Teilzeitfalle die andere Hälfte der Wahrheit

(Neue Zürcher Zeitung)

Gastkommentar
von SIMONE LEUENBERGER

Ich halte die monatliche Lohnabrechnung in den Händen. Während ich die Zahlen studiere, komme ich ins Sinnieren. Ein stattlicher Lohn ist es, den ich Monat für Monat verdiene. Etwas stolz bin ich schon darauf. Doch meine Gedanken gehen schnell weiter. Alter und Dienstjahre eingerechnet, bin ich mit meinem Lohn nicht einmal auf dem Niveau einer kaufmännischen Angestellten. Und ich habe doch einen Hochschulabschluss und arbeite auf meinem Beruf. Der Stolz weicht einer gewissen Ernüchterung. Ist es Traurigkeit oder doch eher Wut?

Infolge meiner Behinderung – ich habe eine Muskelkrankheit, bin deshalb auf den Elektrorollstuhl und persönliche Assistenz in allen alltäglichen Lebensverrichtungen angewiesen – arbeite ich nur 70 Prozent. Monat für Monat habe ich deswegen einen behinderungsbedingten Erwerbsausfall von mehreren tausend Franken. Diesen deckt keine Versicherung. Hinzu kommen die empfindlichen Lücken bei der Altersvorsorge.

Das sei Klagen auf hohem Niveau, mag man einwenden. Ja, ich kann mir glücklicherweise meinen Lebensunterhalt dank meiner guten Ausbildung und einer spannenden Arbeit mit meinem eigenen Einkommen verdienen. Es geht aber lange nicht allen Menschen mit Behinderungen so. Verschiedene Studien belegen, dass wir ein signifikant höheres Risiko haben, in Armut zu leben, als Menschen ohne Behinderungen. Das ist nicht erstaunlich, wenn wir uns das Sozialversicherungssystem einmal aus dieser Perspektive anschauen.

Wer aufgrund einer Behinderung einen Erwerbsausfall hat, hat Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (IV), ist die gängige Meinung. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit.

Man trägt den ganzen behinderungsbedingten Erwerbsausfall im Erwerbs- und auch im Pensionsalter als Zusatzbelastung selbst.

Der Erwerbsausfall muss beträchtlich sein, mindestens 40 Prozent. Wer, wie ich, mehr arbeiten kann, erhält keine IV-Rente und damit auch keine IV-Rente der Pensionskasse. Nicht einmal Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat man, da dieser an die IV-Rente gekoppelt ist. Auch die künftigen Rentenansprüche aus AHV und Pensionskasse werden empfindlich und mit langfristigen Folgen geschmälert. Man trägt den ganzen behinderungsbedingten Erwerbsausfall im Erwerbs- und auch im Pensionsalter als Zusatzbelastung selbst.

Das ist – nicht nur, aber ganz besonders – im Niedriglohnsegment problematisch. Zieht man Kosten für Miete und Krankenkasse ab, bleibt oft kaum genügend Geld übrig, um den Grundbedarf gemäss SkosRichtlinien (zurzeit 986 Franken) zu decken. Ganz zu schweigen vom disziplinierten Aufbau einer privaten Altersvorsorge.

Trotz allen begrüssenswerten Bemühungen um eine verstärkte Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt: Die Behinderung bleibt bestehen und kann nicht «wegintegriert» werden. Wo ein behinderungsbedingter Erwerbsausfall bleibt, darf er uns Menschen mit Behinderungen nicht zu hundert Prozent als Zusatzlast auferlegt werden – nicht im Wohlfahrtsstaat Schweiz. Es braucht Lösungen. Warum nicht eine Art «Behindertenzulage» schaffen in Anlehnung an die Kinder- und Ausbildungszulagen? Schliesslich ist eine Behinderung, genauso wie Kinder, mit zusätzlichen Kosten verbunden. Wir haben Mehrauslagen und Mindereinnahmen aufgrund unserer Behinderung.

Mit einer Behindertenzulage könnten diese etwas abgeschwächt werden, wir könnten unser Integrationspotenzial voll ausschöpfen und womöglich sogar ein klein wenig aufs Alter hin sparen. Der Absturz in die Teilzeitfalle könnte damit etwas abgefedert werden. Simone Leuenberger ist Gymnasiallehrerin und Mitarbeiterin bei Agile.ch, der Organisation von Menschen mit Behinderungen.