Unsichtbare Behinderung

(Schaffhauser Bock)

Im Kanton Schaffhausen leben rund 70 hörbehinderte Menschen.


Zwei gehörlose Frauen, zwei unterschiedliche Lebensgeschichten, ein ähnliches Schicksal: Doris Hermann (l.) und Manuela Tomasevic wollen die Schaffhauser Gesellschaft und Behörden für die Anliegen der Gehörlosen sensibilisieren. Bild: Jurga Wüger

 

Für die Gehörlosen in der Region hat sich trotz der Ratifizierung der Uno-Be­hin­dertenrechtskonvention durch die Schweiz wenig geändert.
Autor: Jurga Wüger

Am 15. April 2014 hat die Schweiz als 144. Staat die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Schon seit 2004 gilt hierzulande zudem das Behindertengleichstellungsgesetz. Manuela Tomasevic, Vizepräsidentin Verein Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen (GGS), und Doris Hermann, GGS-Mitglied, sprechen offen über Erfahrungen von Gehörlosen im Alltag und darüber, wie wenig sich seit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention im Kanton Schaffhausen geändert hat.

Die Schaffhauserin Doris Hermann ist Sozialpädagogin, Manuela Tomasevic gelernte Konditorin-Confiseurin und Mutter von drei Kindern. Doris Hermann ist, wie ihre Familie auch, seit der Geburt gehörlos. Manuela Tomasevic wurde vermutlich durch eine Standardimpfung in Deutschland in ihrem ersten Lebensjahr taub. «Nach der Impfung habe ich viel geweint und mir ständig die Ohren gerieben», erzählte ihr die Mutter später. Ihre Eltern und Geschwister sind alle hörend.

Die Hauptinformationsquelle für Hörbehinderte im Kanton Schaffhausen ist die Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen (GGS). Der Verein entstand 1994 aus dem Zusammenschluss des Schaffhauser Vereins für Gehörlosenhilfe (Fachhilfe) und des Gehörlosenvereins Schaffhausen (Selbsthilfe). Im Kanton Schaffhausen leben rund 70 Hörbehinderte, die GGS zählt derzeit 38 Mitglieder im Alter von 44 bis 97 Jahren. Die Mitglieder kommen aus Schaffhausen und den umliegenden Kantonen.

Seit 2014 sei es im Kanton Schaffhausen «nicht viel besser, aber anders geworden», sagen Manuela Tomasevic und Doris Hermann. Gleichstellungsgesetz mit Informationsfreiheit klinge zwar gut, nur zeige sich im Alltag ein anderes Bild. Doris Hermann nennt ein paar Beispiele, wo Verbesserungen erwünscht sind: «Rollstuhlgängig sind die meisten Neubauten. Auch das neue Polizeigebäude in Beringen. Nur an die unsichtbare Behinderung wurde nicht gedacht.» Denn ihnen nütze ein Notfallknopf mit Gegensprechanlage ohne Videokamera wenig. Auch das grosse Schaffhauser Kino in Herblingen verzichte bis heute auf Untertitel. Die GGS-Mitglieder würden daher für einen Kinoabend nach Winterthur oder Zürich fahren. Ebenso habe der lokale Fernsehsender seine Hausaufgaben bei den Untertiteln noch nicht gemacht. Das Schaffhauser Stadttheater sei da schon fortschrittlicher und biete für einzelne Vorstellungen Dolmetschende für Gebärdensprache auf.

Der diskriminierungsfreie Zugang zu den Gesundheitssystemen sei ebenso nicht gewährleistet: Beispielsweise ist die Generation 50 plus oft traumatisiert und bekommt keine Möglichkeit, direkt mit einem Psychologen diese Erlebnisse zu verarbeiten. Mitarbeitende in der Spitex wüssten zum Teil nicht, wie sie mit gehörlosen Patienten umzugehen hätten. Wichtige medizinische Referate würden ohne Verdolmetschung abgehalten. «Vorträge zum Beispiel über Krebs oder Alterswohnen würden aber viele von uns interessieren», sagt Manuela Tomasevic. Die Kosten für eine Verdolmetschung müsste die Gemeinde tragen, dafür sei ein Budget vorgesehen. «Wir zahlen genauso viele Steuern wie die Hörenden, müssen aber bei den Gegenleistungen Abstriche machen», erklärt Doris Hermann.

Sensibilisierung der Behörden

Der Verein GGS wird jetzt erneut aktiv und geht auf eine Sensibilisierungstour durch die Schaffhauser Behörden. Dafür wurde ein Antrag bezüglich Finanzierung an den Schweizerischen Gehörlosenbund gestellt. Betreut und umgesetzt wird das Projekt durch Doris Hermann: «Vielen Staatsangestellten ist es gar nicht bewusst, dass ein gehörloser Mensch das Recht auf einen Dolmetscher hat, den das Amt organisieren und bezahlen muss.» Einige Amtsmitarbeitende würden sogar die Bitte «Könnten Sie es mir aufschreiben?» ablehnen. Aus Überforderung, vermutet Manuela Tomasevic. Auch, dass man mit Gehörlosen besser Hochdeutsch spricht, werde oft vergessen. Dabei könnte jede Behörde die Grundlagen der Gebärdensprache als Weiterbildungsangebot für ihre Angestellten anbieten.

Die Gehörlosen fanden durch das Gleichstellungsgesetz zu mehr Selbstbewusstsein und nehmen in der heutigen Zeit nicht mehr alles klaglos hin. Doris Hermann erinnert sich an ihre Kindheit zurück: «Meine Eltern mussten vieles akzeptieren, zu allem Ja und Amen sagen. Das hat mich als Kind sehr wütend gemacht, und ich habe mir geschworen, diese Unverschämtheiten in meinem Leben nicht hinzunehmen.» Doch es kam anders.

Affensprache und Diebessprache

Doris Hermann landete im Jahr 1967 in der berüchtigten Taubstummenschule in St. Gallen. Sobald sie gebärdete, setzte es Schläge. Missbrauch, Gewalt, Erniedrigungen und Psychoterror waren an der Tagesordnung. Musste sie sich übergeben, wurde sie gezwungen, alles zu reinigen und so lange vor dem Bett zu stehen, bis die Erzieherin ihr erlaubte zu schlafen. Oft stand Doris Hermann die ganze Nacht vor ihrem Bettchen, weil die Erzieherin sie vergessen hatte. Die Gebärdensprache wurde damals als Affensprache oder als Diebessprache verhöhnt. In Europa war sie über 100 Jahre lang verboten. Das Verbot basierte auf einem pädagogischen Entscheid, der im Jahr 1880 in Mailand gefällt worden war. Der tiefe Graben zwischen Hörenden und Gehörlosen – die grosse Problematik auch heute noch – ist auf dieses Verbot zurückzuführen. Erst seit 1985 wird in der Schweiz eine Dolmetscherausbildung angeboten (der «Bock» berichtete am 29. Januar über Corinne Leemann).

Fettnäpfchen und Wissenslücken

Bei der Frage, in welche Fettnäpfchen die Hörenden schon getreten seien, müssen die beiden Frauen nicht lange überlegen: Es hagelt Geschichten. Vor knapp zehn Jahren wurde zum Beispiel ein Gehörloser im Kanton verhaftet, weil seine Gehörlosigkeit nicht erkannt wurde. Bis heute ist der unschuldige Mann schwer traumatisiert. «Gehörlos ist nicht gleich dumm, obwohl viele genau dies glauben», so die beiden Frauen. Auch in der Politik hätten Gehörlose von Gesetzes wegen das volle Mitspracherecht, aber der Informations­fluss stocke.

Es sei auch falsch, Hörende und Gehörlose auf zwei verschiedenen Seiten der Barrikaden kämpfen zu lassen. «Für eine gute Lösung braucht es ein Miteinander und Bereitschaft, aufeinander zuzugehen», so Doris Hermann und Manuela Tomasevic. Doch auch hier zeige die Erfahrung, dass wenn die Gehörlosen immer wieder einen Schritt auf die Hörenden zugehen, viele Hörende oft einen Rückzieher machen würden: aus Unsicherheit, Angst, oder gar Missachtung.

«Es braucht einen Abbau von Vorurteilen, denn in erster Linie bin ich ein Mensch und möchte nicht auf meine Behinderung reduziert werden», so Manuela Tomasevic. «Und die Eingliederung von Gehörlosen fängt in den Köpfen an», ergänzt Doris Hermann.