Und plötzlich leitet man ein kleines Unternehmen

(Procap/Das Magazin)

 

Seit seiner Einführung 2012 nutzen zunehmend mehr Menschen mit Behinderungen den Assistenzbeitrag, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die neu gewonnene Freiheit ist zwar oft mit einem hohen administrativen Aufwand verbunden, doch verschiedene Organisationen bieten dafür Unterstützung.

Text Sonja Wenger Fotos Shutterstock

Für ein selbstbestimmtes Leben braucht es in der Regel zwei Dinge: die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie die Möglichkeit, diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Vielen Menschen mit Behinderungen wird jedoch oft bereits das Recht, selbst zu entscheiden, verwehrt. Und obwohl es für die meisten Menschen leicht ist, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele zu formulieren, sehen sich Personen mit Handicap bei der Umsetzung häufig mit hohen Hürden konfrontiert: wenn sie etwa in einem Wohnheim leben, in dem sie sich den Regeln einer grossen Gemeinschaft unterordnen müssen; oder wenn sie zwar genau wissen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, aber im Alltagnicht die Hilfe erhalten, die sie dazu brauchen.

Aus diesen Gründen ist für viele Menschen mit schweren Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben in der Form, wie es in der UNO-Behindertenrechtskonvention definiert wurde, kaum erreichbar. Trotzdem haben in den vergangenen Jahren immer mehr Personen mit unterschiedlichen Handicaps den Schritt in ein selbstbestimmtes Leben gewagt.


Arbeitsverträge, Lohnzahlungen und Einsatzpläne: Die Organisation
ihrer Assistenzpersonen übernehmen die Betroffenen selbst.

 

Suchen, ausbilden, verwalten …

Wesentlich vereinfacht wurde ein solcher Schritt durch die Einführung des Assistenzbeitrags Laut der aktuellen IV-Statistik des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) bezogen Ende 2020 rund 3400 Personen einen Assistenzbeitrag. Dieser Beitrag kann ausschliesslich für die Anstellung von Assistenzpersonen verwendet werden. Er ermöglicht Menschen mit Handicap erstmals eine selbst definierte Autonomie, damit sie ihr Leben ausserhalb eines Wohnheims gestalten und am Leben genauso teilhaben können, wie das für Menschen ohne Behinderungen selbstverständlich ist.

Die gewonnene Freiheit bedeutet für die Betroffenen, dass sie zur Arbeitgeberin oder zum Arbeitgeber werden. Der Grund: Ein Assistenzbeitrag ermöglicht es, die benötigte Hilfe zur Bewältigung des Alltags oder zur Ausübung eines Berufes zu bezahlen. Die Organisation dieser Hilfe übernehmen die Betroffenen selbst. Dies bedeutet, sie dürfen Angestellte suchen, führen und auch ausbilden. Und sie koordinieren Arbeitsverträge, Lohnzahlungen und Einsatzpläne.Nicht alle fühlen sich diesen Aufgaben gewachsen oder bringen das notwendige Vorwissen mit. Allerdings ist in den letzten Jahren das Angebot für Beratung und Unterstützung stark ausgebaut worden.

Eine starke Stimme aufbauen

Wie wichtig Beratung, Informationsvermittlung und Vernetzung sind, hat sich vergangenes Jahr zu Beginn der Corona-Pandemie besonders deutlich gezeigt. Simone Leuenberger von InVIEdual, dem Arbeitgeber*innenverband von Assistenznehmer *innen, erinnert sich im Gespräch mit Procap: «Damals wurden schnell Schutzmassnahmen für Angestellte eingeführt wie etwa die Maskenpflicht und die Vorgabe, Abstand zu halten. Abstand halten ist für Assistenzpersonen aber nicht möglich. Und zu Beginn erhielten nur Institutionen Zugang zum Schutzmaterial.» Das habe Menschen, die auf Assistenzpersonen angewiesen seien, vor beinahe unlösbare Probleme gestellt. Für ihre speziellen Bedürfnisse und Anliegen hätten sie damals kaum Gehör gefunden. «Das hat uns gezeigt, dass die Betroffenen selbst eine Stimme brauchen», sagt Leuenberger.

Entsprechend liegt der Fokus von InVIEdual auf der Interessenvertretung für seine Mitglieder. «Natürlich muss es für Assistenzpersonen definierte Rechte und Pflichten geben», sagt Leuenberger. «Doch oft führen gesetzliche Vorschriften dazu, dass das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt wird.» Dabei geht es beispielsweise um vorgeschriebene Ruhezeiten oder um das Verbot, zwischen 23 Uhr und 6 Uhr normale Arbeitseinsätze zu leisten. Auch die Entschädigung der Präsenzzeit von Assistenzpersonen etwa bei einer Ferienbegleitung ist problematisch. «Mit dem Assistenzbeitrag können diese Vorgaben leider nicht finanziert werden», sagt Leuenberger. «Es braucht deshalb Lösungen, die die Interessen von Menschen mit Behinderungen und Assistentinnen gleichermassen berücksichtigen. InVIEdual setzt sich dafür ein, dass unsere Anliegen als Arbeitgeber *innen von Assistenz- personen nicht vergessen gehen.»

Suche nach Assistenzpersonen vereinfachen

Vernetzung und Interessenvertretung sind eine Sache. Hierfür finden sich auf dem Netz viele und gut aufgebaute Websites mit Informationen zu rechtlichen und administrativen Fragen. Sehr wichtig sind aber auch spezialisierte Jobplattformen. Zu diesem Zweck hat der 2019 gegründete Förderverein CleA im März dieses Jahres eine erste, kostenlose Beta-Version einer Jobplattform in Betrieb genommen. Sie vernetzt Menschen, die Assistenzpersonen suchen, mit jenen, welche diese Dienste anbieten möchten. Bis Ende Jahr solldie Plattform auch auf Französisch zur Verfügung stehen.

Fabienne Locher von der Geschäftsleitung von CleA bezeichnet die Plattform gerne als «Tinder für Assistenznehmende und Assistenzgebende». Im Gespräch mit Procap zieht sie eine erste Bilanz. «Dank einem klaren Filtersystem bei der Registrierung finden sich nun Suchende und Anbietende sehr viel schneller.» Ziel von CleA ist es, den administrativen Teil der Assistenzsuche zu vereinfachen, bei dem viele Betroffene bisher auf sich selbst gestellt waren. «Unsere Plattform ist ein digitales Hilfsmittel, das viele Menschen breit gefächert vernetzt», sagt Locher. «Zwar ist es noch nicht das fertige Produkt, und es gibt noch viel weiterzuentwickeln. Doch bereits heute bietet die Plattform einen grossen Mehrwert.

Hochindividuelle Arbeit

Wer sich für einen Assistenzbeitrag interessiert oder Assistenzpersonen sucht, dem steht inzwischen ein grosses Informationsangebot zur Verfügung. Noch im Aufbau befindet sich hingegen das Berufsbild der Assistenzperson. Zwar bieten Fachhochschulen bereits vereinzelt Weiterbildungsmöglichkeiten an. Doch bei InVIEdual wie auch bei CleA werden die Vorteile hervorgehoben, wenn diese Tätigkeit von Quereinsteiger*innen ausgeführt wird. «Ich verstehe, dass man sich oft einen Rahmen für die Tätigkeit wünschen würde», sagt Fabienne Locher. «Aber Assistenzarbeit ist hochindividuell.» Und auch Simone Leuenberger weiss, dass «viele Betroffene es bevorzugen, ihre Assistenzpersonen selbst anzulernen». Dies ermöglicht mehr Freiheiten, als wenn jemand mit einer pflegerischen oder sozialpädagogischen Ausbildung die Arbeit nur nach den erlernten Regeln leisten möchte.

Beide halten jedoch die Option einer Weiterbildung im Bereich der Einstellung von Assistenzpersonen sinnvoll. Grundsätzlich müsse es das Ziel einer Assistenzperson sein, einem Menschen mit Handicap ein Leben zu ermöglichen, welches für Menschen ohne Handicap normal oder selbstverständlich sei


Rund um den Assistenzbeitrag

Die Sozialversicherungsstellen von Procap beraten Sie gerne bei Fragen zum Assistenzbeitrag. Bitte wenden Sie sich an Ihre lokale Sektion.

Weiterführende Informationen (Auswahl)
InVIEdual, Verein zur Interessensvertretung von
Menschen mit Behinderungen, die Assistenzpersonen
anstellen: www.inviedual.ch

Verein Assistenzbüro ABü: www.assistenzbuero.ch
CI6A, Jobplattform für Assistenzpersonen mit
vielen Zusatzinformationen. Web: clea.app

Kreisschreiben des BSV über den Assistenzbeitrag:
https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6394
Broschüre «Assistenzbeitrag der IV»:
https://www.ahv-iv.ch/p/4.14.d

www.proinfirmis.ch Rechtsratgeber Assistenz Jobplattformen (Auswahl)

clea.app
«Assistenzbörse Schweiz» auf Facebook

www.assistenzbuero.ch > Inserate

Quitt, für die Registrierung und Verwaltung von
Haushaltshilfen; auf Deutsch, Französisch und
Englisch: www.quitt.ch

Vernetzung und Austausch

Serie «Souverän» von Procap Bern noch bis Ende
Oktober; auf Deutsch: www.procapbern.ch >
Aktuelles > Neue Onlineserie «Souverän – Leben
zu Hause»

Online-Serie «Absolut persönlich – Der etwas
andere Job» des Fördervereins CläA. Die Serie
richtet sich speziell an Assistenzpersonen oder
Menschen, die an dieser Tätigkeit interessiert sind;
auf Deutsch. Ab Ende August 2021 bis Mai 2022.
Weitere Informationen:
www.clea.app/absolut-persoenlich.