Typisch Asperger? Gibts nicht!

(tagesanzeiger.ch)

Warum unsere Autorin die Berichterstattung rund um Tesla-CEO Elon Musk’s Autismus-Diagnose verletzend findet.

von Marah Rikli

Tesla-CEO Elon Musk ist ein umstrittener Visionär. Er baut aktuell mit seinem Raumfahrtunternehmen SpaceX in Texas eine Raketenstation und will Menschen auf den Mars bringen. Sein Vermögen wird auf über 150 Milliarden Dollar geschätzt. Sicherlich ist ein kritischer Blick auf seine Person angebracht. Doch die Art und Weise, wie im Artikel: «Elon Musk sagt, er habe Asperger. Kann das sein?» der «Neuen Zürcher Zeitung» in Zusammenhang mit dem Milliardär im Allgemeinen über eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) berichtet wird, ist befremdend.

«Nie ohne uns, über uns!»

«Überall, wo man über uns redet oder bestimmt, wollen wir auch miteinbezogen werden», forderte 2017 Nationalrat und Pro-Infirmis-Vize-Präsident Christian Lohr mit seiner Interpellation an den Bundesrat. Dies sollte nicht nur in der Politik, sondern auch in Berichterstattungen ernst genommen werden. Eine Mutter, die selbst sowie ihre beiden Söhne von ADHS und ASS betroffen sind, sagt mir im Gespräch am Telefon: «Nie ohne uns, über uns». Im Artikel der «NZZ» kommt hingegen kein einziger Mensch im Autismus-Spektrum zu Wort.

«Asperger ist eine Art von Autismus. Und Autismus kommt in vielen verschiedenen Ausprägungen …», schreibt die Autorin. Im Text wird daraufhin anhand von stereotypen Beispielen das Spektrum erklärt, ein Psychiater kommt auch noch zu Wort. Doch Erklärungen bleiben oberflächlich und fachlich unerklärt.

Die wichtigsten ASS-Varianten:

Dabei wäre erst einmal wichtig zu wissen, welches die drei wichtigsten Varianten der Autismus-Spektrums-Störungen sind:

  • der Frühkindliche Autismus
  • das Asperger-Syndrom, auch hochfunktionaler Autismus genannt (HFA)
  • der Atypische Autismus

Forschungen zeigen, dass die Varianten häufig nicht klar voneinander abzugrenzen sind. Deshalb spricht man heute nicht mehr von dem Asperger-Syndrom sondern von Autismus-Spektrums-Störung(en) (ASS) mit fliessenden Übergängen. Die Ausprägungsformen reichen von milden bis hin zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen.

Typisch und untypisch Asperger?

«Typischerweise verhalten sich Asperger-Autisten im Beisein von anderen Menschen immer mal wieder unangebracht. Vielleicht sagen sie zur Nachbarin: ‹Jetzt hast du aber hässliche neue Vorhänge gekauft›», schreibt die Autorin weiter. «Typisch Asperger» erklärt sie so: «Sie mögen bisweilen unangemessen direkt, tollpatschig oder respektlos scheinen, aber sie investierten oft viel Energie, um Fettnäpfchen möglichst zu umgehen.» Und als «untypisch Asperger» bezeichnet sie Episoden in Musks Leben, in denen er viel umzog, neue Arbeitsstellen antrat und Flexibilität zeigen musste.

«Weg vom Schubladendenken, hin zu mehr Toleranz und Individualität.»

Betroffene erleben immer wieder, wie verbreitet ein solch einseitiges und verallgemeinerndes Bild von Autismus-Spektrum-Störungen ist. «Eine Lehrperson sagte mir in einem Elterngespräch, mein Kind könne gar keinen Autismus haben, es gebe mir ja zum Abschied schliesslich die Hand», erzählt mir eine Mutter. Das ist zermürbend und verletzend. Und sie fügt an: «Solche Berichterstattungen in den Medien verstärken diese Vorurteile immer wieder».

Dabei sind Menschen im ASS genauso vielfältig, wie neurotypische Menschen. Das schreibt nicht nur der Verein Autismus Deutsche Schweiz auf seiner Website. Sara Satir, Coach, Kolumnistin und selbst Mutter eines jungen Mannes im Spektrum, antwortet mir auf meine Frage hin, was Sie sich von Berichterstattungen wünschte: «Wenn du einen Menschen mit Autismus-Spektrum kennst, kennst du genau nur einen. Anstatt immer wieder aufs Neue Stereotype abzubilden, würde ich mir als Mutter eines Kindes mit Autismus-Spektrum wünschen, dass der Fokus mehr auf den einzelnen Bedürfnissen der betroffenen Menschen liegt. Weg vom Schubladendenken, hin zu mehr Toleranz und Individualität.»

Halbwissen über Therapien

«Um möglichst ‹normal› zu scheinen, besuchen sie Kurse, wo sie lernen, die Gefühle ihrer Mitmenschen auf eine individuelle Weise zu lesen…», schreibt die «NZZ» zur Hilfe für Menschen im ASS. Therapien und Seminare sindkein «Crash-Kurs»: Heilpädagogische Früherziehung, Ergo-, Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Physio-, Musik- und Hypotherapie geführt und begleitet durch Fachpersonen sind intensiv und verlangen von allen Beteiligten viel ab

Zudem brauchen nicht alle Menschen im ASS eine Therapie. Auch hier herrscht eine grosse Bandbreite. Sara Jonah Utopia (17) ist selbst autistisch und hat kürzlich das Buch veröffentlicht: «Wie es sich lebt» – eine Textsammlung über das Leben mit Autismus. In einem Brief an die «NZZ» schreibt Sara dazu: «Ich habe noch nie von solchen‹Kursen› gehört. Vielen von uns merkt man gar nicht an, dass wir neurodivers sind, da wir seit Jahren gelernt haben,wie die Gesellschaft will, dass wir uns verhalten».

Betroffene und Angehörige stehen unter Generalverdach

Diagnosen können und sollen kritisch hinterfragt werden – auch ich bin skeptisch, wenn beispielsweise kleine Kinder immer mehr und immer früher pathologisiert werden. Doch das Hinterfragen verlangt Achtsamkeit und Empathie. Indem er Musks ASS-Diagnose anzweifelt, zementiert dieser Artikel, was ich selbst immer wieder erlebe:die Diagnose meiner Tochter wird ohne Rücksicht auf unsere Gefühle infrage gestellt. Vielleicht ist doch die schlechte Erziehung oder ein ungesunder Lebensstil der Grund? Andere Betroffene erzählen mir, wie sie schon hörten, sie wollten sich mit ihrer Diagnose «wichtig» machen. Zudem stehen viele IV-Bezügerinnen unter Dauerbeobachtung oder in einer Beweispflicht, erleben eine gesellschaftliche Stimmung des Misstrauens.

«Mit der richtigen Therapie blühen Betroffene bisweilen auf. Von Elon Musk können sich wohl einige etwas abschauen. Und sei es nur der Wille, gewisse Menschen auf den Mars zu schiessen», schreibt die Autorin in ihrem Artikel weiter über ASS-Betroffene. Ich frage mich: Was will die Autorin damit sagen? Dass Menschen im ASS, wenn sie schon so sind, wie sie sind, mindestens etwas Besonderes leisten müssten, um gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten?

Sara Jonah stellt klar: «Nicht alle Menschen mit einer ASS machen eine Therapie. Nicht für alle ist dies nötig. Wir blühen auch sonst auf.» Und führt an: «Wir müssen uns nicht anpassen lernen, um leistungsfähig zu sein. Ich verstehe nicht, was ich mir von Elon Musk abschauen sollte. Wie wir Betroffenen mit unserem Autismus umgehen,ist uns allen selbst überlassen, es gibt keinen falschen, und keinen richtigen Weg dafür.»

Klein gehaltene Minderheiten

Es ist nicht neu, dass man Menschen aus sogenannten Minderheiten nicht für «voll» nimmt. Bedürfnisse von Queers beispielsweise werden von gewissen Medien, von Politikerinnen und Politikern immer wieder heruntergespielt und ins Lächerliche gezogen (Coming-Outs sind doch nur ein Trend).

Nun ist Elon Musk nicht ein Mensch, um den ich mich sorge: Er ist männlich, heterosexuell, weiss, reich und mächtig. Das legitimiert für mich jedoch nicht den verächtlichen Ton, der im Artikel mitschwingt, wenn die Autorin schreibt: In typisch amerikanischer Manier feiere das Publikum die Offenbarung, als wäre Asperger eine Auszeichnung. Und dabei gleich auch noch stereotype Männlichkeitsbilder bedient: «Ein harter Typ zeigt eine verletzliche Seite».

Sara Jonah Utopia bringt es auf den Punkt: «Was ist falsch daran, zu applaudieren, wenn ein Mensch sich traut, zusich zu stehen? Ein solcher Schritt braucht Mut. Klar ist eine Autismus-Spektrums-Störung keine Auszeichnung,jedoch auch keine ‹verletzliche Seite›. Sie ist ein Teil von jedem Menschen mit ASS – ein Teil, der zu diesem Menschen gehört, wie die Haare oder der Finger».


Machte seine Autismus-Diagnose jüngst publik: Elon Musk.Foto: Getty Images

 

Marah Rikli leitet eine Buchhandlung und ist freie Autorin und Journalistin. Sie ist in einer Patchworkfamilie mit sechs Geschwistern aufgewachsen und lebt heute mit ihrem Mann, ihrem Sohn (16) und ihrer beeinträchtigten Tochter (6) in Zürich.


Marah Rikli