So wertvoll und doch tabu

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

Sexuelle Unterstützung für Menschen mit Handicap

Für viele Menschen mit Behinderung sind die professionellen Berührerinnen und Sexual-assistenten oft die einzige Möglichkeit, Sinnlichkeit und sexuelle Bedürfnisse auszuleben. Doch das Thema Sexualität und Behinderung ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabu.

Von Marion Loher

Kevin ist Anfang 20 und Spastiker. Er sitzt im Rollstuhl, ist stark sehbehindert und hat eine leichte geistige Einschränkung. Eine Freundin hatte er noch nie, sexuelle Kontakte ebenfalls nicht. Dementsprechend gross war sein Wunsch nach Intimität. Aufgrund seiner Spastik kann er sich nicht selber berühren, Masturbation ist nicht möglich. Über seine Verwandten nahm Kevin Kontakt zu Michelle Gut auf.

Sie ist Tantramasseurin, professionelle Berührerin und Sexual Coach. Sie weiss, wie wichtig Berührungen sind. «Je entspannter ein Mann ist, desto besser kann er zum Orgasmus kommen. Daher ist gerade bei Spastikern die Entspannung wichtig», sagt sie. «Bei ihnen steht die Skelettmuskulatur stark unter Spannung, und Massagen können zu einer tiefenwirksamen Entspannung führen.» Kevin sei bei den ersten Treffen sehr schüchtern gewesen und habe wenig geredet. «Das änderte sich im Laufe der Zeit. Nachdem ich zuerst normale Körpermassagen an ihm praktiziert hatte, äusserte er den Wunsch nach einer Intimmassage. Zu Beginn war er noch verkrampft, aber mit jeder weiteren Massage konnte er immer besser entspannen.» Etwa vier Mal im Jahr kommt Kevin zu Michelle. «Er sagt, dass ihm die Besuche bei mir guttun und er sich immer wieder darauf freut.»

Je entspannter ein Mann ist, desto besser kommt er zum Orgasmus. Massagen helfen.

Seit gut 13 Jahren hat die ausgebildete Berührerin und Tantra-masseurin ihr eigenes Massagestudio Andana in Zürich, das sie zusammen mit ihrem Lebenspartner führt. Sie bietet haupt-sächlich «erotische Massagen mit Handentspannung» an. «Das sind Ganzkörpermassagen, zu denen auch der Intimbereich gehört», erklärt Michelle Gut. «Ebenfalls Teil der Massage können Streicheln, Umarmen, Kuscheln oder Body-to-Body sein. Zum Geschlechtsverkehr kommt es bei mir hingegen nicht.»

Fast ausschliesslich männliche Kundschaft

Zu ihren Kunden zählen aber nicht nur Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung, sondern auch gesunde Menschen. Denn sie arbeitet zusätzlich als Sexual Coach. «Ich begleite Menschen in ihrer Sexualität, wenn es beispielsweise darum geht, den eigenen Körper besser wahrzunehmen oder sonst etwas im Zusammenhang mit Sexualität zu lernen.» Etwa 90 Prozent ihrer Klientel sind Männer, 7 Prozent Frauen und 3 Prozent Transgender und Intersexuelle. Die meisten kommen monatlich, manche alle zwei bis drei Monate. «Es gibt viele, die ich über mehrere Monate oder Jahre hinweg begleite.» Oliver sei so jemand gewesen, sagt sie und erzählt: «Oliver hatte ALS, eine nicht heilbare degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. In einer Mail schrieb er, dass die Krankheit weit fortgeschritten sei und er sich nicht mehr bewegen könne. Auch Sprechen war nicht mehr möglich. Die Kommunikation gelang per Computer mittels Augenbewegung, sodass er seine Wünsche per Mail mitteilen konnte.» Oliver war Mitte 30 und vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Er wünschte sich Zärtlichkeit und erotische Massagen. «Er schrieb mir alles detailliert auf. Ich massierte ihn genau nach seinen Wünschen. Für mich war es sehr speziell, weil Oliver keine Mimik zeigen konnte und ich so nicht wusste, ob alles nach seinen Vorstellungen verlief oder nicht.» Am nächsten Tag schrieb er ihr ein ausführliches Feedback. Ein positives. Danach sahen sie sich zwei bis drei Mal im Monat. «Ich lernte in der Zeit auch, seine Augen zu lesen, und wusste, ob es ihm gefällt oder nicht. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich allerdings immer schneller. Er schrieb mir, dass meine Besuche in dieser Zeit stets eine Freude für ihn waren. Schliesslich starb er an einer Lungenentzündung.»

«Als Tantramasseurin kenne ich ihre Sorgen»

Auf die Idee, als Berührerin zu arbeiten, kam Michelle Gut vor 15 Jahren. Pro Infirmis war damals auf der Suche nach Personen, die Menschen mit Behinderung erotische Massagen anbieten sollten. «Ich war von dem Gedanken sehr angetan, weil ich durch meine Tätigkeit als Tantramasseurin bereits einiges von den Sorgen und Nöten dieser Menschen wusste», erzählt die gebürtige Luzernerin. «Ich meldete mich für die Ausbildung an, bestand das Aufnahmeverfahren und schloss die sechsmonatige Ausbildung zur Berührerin und Sexualassistentin in der Tradition der Psychotherapeutin Aiha Zemp und zum Sexual Coach nach Joseph Kramer erfolgreich ab.»
Aiha Zemp, der 2011 verstorbenen Behindertenaktivistin, war vor allem die Selbstbestimmung wichtig. «Menschen mit Behinderung sollten selber entscheiden können, in welchem Bereich ihres Lebens sie unterstützt werden wollen», sagt auch Michelle Gut. So gebe es Assistenz im Haushalt, bei der Körperpflege oder eben bei der Sexualität. Rechtlich sei die Tätigkeit der Berührerin, Sexualassistentin oder Sexualbegleiterin kein geschützter Beruf. Das heisst, jeder kann diese Tätigkeit ausüben oder entsprechende Ausbildungen anbieten. «Das erschwert einerseits die Qualitätssicherung, andererseits haben Menschen mit Behinderung so Zugang zu diversen Angeboten. Das wiederum ist von Vorteil.» Sowohl Behinderten-Berührung als auch Sexualassistenz sind erotische Dienstleistungen. Sie gehen von Massagen über Oralverkehr bis hin zum Geschlechtsverkehr. «Jede Anbieterin und jeder Anbieter bestimmt selber, was sie oder er anbieten möchte.» Diese Dienstleistungen sind hauptsächlich für Menschen mit Behinderung gedacht. Immer häufiger aber zählen auch ältere Menschen, die beispielsweise ihren Partner verloren haben und unter Altersgebrechen oder Demenz leiden, zur Kundschaft der Berührerin.

Er wusste die Adresse des Pflegeheims nicht
«Walter war ein älterer Herr und wollte von mir besucht werden. Als ich nach seiner Adresse fragte, konnte er mir nicht antworten. Er wusste sie nicht. Da wurde mir klar, dass er ver mutlich dement war.

Jeder kann diese Tätigkeit ausüben. Das erschwert die Qualitätssicherung, lässt aber Auswahl.

Menschen mit Behinderung wie der 20-jährige Spastiker Kevin können sich nicht selber berühren. Sie sind auf die «erotischen Massagen mit Handentspannung» der Berührerin Michelle Gut angewiesen.Foto: Shutterstock

 

Er rief mich nochmals an, und seine Betreuerin nannte mir die Adresse. Sie verriet auch, dass Walter 95 Jahre alt war und in einem Pflegeheim lebte. «Er wünschte sich eine Massage und Zärtlichkeit. Sein Körper war dem Alter entsprechend fragil, was die Berührungen nicht immer einfach machte. Doch er war für Zärtlichkeiten sehr empfänglich. Seit dem Tod seiner Frau vermisste er die Zärtlichkeit. Die Massage gefiel ihm, und so besuchte ich ihn bis zu seinem Tod jede Woche.»

Angehörige reagieren auf den Kontakt zwischen ihrem Schützling und der Sexualassistentin sehr unterschiedlich. «Es gibt Fälle, in denen die Menschen mit Behinderung nicht ernst genommen werden, und es gibt Fälle, in denen die Familie das Vorhaben unterstützt», sagt Michelle Gut. Diese Unterstützung reicht vom Hinweis, dass es das Angebot der Berührerin gibt, über die Kontaktaufnahme und den Transport bis hin zur Finanzierung. Für die Expertin zählt in erster Linie, die Bedürfnisse der Klienten zu erkennen und sie zu erfüllen – und nicht unbedingt den Erwartungen der Angehörigen zu entsprechen.

Die Pflegefachkräfte seien froh und dankbar, ein «unangenehmes Thema» abgeben zu können. «Sie fühlen sich darin überfordert, die Bedürfnisse der Heimbewohner zu befriedigen. Letztlich sind sie auch machtlos, denn ein Heim ist nicht dafür ausgelegt, sexuelle Bedürfnisse zu stillen.» Erstmals einen nackten Körper berühren Veronika Holwein leitet bei Insieme Kanton Bern die Fachstelle Herzblatt für Fragen zu Freundschaft, Liebe und Sexualität für Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihre Angehörigen. Sie schätzt das Angebot der Berührerin und der Sexualassistentin, denn sie weiss, wie wichtig es für Menschen mit Beeinträchtigung ist. «Viele haben keine sexuelle Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, das Bedürfnis nach Intimität ist aber gross. Für sie ist es die Möglichkeit, erstmals gemeinsam Nacktsein zu erleben, einen anderen nackten Körper zu berühren oder sogar Geschlechtsverkehr zu haben.»

«Es ist ein heikles Thema, das mit vielen Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist.»

Simon Müller, Projektleiter bei der Stiftung MyHandicap, sieht das ähnlich: «Für die Menschen mit Behinderungen, die aufgrund ihres Handicaps keine oder nur geringe Selbständigkeit aufweisen, ist das Angebot sehr wertvoll.» Trotzdem ist es noch immer ein Tabuthema. «Die Akzeptanz und das Wissen rund um das Thema Behinderung und Sexualität fehlen», sagt Simon Müller. «Es ist ein heikles Thema, das mit vielen Unsicherheiten und Ängsten verbunden ist. Um so wichtiger sind Diskussionen, Weiterbildungsangebote oder Informationsplattformen und Foren.»

Veronika Holwein sagt, dass es vor allem Männer seien, die sich nach einer solchen Dienstleistung erkundigten. «Frauen beschäftigt die Frage, wie sie sich abgrenzen und bestimmt Nein sagen können. Die Angst vor Missbrauch oder einer ungewollten Schwangerschaft ist in ihrem persönlichen Umfeld gross.» Die Fachstellen-Leiterin wünscht sich, dass das Thema Behinderung und Sexualität «selbstverständlich» wird und sich kein Mensch mit Behinderung schämen muss, wenn er zu einer Berührerin geht. Viel Verständnis, aber auch Kritik Nicht überall stösst die Tätigkeit auf so grosses Verständnis.

Michelle Gut und ihre Berufskolleginnen und -kollegen müssen sich oft viel Kritik anhören. Insbesondere der Vorwurf der Prostitution wird immer wieder laut. Doch die erfahrene Sexualassistentin kontert: «Wir handeln in einem konkreten Auftrag, der ethisch motiviert ist und sich in letzter Konsequenz auf die Menschenrechte bezieht.» Es gehe nicht darum, dass Menschen mit Behinderung Geld bezahlen und einseitige sexuelle Fantasien ausleben. «Vielmehr findet eine professionelle Beziehung statt, in der Vertrauen, Empathie, Hingabe und Fürsorge massgeblich sind», betont sie. Insofern seien Behinderten-Berührung, Sexualassistenz und Sexualbegleitung vor allem durch ihre Beziehungsqualität gekennzeichnet. «Und sie richten den Fokus darauf, Menschen zu helfen, die ihre Sexualität nicht selbstständig leben können.»