gewesen und abgeschlossen sein. Die ersten Long-Covid-Anmeldungen bei der IV dürften laut Schilliger im Sommer 2020 erfolgt sein, einige Monate nach den ersten Erkrankungen.

Entscheidend, ob man mit chronischem Erschöpfungssyndrom eine Rente erhält, ist laut Schilliger, ob die IV die Erkrankung als somatisch oder psychosomatisch beurteilt. Im letzteren Fall sei die Hürde für eine Rente hoch.

Laut Anwalt Schilliger ist es jedoch auch möglich, dass die IV bei den Fatigue-Fällen zum Schluss kommt, dass es eine somatische Ursache gibt. Wegweisend könnte ein Bundesgerichtsurteil von 2013 sein, gemäss dem chronische Fatigue infolge einer Krebserkrankung als relevante Krankheit anerkannt wurde. Ausschlaggebend könnte bei den Long-Covid-Patienten zudem die grosse Zahl der Betroffenen sein. Je häufiger solche Erkrankungen vorkommen, desto besser sind sie auch medizinisch dokumentiert.

Michael Schlunegger schätzt, dass es in der Schweiz Zehntausende Long-Covid-Betroffene gibt, bei bisher 700’000 bestätigten Corona-Fällen seit Ausbruch der Pandemie. Long Covid sei als Syndrom aber noch nicht definiert und wirklich anerkannt. Viele Patienten seien auf der Suche nach Hilfe und würden teilweise von ihren Ärzten und Therapeuten nicht ernst genommen.

Die IV setzt derzeit auf die medizinische Behandelbarkeit von Long Covid. «Wenn das behandelbar ist und die Arbeitsfähigkeit gegeben ist, gibt es an sich keine guten Gründe, weshalb sich die IV in diesem Bereich weiter engagieren sollte», sagte Stefan Ritler, Vizedirektor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), kürzlich gegenüber Radio SRF. Mit einem Anteil von rund 3 Prozent der Anmeldungen führten die Long-Covid-Fälle bei der IV bis jetzt zu einer Fallzunahme, wie sie auch in anderen Jahren zu
beobachten sei.

Ein Fall für die Gerichte

Dass die Langzeitfolgen von Covid-Erkrankungen medizinisch behandelbar seien, also eine Besserung oder Heilung möglich sei, schliesse eine IV-Rente nicht aus, sagt hingegen Schilliger. Die IV könne in solchen Fällen nach der Rentenzusprache eine Überprüfung vornehmen. Generell hätten es Fatigue-Patienten bei der IV aber schwer, zu einer Rente zu kommen, sagt Schilliger. Chronische Fatigue ist von anderen viralen Erkrankungen bekannt.Liegt kein Krebsleiden vor, werden die Fälle von der IV meist als psychosomatische Erkrankungen betrachtet.

Zwar sei auch dann eine Rentenzusprache nicht ausgeschlossen, sagt Schilliger. Aber dann müsse mit neuropsychologischen Abklärungen, medizinischen Gutachten und Arbeitstests eruiert werden, ob ein Erschöpfungssyndrom vorliege. Schwierig dürfte es laut Schilliger auch für Long- Covid-Patienten mit Fatigue sein, die bereits vor der Covid-Erkrankung psychische Probleme hatten. Schliesslich kann die IV auch zum Schluss kommen, dass das Leiden zwar vorhanden, aberüberwindbar ist. Das heisst, dass sie trotz Erschöpfungssyndrom weiterhin erwerbsfähig sind. Bessere Chancen auf eine Rente hat, wer vor Covid keine Vorerkrankungen aufwies und von Covid schwere gesundheitliche Schäden davongetragen hat, etwa an der Lunge oder an Organen.

Vermutlich werden sich am Schluss die Gerichte mit Dossiers von Long-Covid-Patienten beschäftigen müssen, vor allemwenn diese gegen abschlägige Rentenentscheide rekurrieren. Für die Betroffenen habe eine Anmeldung bei der IV jedoch nicht Priorität, sagt Schlunegger. Viele der Betroffenen hofften relativ lange, dass sich ihr Zustand verbessere. Deshalb dürften jene, die sich bei der IV anmeldeten, in der Minderheit bleiben.

Wird die Erkrankung als psychosomatischbeurteilt, ist die Hürde für eine Rente hoch.