Stägeli uf stägeli ab

(Zeitlupe)

Für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sind Treppen undRandsteine oft unüberwindbare Hindernisse. Der RollstuhlScewo Bro- voneinem Schweizer Start-up entwickelt-kannTreppensteigen und vieles mehr. Eine Probefahrt.TEXT: MARC BODMER, FOTOS: GERRY EBNER


Im Giraffen-Modus fährtder Scewo Brodie Sitzflächehoch underlaubtKonversationenauf Augen-höhe. Auchwenn hieretwas über-trieben wurde.

 

Nun stehe ich vor der Treppe. Wasfür mich sonst ein Klacks und inSekunden erledigt ist, scheint nununüberwindbar. Denn ich sitze ineinem Rollstuhl. Der ist zwar sehrbequem und motorisiert. Wenn ich Gas gebe, spü-re ich sogar etwas den Fahrtwind an meinen Ohren. Doch nun stehe ich da vor der Treppe.

Zum Glück sitze ich nicht in einem gewöhn-lichen Rollstuhl, sondern im Scewo Bro, einemPrototyp des Zürcher Start-ups Scewo. Vor derSteuerung auf der rechten Armlehne ist ein Smart-phone angebracht. Auf dem Display sind über-sichtlich verschiedene Symbole zu sehen. Ichdrehe mich mit dem Bro um die eigene Achse, wasbei dem zweirädrigen Modell, das elegant balan-ciert, kein Problem ist. Einmal mit dem Rückenzur Treppe, drücke ich auf das Piktogramm, dasden Scewo Bro auf einer Treppe zeigt. Danachziehe ich den Joystick gerade nach hinten, undmit einem leichten Ruckeln geht es die einst hin-derlichen Stufen hoch. Unter meinem Allerwer-testen fährt der Rollstuhl Raupen aus, die auswiderstandsfähigem Gummi gefertigt sind. Soweich, dass sie gut an den Kanten fassen, so hart,dass sie monatelang halten.

Wenige Sekunden später habe ich den erstenAbschnitt der eindrücklichen Treppe im Landes-museum in Zürich hinter mir. Eine Gruppe chinesischer Touristen staunt und filmt mit ihrenHandys den Treppenaufstieg dieses technischenWunderwerks, hinter dem ein junges Team ehe-maliger ETH- und ZHdK-Studenten (ZürcherHochschule der Künste) steckt. Vor gut vier Jahren haben sich acht MaschineningenieurStudenten und zwei Designer zusammengetan und ihreLego-Kisten ausgepackt. Lego? Mithilfe der Plastikklötzchen haben sie Modelle gebaut und ka-men so zum Schluss, dass zwei grosse Räder undzwei Raupen die beste Lösung sind für einen trep-pengängigen Rollstuhl. Danach wurde währendneun Monaten getüftelt und gebaut, bis der erstePrototyp Scalevo stand oder besser rollte.

«Der Scalevo schaffte es die Treppe hoch, dochder Übergang am Ende war kritisch», erinnertsich Bernhard Winter, Chef von Scewo. Die Telefone liefen beim Start-up Sturm. Alle wollten eineProbefahrt. Angespornt vom Erfolg meldete dasTeam sich für den Cybathlon 2016 an, eine Meisterschaft für Mensch und Maschinen. Der Scalevo kam genau einen Meter weit…Danach warSchluss. Trotz dieses herben Rückschlags mach-ten die jungen Ingenieure weiter und gründetenschliesslich 2017 die Firma Scewo. Ihre Vision:Der Rollstuhl muss funktionieren, und wenn manihn betrachtet, müssen die Augen funkeln. Essollte ein Rollstuhl werden mit dem Coolness-Faktor eines Teslas.

Wie das innovative US-Elektroauto hat derschicke Scewo extrem viel zu bieten und sieht erstnoch besser aus. Die Raupen helfen nicht nur dieTreppen hoch – selbst in alte Eisenbahnwaggonssoll er es schaffen -, sondern auch auf rutschigemUntergrund. Gerade in Museen, aber auch in an-deren Alltagssituationen fühlt man sich als Roll-stuhlfahrer nicht auf der Höhe. Wer das Giraffen-Piktogramm im Ruhemodus des Scewo drückt,wird auf eine Sitzhöhe von 90 cm gehoben. So fm-det manche Konversation auf Augenhöhe stattund Exponate müssen nicht länger von unten be-gutachtet werden. Handkehrum lässt sich derSitzplatz auf 47 cm absenken, so dass man gut ineinem Restaurant «unter den Tisch» fahren kann.

Nebst diesen mechanischen Vorteilen lässtsich der Sitz auch individuell anpassen. Rücken-lehne und Fussstützen sind elektrisch verstellbar.Die Sitztiefe kann mechanisch angepasst werden.All diese praktischen Funktionen hat DesignerThomas Gemperle in eine schicke Schale gepackt,die mit leuchtenden Akzenten und LED-Schein-werfern ausgerüstet ist. Seine durchdachte Arbeitwurde 2018 mit einem Beazley-Design-Preis aus-gezeichnet.Zurzeit besteht die Möglichkeit, den Prototypin Zürich und in Winterthur Probe zu fahren. Da-für braucht man sich nur auf der Website scewo.ch anzumelden.

Auch wenn der Rollstuhl schonsehr ausgereift ist und durch viele Details wie eineWertsachentasche unter dem Sitz besticht, nochsteht die Serienproduktion vor der Mir. Damit solles Ende 2019 losgehen. Erste Bestellungen sindbereits eingetroffen, obschon der Kaufpreis mit CHF 35500.- nicht ohne ist. Wie weit dieser vonder W übernommen wird, ist noch offen. Dochdie eifrigen Tüftler von Scewo sind mit der Inva-lidenversicherung in Verhandlung, und die Aussichten für eine Vollübernahme des Kaufpreisessehen nicht schlecht aus. Voraussetzung ist natürlich, dass man einen Anspruch auf eine Treppen-steighilfe hat.Nach meiner Testfahrt bin ich froh, wiederauf meinen beiden Füssen zu stehen. Doch einenbesseren Wegbegleiter als diesen schnittigenRollstuhl kann ich mir nicht vorstellen, und diestaunenden Blicke der Besucherinnen und Be-sucher im Landesmuseum, als es rückwärts dieTreppe hoch ging, werde ich auch nicht so schnellvergessen.


Rückwärts undsicher geht esmit dem Proto-typ die Treppehoch.

 


DieSteuerung istübersichtlichund einfach zubedienen