Städte und Gemeinden fordern mehr IV-Renten

(SonntagsBlick)

Städte und Gemeinden fordern mehr IV-Renten

Jetzt ist es offiziell: Die IV saniertsich-jedenfalls zum Teil-auf Kostender Sozialhilfe. Die Kommunen drängendaher nun verstärkt auf Abhilfe.


«IV schickt Kranke ins Elend»titelte SonntagsBlickam 11. August 2019

 

THOMAS SCHLITTLER

Die SonntagsBlick-Titelzeile:«IV schickt Kranke ins Elend», vom August 2019 hatte ihren Grund: Während die Zahl der IV-Bezüger zwischen 2005 und 2018 um rund 34 000 abgenommen hatte, stieg jene der Sozialhilfeempfänger um 41 000 an.

Ärzte, Anwälte und Sozialpolitiker beteuerten zu jener Zeit, viele ehemalige IV-Rentner seien auf den Sozialämtern gelandet – die Invalidenversicherung saniere ihre Bilanzen auf Kosten der Sozialhilfe.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen(BSV)allerdings stritt dies ab.

Die geringere Zahl der IV-Rentner sei darauf zurückzuführen, dass die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt besser gelinge als früher. Dass sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger gegenläufig entwickle, sage nichts über einen kausalen Zusammenhang aus.

Diese Woche nun wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt,dass der Bund mit dieser Einschätzung danebenlag.

Die Untersuchung des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) im Auftrag des BSV stellt fest:«Die Zahl der bei der IV neu angemeldeten Personen, die vier Jahrenach Anmeldung Sozialhilfe beziehen, hat zwischen 2006 und 2013 sowohl relativ als auch absolut zugenommen.» Dieser Anstieg sei weder mit derZusammensetzung der IV-Anmeldungen noch mit der Entwicklung der kantonalen Arbeitslosenquote erklärbar. Also doch: Die IV hat sich auf Kosten der Sozialhilfe saniert-zumindest teilweise.

Im Gegensatz zu den staatlichen IV-Renten belastet die Sozialhilfedas Budget von Städten und Gemeinden. Die nehmen daher das neue Untersuchungsergebnis mit grossem Interesse auf: «Wir habenimmer gesagt, dass eine IV-Revision nicht auf Kosten der Sozialhilfe passieren darf.


Christoph Niederberger, Direktor des Gemeindeverbands.

 

Die aktuellen Studienergebnisse zeigen nun ebendies auf – und das ist keine gute Entwicklung», so Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV).In der aktuell schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und angesichts des zu erwartenden Anstiegs der Sozialhilfekosten durch die Corona-Pandemie seien weitere Verlagerungen von der IV in die Sozialhilfe unbedingt zu vermeiden.«Gegen diese Tendenz muss nun von behördlicher Seite als Erstes auf Ebene Vollzug möglichst Gegensteuer gegeben werden.Nützt dies nichts, dann muss in einem nächsten Schritt die Politik einschreiten», fordert Niederberger.

Die Städte sehen das genauso:Raphael Golta zum Beispiel, Sozialvorsteher der Stadt Zürich, fordert von der IV anzuerkennen, dass ich ein Teil ihrer Bezügerinnen und Bezüger nicht mehr in den Arbeitsmarkt eingliedern lasse.
«Dieses Risikomuss die IV selbertragen.Sie darf die Verantwortung für die Betroffenen nicht auf die Sozialhilfe abwälzen», so Golta.Zudem müsse die IV einen grösseren Teil der heute nicht mehr arbeitsfähigen Sozialhilfebeziehenden wieder übernehmen.

Beim BSV stossendiese Forderungen auf taube Ohren.

«Eine grosszügigere Ausgestaltung der Anspruchsbedingungen in der IV müsste politisch entschieden,vom Parlament verabschiedet und allenfalls in einer Volksabstimmung bestätigt werden», teilt ein Sprecher mit.

Die Behörde sieht ohnehin kaum Handlungsbedarf: «Der Forschungsbericht zeigt,dass die Fokussierung der Invalidenversicherung auf die Eingliederung von Menschen mit gesundheitlicher Erwerbseinschränkung klar erfolgreich ist.»
Die Zahl Betroffener, die mit Unterstützung der IV nach den Eingliederungsmassnahmen ein existenzsicherndes Einkommen erzielten, ohne eine Rente zu benötigen, sei mit den letzten Revisionen deutlich angestiegen


«Die IV muss wieder einen grösseren Teil der Sozialhilfebeziehenden übernehmen» Raphael Golta, Sozialvorsteher Stadt Zürich“

 

Um das Abrutschen von der IV in die Sozialhilfe künftig zu verhindern, sodas BSV, sollten die Unterstützungs-und Eingliederungsangebote in Zukunft deshalb «noch besser ausgestaltet und gezielter eingesetzt» werden.


Nicolas Galladé Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik

 

Nicolas Galladé, Sozialvorsteher von Winterthur ZH und Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik, hält davon wenig. Zwar spreche nichts gegen gezieltere Eingliederungsmassnahmen. Die Studie belege aber eben auch, dass eine existenzsichernde Erwerbsarbeit für viele Betroffene «illusorisch» sei.

«Die Reaktion des BSV zeigteinen verengten Blick auf die IV statt auf das Gesamtsystem der sozialen Sicherung», so Galladé. Statt der weiteren Optimierung von Eingliederungsmassnahmen, die häufig nichts bringen, wäre eine IV-Rente in vielen Fällen ehrlicher, effizienter und menschenwürdiger


Auf dem Buckel der Schwächsten:Immer mehr Menschen, die keine IV-Rente erhalten,landen in der Sozialhilfe.