Unterstützung erwünscht

(Grosseltern magazin)


«Weil die Grenzen des Wohlfahrtsstaates zunehmend sichtbar sind, werden die Generationen-beziehungen als Unterstützungssysteme immer wichtiger» „

 

Wer das hübsche Einfamilienhaus der Familie Widmer bei Bern zum ersten Mal betritt, gewinnt den Eindruck, hier würden zwei Kinder wohnen. Im ehemaligen Zimmer ihrer Tochter Simone hat Anna Widmer (64) liebevoll einen Schlafraum für ihre beiden Enkel Elias (2,5 Jahre) und Noa (6 Monate) eingerichtet.

«Nach der Geburt des ersten Enkels hat unsere Tochter immer von Montag auf Dienstag hier mit ihm übernachtet. um abends ihren Sprachunterricht geben zu können», erzählt die 64-Jährige.» Mittwochnachmittags sind beide Grosseltern zur Tochter gefahren. Donnerstags und freitags hat der Grossvater den Hütedienst alleine übernommen. «Wir wollten unserer Tochter die Doppelbelastung, die eine berufstätige Mutter von zwei Kindern zuweilen erlebt, ersparen. Und wir wollten und ihr ermöglichen, dass sie ihre Söhne nicht bereits jetzt in die Kita geben muss.»

«DAS WOLLTE ICH IHM NICHT ZUMUTEN»

Doch dies war nicht die einzige Aufgabe, die Anna Widmer neben ihrem 100-Prozent-Pensum als Lehrerin vor zwei Jahren schulterte. Damals stürzte ihre Mutter in ihrem 35 Kilometer entfernten Eigenheim und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Nach dem Spitalaufenthalt musste die 87-Jährige zur Reha an den Thunersee. Da ihr 93-jähriger Vater in dieser Zeit nicht alleine zu Hause bleiben konnte, nahm Anna Widmer ihn für sechs Wochen bei sich auf. »Um diese Zeit zu überbrücken, hätte mein Vater sonst ein Ferienbett in einem Heim benötigt, und dies wollte ich ihm nicht zumuten.» Die Situation spitzte sich weiter zu, als ihre Mutter. ausgelöst durch den langen Heilungsprozess, an Depressionen litt. Anna Widmer besuchte sie im Wechsel mit ihren drei Geschwistern deshalb mindestens einmal die Woche in der Reha. Parallel ging ihr Mann Beat zu diesem Zeitpunkt in Pension und sie mussten gemeinsam zahlreiche Dinge organisieren. «In dieser Zeit bin ich manchmal am Rand gelaufen», erinnert sich Anna Widmer. Ein Jahr später starb ihr Vater in seinem Haus. »Jetzt, im Nachhinein, möchte ich diese intensive, gemeinsame Zeit mit ihm nicht mehr missen. Auch wenn mich die damalige Situation an die Grenzen meiner Belastbarkeit gebracht hat.» Beide Betreuungsaufgaben neben ihrer Berufstätigkeit zu übernehmen, war für Anna Widmer jedoch nur möglich, weil sie als Lehrerin einen Teil ihrer Arbeit auch noch abends erledigen konnte und sich die Geschwister die Unterstützungsaufgaben für die Mutter aufteilten.»

BOHNENSTANGENFAMILIEN

Die längere Lebenserwartung, der Wunsch, bis ans Lebensende im eigenen Haus zu bleiben und möglichst nicht von fremden Personen betreut zu werden, bringen neue Solidaritätserwartungen», erklärt die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello. In den sogenannten Bohnenstangenfamilien teilen sich drei bis vier Generationen eine längere gemeinsame Lebensspanne, haben aber gleichzeitig weniger Kinder und Enkel. Das heisst Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen sind in viel geringerer Anzahl als noch vor 50 Jahren vorhanden. »Weil die Grenzen des Wohlfahrtsstaates zunehmend sichtbar sind, werden die Generationenbeziehungen als Unterstützungssysteme jedoch immer wichtiger», betont die emeritierte Professorin. Deshalb müssten sie durch eine gezielte Politik gefördert werden. Nach dem Bundesamt für Statistik (BFS) haben die Grosseltern in der Schweiz im Jahr 2016 rund 160 Millionen Betreuungsstunden geleistet und damit einen volkswirtschaftlichen Wert von 8,1 Milliarden Franken erbracht.

UNTERSTÜTZUNG ZURÜCKGEBEN

Als Anna Widmer mit 32 Jahren ihre Tochter Simone bekam, arbeitete sie zunächst mit einem 80-Prozent-Pensum weiter. Später reduzierte sie auf 50 Prozent und ihr Mann auf 80 Prozent. Jeweils am Mittwochvormittag übernahm ihre Mutter die Betreuung der Enkelin. «Auf meine Mutter konnte ich mich immer verlassen, auch wenn zusätzlich Hilfe nötig war», so Anna Widmer. Sie habe oft zu ihr gesagt:» Beiss dich durch, du hast die Chance, deine Lehrerstelle beizubehalten». erinnert sich Anna Widmer. Als später ihr Sohn Klaus auf die Welt kam, übernahm ihr Vater dessen Betreuung. Dafür nahm die Familie die Grosseltern mit in die Ferien. «Diese Unterstützung möchte ich meiner Mutter heute zurückgeben.»


«Diese Unterstützung möchte ich meiner Mutter heute zurückgeben.»

ARMUTSFALLE ANGEHÖRIGENPFLEGE

Das Engagement der pflegenden Angehörigen hat für diese selbst häufig negative gesundheitliche und finanzielle Auswirkungen. Gemäss einer Studie von Age Care Suisse Latine von 2011 weisen sie als «hidden patients» einen höheren Medikamentenkonsum und mehr Arztbesuche als gleichaltrige Personen auf. und viele fühlen sich chronisch belastet. 18 Prozent der weiblichen pflegenden Angehörigen reduzieren ihr Arbeitspensum, 16 Prozent geben ihren Job ganz auf und 5 Prozent lassen sich frühzeitig pensionieren. Von den männlichen pflegenden Angehörigen müssen rund 20 Prozent berufliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Neben den Einkommenseinbussen schmälern diese Personen zudem ihre eigene Altersvorsorge. Somit laufen sie Gefahr. nach ihrer Pensionierung in die Altersarmut abzurutschen und Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. «Ich erwarte kein Aufrechnen der Stunden. aber wer seine Angehörigen pflegt und gezwungen ist, dafür seine berufliche Tätigkeit zu reduzieren oder gar ganz aufzugeben, sollte dafür nicht in seiner Rente bestraft werden», fordert Anna ‚Widmen

AKTIONSPLAN DES BUNDESRATS

In den letzten Jahren wurden zahlreiche parlamentarische Initiativen beim Bundesrat eingereicht, um pflegende Angehörige finanziell und zeitlich zu entlasten. Daraufhin hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine schweizweite Bestandesaufnahme der Betreuungszulagen und Entlastungsangebote durchführen lassen. Auf dieser Basis erstellte der Bundesrat im Dezember 2014 einen «Angehörigenbericht» sowie einen «Aktionsplan zur Unterstützung von betreuenden und pflegenden Angehörigen». Seit Ende Juni 2018 liegt die Vernehmlassungsvorlage für einen Gesetzesentwurf vor. Der Bundesrat will mit drei Massnahmen die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuung von Angehörigen verbessern:

1 Erstens sieht der Entwurf vor, dass Arbeitnehmer das Recht auf eine kurzzeitige, bezahlte Arbeitsabwesenheit von drei Tagen pro Ereignis erhalten sollen, wenn Verwandte oder nahestehende Personen erkranken oder verunfallen. Zahlreiche Unternehmen kennen eine solche Regelung bereits. doch längst nicht alle. Der Bund rechnet mit Mehrkosten von 90 bis 150 Millionen Franken pro Jahr, welche die Unternehmen zu tragen hätten.

2 Zweitens soll für Eltern mit einem gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kind ein Betreuungsurlaub von maximal 14 Wochen eingeführt werden, den sie innerhalb von 18 Monaten beziehen können. Die Kosten von 77 Millionen Franken würden durch eine minimale Erhöhung der Lohnabzüge zugunsten der Erwerbsersatzordnung von allen Berufstätigen mitfinanziert.

3 Und die dritte Massnahme schliesslich betrifft die bestehenden Betreuungsgutschriften für die AHV: Anspruchsberechtigt wären neu auch unverheiratete Lebenspartner. wenn diese bereits fünf Jahre in einem gemeinsamen Haushalt leben. Der Kostenpunkt hierfür liegt bei einer Million Franken. Alle diese Massnahmen tragen dazu bei, das inländische Potenzial an Fachkräften besser ausschöpfen zu können, weil pflegende Angehörige durch die Entlastung weiterhin am Arbeitsprozess teil haben könnten, argumentiert der Bundesrat. Zudem werden die Pflegekosten gesenkt, weil Heimeinweisungen beträchtlich verzögert werden können und weniger externe Betreuungsleistungen benötigt werden. Damit entlasten die Angehörigen das staatliche Gesundheitssystem und sparen Kosten für die gesamte Gesellschaft. Ausserdem führt das Zusammenspiel von ambulanten Pflegedienstleistern und Angehörigen zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Pflegbedürftigen und ermöglicht ihnen ein selbstbestimmtes Leben. «Pflegende Angehörige sind eine unschätzbare Unterstützung für die Gesellschaft als Ganzes. Und dieses Engagement verdient Anerkennung. Nicht nur Worte». betonte Bundespräsident Alain Berset kürzlich im Fernsehen SRF.

EIN TROPFEN AUF DEN HEISSEN STEIN

Bei näherer Betrachtung sind die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen zwar «insgesamt zu befürworten, aber nicht ausreichend», meint die Nationale Interessengemeinschaft für betreuende und pflegende Angehörige, die sich im Juni dieses Jahres aus Vertretern der Krebsliga Schweiz, Pro Infirmis, Pro Senectute, des Schweizerischen Roten Kreuzes und Travail.Suisse zusammengeschlossen hat. Den Gründungsmitgliedern haben sich mittlerweile zwölf weitere Organisationen angeschlossen. Kritisiert wird insbesondere das Fehlen von Betreuungszulagen sowie eines Erholungsurlaubs für alle betreuenden und pflegenden Angehörigen. «Betroffene brauchen Freiräume, in denen sie sich ohne schlechtes Gewissen regenerieren können», so Pasqualina Perrig-Chiello. Angehörige sollten einen Anspruch auf Ferienbetten und intermediäre Tagesstrukturen haben. Ebenfalls kritisch zurVorlage geäussert haben sich bereits der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) sowie die Vorstände der Konferenzen der kantonalen Sozial- (SODK) sowie der Gesundheitsdirektoren (GDK). Sie «begrüssen die Stossrichtung der Vorlage», halten sie jedoch in einigen Punkten für «zu minimalistisch»: Der entschädigte Betreuungsurlaub sei nur für die Betreuung von minderjährigen Kindern durch ihre Eltern vorgesehen. SODK und GDK bezeichnen diese Ausschlussbestimmungen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme als «inkohärent» und verlangen daher, eine Ausweitung des Betreuungsurlaubs auf engste Familienmitglieder sei zu prüfen. Zudem sollte untersucht werden, ob dieser auch als unbezahlter Urlaub gewährt werden könnte. Gemäss dem erläuternden Bericht des Bundesrates zur Gesetzesvorlage erfordern längere und schwere Krankheitssituationen, wie etwa bei krebskranken Kindern, Abwesenheiten von 64 Wochen. Daher schlägt der SGB eine bis zu einjährige Beurlaubung vor, die auf 26 Wochen je erwerbstätigen Elternteil aufgeteilt werden könnte, respektive 52 Wochen für Alleinerziehende. Die Vorstände von SODK und GDK be-zeichnen es als» gesellschaftspolitischen Fortschritt». dass die bezahlte, kurzzeitige Arbeitsabwesenheit nun gesetzlich auch für die Betreuung von volljährigen Verwandten, faktischen Lebenspartnern und nahestehenden Personen gewährt wird. Die Organisation von Unterstützungsangeboten nach einem akuten Krankheitsfall. nach der Heimkehr vom Spitalaufenthalt oder nach einem Umzug sowie wichtige Arzttermine etwa benötigen jedoch Zeit. und viele Betreuende leben nicht am gleichen Ort wie ihre Angehörigen.»Drei Tage sind da ein Tropfen auf den heissen Stein», erklärt Perrig-Chiello. Der Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) fordert daher eine Arbeitswoche für kurzzeitige Absenzen. Im Zweifelsfall sollte zumindest der Anspruch für Alleinerziehende auf fünf Tage verlängert werden. Valerie Borioli Sandoz, Mitglied der Direktion und Leiterin Gleichstellungspolitik von Travaile. Suisse. weist daraufhin. dass es wichtig sei. wie das Ereignis für die kurzzeitige bezahlte Abwesenheit definiert werde:» Sollte dies offen gelassen werden. wird jeder Betrieb dies individuell und situativ handhaben, wodurch letztlich die Mitarbeitenden trotz eigentlicher Rechtssicherheit wieder vom Goodwill des Arbeitgebers abhängig sind.»

BEDARFSGERECHTE, INDIVIDUELLE LÖSUNGEN

Der Arbeitgeberverband der Banken Schweiz lehnt die Vorschläge für kurzfristige Absenzen ab. da die gesetzlichen Grundlagen bei der Erkrankung von Angehörigen bereits »ausreichend geregelt» seien. Der Betreuungsurlaub bei schwerer Erkrankung von Kindern hingegen sei zu starr und werde der Problematik nicht gerecht. Der Verband setzt auf »bedarfsgerechte. individuelle Lösungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern».

80 MILLIONEN UNBEZAHLTE ARBEITSSTUNDEN

Die Situation von Anna Widmer ist kein Einzelfall Wie die Swiss-Age-Care-Studie 2010 zeigt, verbringt nur jede funfte Person ihren Lebensabend in einem Alters- und Pflegeheim Die grosse Mehrheit der alteren Menschen wird durch ihre Angehorigen betreut Gefordert sind dabei vor allem deren Partnerinnen und Partner in hoherem Alter oder die erwachsenen Kinder, die durch Familie und Beruf selbst stark beansprucht sind Im Jahr 2016 leisteten in der Schweiz rund 300 000 Erwerbstatige unbezahlte Arbeit fur hilfs- und pflegebedurftige nahestehende Personen, so das Bundesamt fur Statistik (BFS) Dabei erbrachten sie insgesamt 80 Millionen unbezahlte Arbeitsstunden Das entspricht einem Geldwert von 3,7 Milliarden Franken pro Jahr Angesichts der wachsenden Anzahl alterer Menschen, der Zunahme Kinderloser und der stetig steigenden Erwerbsquote bei den Frauen rechnet das BFS mit einem Anstieg der Pflegeausgaben auf 17,8 Milliarden Franken bis 2030

«In den köpfen der Bevölkerung und der politik ist Care-Arbeit noch eine reine Privatsache. es gilt jedoch, sie öffentlich zu machen»

Zudem findet er die organisatorischen Herausforderungen für die Prüfung der Anspruchsbedingungen sowie die Erhöhung der Lohnnebenkosten durch die zunehmende Anzahl an Ge- setzesprojekten zur verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Care-Arbeit problematisch. Dadurch drohe insgesamt ein Anstieg der Lohnnebenkosten von deutlich über einem Prozent. was für die Konkurrenzfähigkeit des Arbeits- und Werkplatzes Schweiz keine gute Entwicklung sei. »In zehn Jahren werden Betriebe. die pflegende Angehörige unzureichend unterstützen, von starken Fluktuationen betroffen sein», prognostiziert aber Pasqualina Perrig-Chiello. «Dann werden sie handeln müssen, momentan verschliesst man davor jedoch noch die Augen.»

«DIE SANDWICH-GENERATION IST EIN FAKT»

Die geplanten Änderungen zu den Betreuungsgutschriften werden durchgängig von allen Organisationen begrüsst, die bereits ihre Stellungnahme abgegeben haben. Doch auch bei dieser Massnahme finden sich Lücken im Detail. Laut einer Studie des Soziologen Franwis Höpflinger leben 37 Prozent aller Grosseltern als Folge von Migration und Mobilität weit weg von ihrer Familie. Da ihre Angehörigen als sogenannte «Distant Care-Givers» somit mehr als 30 km oder eine Stunde entfernt leben, werden ihre Unterstützungsleistungen bei den Betreuungsgutschriften nicht berücksichtigt. Und dies obwohl wissenschaftliche Studien belegen, dass sie wertvolle Hilfestellungen erbringen. «Wir leben in einer mobilen Gesellschaft», betont Valerie Borioli Sandoz. «Die leichte Erreichbarkeit als Anspruchskriterium muss daher gestrichen werden.» Bei den pflegenden Angehörigen handelt es sich hauptsächlich um Frauen in der mittleren Lebensphase. Besonders betroffen sind gemäss dem Bundesamt für Statistik die 55- bis 64- Jährigen: 3,6 Prozent von ihnen nehmen zwei oder drei Care-Aufgaben gleichzeitig wahr. Die »Sandwich-Generation ist ein Fakt». so Pasqualina Perrig-Chiello. Wenn die Baby-Boomer älter werden, kommen zukünftig immer mehr Personen in die Situation, dass sie noch für minderjährige Kinder sorgen müssen oder bereits Enkel haben und sich gleichzeitig um ältere Angehörige kümmern. Dennoch sieht das Bundesgesetz über die Altersund Hinterlassenenversicherung keine Möglichkeit zur Kumulierung von Erziehungs- und Betreuungsgutschriften vor.» Diese Regelung geht an der Realität vorbei», betont die Entwicklungspsychologin. Das fiktive Einkommen,das für die AHV-Rente angerechnet wird und die Einschränkung der Erwerbstätigkeit durch die Angehörigenbetreuung ausgleichen soll, ist sehr tief. Es ist auf das Dreifache der jährlichen AHV-Minimalrente, derzeit 42 300 Franken. festgelegt.

FEHLENDE FINANZIELLE MITTEL

Rund 70 Prozent aller Unterstützungsleistungen, die kranke und betagte Menschen benötigen. sind nichtpflegerische Leistungen, wie etwa Putzen. Einkaufen, Kochen, Organisieren schriftlicher und finanzieller Angelegenheiten, Begleitung und Fahrdienste. Deren Kosten sind nicht durch die Krankenkassen gedeckt. Daher werden sie zu 65 Prozent von der Familie oder anderen nahestehenden Personen übernommen. «Betreuungsleistungen neu ins KVG aufzunehmen», so Salome von Greyerz, Leiterin der Abteilung Gesundheitsstrategien beim Bundesamt für Gesundheit. »ist im Rahmen der aktuellen Diskussion zur Kostendämpfung jedoch nicht möglich.» Auch Betreuungszulagen, wie sie in einigen französischsprachigen Kantonen und Gemeinden den Angehörigen gewährt werden. seien als flächendeckende Massnahme nicht umsetzbar, weil sie selbst im geringsten Umfang von 25 Franken pro Tag zu hohe Kosten erzeugen würden. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund ist mit der Argumentation, dass finanzielle Mittel fehlten, um den Bedarf an Pflege und Betreuung zu decken, jedoch nicht einverstanden. Er vertritt die Ansicht, dass »der Service Public im Care-Bereich ausgebaut werden muss, sodass diese Dienstleistungen im Bedarfsfall allen Menschen bezahlbar und in guter Qualität zugänglich sind». Auf Basis der Regulierungsfolge abschätzung zur Vernehmlassungsvor lage sei davon auszugehen, dass grosszügigere Lösungen, die dem Bedarf der Angehörigen wirklich gerecht werden könnten, finanzierbar wären. ,In den Köpfen der Bevölkerung und der Politik ist Care-Arbeit noch eine reine Privatsache. Es gilt jedoch, sie öffentlich zu machen», kritisiert Perrig-Chiello. Durch die veränderten Familienstrukturen und die zunehmende Nachfrage nach Fachkräften sei die Angehörigenbetreuung nicht mehr so privat wie früher. Dem stimmt auch Salome von Greyerz vom Bundesamt für Gesundheit zu. «Daher braucht es auf Bundesebene eine gesellschaftspolitische Diskussion. wer die Kosten trägt und was in der Altenpflege Aufgabe des Staates ist.» Im Rahmen der Fachkräfteinitiative hat das Bundesamt für Gesundheit das Förderprogramm ,Entlastungsangebote für pflegende Angehörige 2017-2020» lanciert. Es soll dazu dienen, die Situation und die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen zu erforschen, gute Praxisbeispiele für Unterstützungsangebote zu sammeln und zu dokumentieren. Seit Juni dieses Jahres sind auf der BAG-Website nun Best-Pratice-Beispiele aufgeschaltet, die Kantonen, Gemeinden und Unternehmen als Inspirationsquelle dienen sollen. Gelder für förderungswürdige Projekte wurden jedoch nicht zur Verfügung gestellt. Die ersten Ergebnisse der sechs Forschungsprojekte sollen Anfang 2019 vorgestellt werden. Diese könnten den Bundesrat bei der Finalisierung seines Gesetzesentwurfs auf Basis der Stellungnahmen unterstützen.

«HEUTE NUTZEN WIR DOODLE»

Vor einem Vierteljahr, einen Monat nach der Geburt des zweiten Enkels, stürzte Anna Widmers Mutter erneut. Dieses Mal brach sich die mittlerweile 89- Jährige das Schultergelenk. Nach der Reha hatte sie zwar für zweieinhalb Monate ein Ferienbett in einem Heim. Da die Mutter zu diesem Zeitpunkt jedoch erneut depressiv war, besuchten Anna Widmer und ihre Geschwister sie täglich. Für das Reha-Personal war klar, dass die Betagte so nicht mehr alleine in ihrem Haus leben konnte.» Sie selbst wollte das aber unbedingt, sodass wir ihr versprachen, es ihr zu ermöglichen», berichtet Anna Widmer. Zwar stimmte die Mutter widerstrebend einem Notfallknopf zu, trotzdem bleibt ein Restrisiko, dass sie diesen nicht trägt. Mittlerweile hat die 89-Jährige eingewilligt, dass täglich einmal die Spitex zur Mittagszeit vorbeikommt. die Medikamenteneinnahme überwacht und nebenbei im Auftrag der Kinder – darauf achtet, dass die Mutter genügend isst. Jeden Mittwochmorgen besucht Beat Widmer für zwei Stunden seine Schwiegermutter; an den übrigen Tagen sowie einmal am Wochenende wechseln sich die vier Geschwister ab. «Heute planen wir unsere Besuche mittels Doodle. jeweils mit Stellvertreterlösung», erzählt Widmer. Ihre Tochter ist seit Kurzem erneut berufstätig. Ein Tag kümmert sich deren Mann um die beiden Kinder und zwei Tage in der Woche übernimmt der Grossvater. Und Grosi kommt – wenn möglich – nach ihrer Arbeit noch hinzu. Widmer: «Was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht, hinkt die Schweiz als reiches Land mit ihren Regelungen anderen europäischen Staaten leider immer noch hinterher.»