Viele Anpassungen, keine Kontrolle

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Seit zehn Jahren hat die Stadt Bern eine Gleichstellungsfachstelle für Menschen mit Behinderungen.Wo es mit der Inklusion klappt und wo es noch harzt.


Hindernisfreiheit liegt oft im Detail: Fachstellenleiter Urs Germann sorgte dafür, dass die Corona-Absperrung in der Stadtverwaltungmit Holzleisten ergänzt wurde. Nun ist sie auch für sehbehinderte Menschen ertastbar. Foto: Christian Pfander

 

Edith Krähenbühl

Eigentlich ist es ganz einfach.Menschen mit einer Behinde-rung haben die gleichen Bedürfnisse wie Menschen ohne Behinderung: selbstständig wohnen, zur Schule gehen und arbeiten, mobil sein, Zugang haben zu Information, zu Behörden, zu Kultur- und Sportveranstaltungen und – zu öffentlichen Toiletten.

Wenn es jedoch darum geht,diese Bedürfnisse im Alltag zu leben, wird es für Menschen mit Behinderung schwierig. Oft stossen sie im Alltag auf Hindernisse: holprige Pflastersteine in der Berner Altstadt, ein Informationsvideo ohne Untertitel, ein Arbeitsmarkt, auf dem eine Einschränkung ein Ausschlusskriterium ist.

Seit sechs Jahren ist Urs Germann in der Stadt Bern die erste Anlaufstelle, wenn es um den Abbau solcher Hindernisse im städtischen Raum und innerhalb der Stadtverwaltung geht. Der Leiter der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (FGMB) hat sein Amt 2014 von seinem Vorgänger Brian McGowan übernommen.Mc Gowan war der Erste, der ineiner Schweizer Stadt je eine Fachstelle für Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen geleitet hat. Bern hat mit der Gründung der Fachstelle im Jahr2010 Pionierarbeit geleistet.

«Auch Kommunikation kannein Hindernis sein»

«In der Anfangszeit brauchtees die Fachstelle, um Gleichstellung und Barrierefreiheit zu thematisieren und die Stadtverwaltung darauf aufmerksam zu machen, dass sie dazu verpflichtetist, Gleichstellungsmassnahmen umzusetzen», sagt Urs Germann.Damals habe man vor allem an bauliche Anpassungen gedacht.«Noch heute ist die Diskussionum Hindernisfreiheit und Inklusion stark vom Bild einer Personim Rollstuhl geprägt. Dass in unserer modernen Gesellschaft auch Kommunikation ein Hindernis darstellen kann, ist vielen nicht bewusst.»

Durch die Corona-Krise seien aber in diesem Bereich Fortschritte gemacht worden, stellt Urs Germann fest. Medienkonferenzen des Bundesrates zum Beispiel sind simultan von Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzt worden und waren so auch für gehörlose Menschen zugänglich. In der Corona-Krise zeigte sich jedoch auch, dass immer wieder auf Gleichstellung aufmerksam gemacht werden muss. Die Absperrbänder in der Eingangshalle zur Bundesgasse 33, wo sich unter anderem das Alters- und Versicherungsamt befindet, wurden zuerst so angebracht, dass sie für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung nicht wahrnehmbar waren. Nach einer Intervention von Urs Germann wurde die Absperrung umplatziert. Sie ist nun auch mitdem Blindenstock ertastbar.

Es sind kleinere Massnahmen wie die Umplatzierung der Absperrbänder und grosse Projekte wie der Umbau des Berner Bahnhofs, die Urs Germann begleitet. Seit 2018 ist er nicht mehr allein für die Fachstelle zuständig. Diese wurde vergrössert, nun teilt er sich die Aufgaben mit seiner Stellvertreterin Tina Schai.

Wenn Urs Germann vom Leben mit einer Beeinträchtigung spricht, fliessen auch eigene Erfahrungen mit ein. Der 47-Jährige hat seit seiner Kindheit eine Hörbehinderung. Für ihn ist es wichtig, dass er im Gespräch die Lippen seines Gegenübers sehen kann. Dank Hörgeräten konnte er fliessend sprechen lernen,nur hin und wieder wiederholt er eine Silbe mehrmals oder schiebt ein «und» ein. Als er sich als Leiter der FGMB bei der Stadt bewarb, war seine Beeinträchtigung gleichzeitig eine Qualifikation. «Dass ich eigene Erfahrungen im Umgang mit einer Behinderung habe, ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit und gibt der Fachstelle eine höhere Legitimation», erklärt Germann.

«Gleichstellung ist etwas, was alle Gesellschaftsbereiche umfassen muss.»
Urs Germann Leiter der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

Bindeglied zwischen Verwaltung und Betroffenen

Seit zehn Jahren ist die FGMB das Bindeglied zwischen Behindertenorganisationen, der Bevölkerung und der Stadtverwaltung.Urs Germann und Tina Schai beraten die städtischen Dienststellen, die Gleichstellungsmassnahmen müssen die einzelnen Direktionen umsetzen. So arbeitet die Stadt beispielsweise seit zwei Jahren daran, ihre Website barrierefreier zu gestalten. Die am häufigsten gesuchten Informationen, wie diejenigen zur Abfallentsorgung, werden in Video-clips in Gebärdensprache sowie in Leichter Sprache für Menschen mit kognitiven Einschränkungen zur Verfügung gestellt.

Das Projekt «Umsetzung hindernisfreier öffentlicher Raum»soll die Zugänglichkeit des öffentlichen Raumes langfristig verbessern. Mit dem Nachteilsausgleich in der Kulturförderung hat die FGMB erreicht, dass Kulturveranstaltungen auch für Menschen mit Beeinträchtigung zugänglich werden,sei dies durch die Finanzierung von baulichen Anpassungen oder in Gebärdensprache.

Ein Bereich, in dem die Zielvorgaben noch nicht erreicht wurden, ist die Personalpolitikder Stadtverwaltung. Eine von hundert ausgeschriebenen Stellen sollte gemäss Gemeinderatsbeschluss bis Ende 2020 durcheine Person mit einer Behinderung besetzt werden. Doch: «Wir wissen nicht, ob die Stadt diese Vorgabe erfüllt», sagt Urs Germann. Es fehle das Messinstrument. «Behinderung ist nicht eine feststehende Grösse, sondern ein komplexes und fluides Phänomen.» Beeinträchtigungen, seien es körperliche oder psychische, sind noch immer mit Vorurteilen belegt. Aus diesem Grund ziehen es Betroffene oft vor, diese dem Arbeitgeber nicht mitzuteilen, wenn sie die Leistung nicht beeinträchtigen.

Eine übergeordnete Kontrollstelle fehlt

Die Stadt hat zwar ein sogenanntes Gleichstellungsportfolio, aber keinen Massnahmenplan zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Deshalb gibt es nur punktuelle Zielvorgaben. Gemäss dem Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 und der UNO-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 ratifiziert hat, sind Gemeinden,Kantone und der Bund in ihren Zuständigkeitsbereichen selbst für die Einhaltung und Umsetzung zuständig. Es fehlt eine übergeordnete Stelle, die Gleichstellungsmassnahmen koordiniert und kontrolliert. Urs Germann sieht deshalb auch nach zehnjährigem Bestehen eine wichtige Aufgabe der FGMB darin, aufzuzeigen, wo die Stadt Verpflichtungen erfüllen muss.Eine Standortanalyse in Zusammenarbeit mit Betroffenen, Behindertenorganisationen und der Berner Fachhochschule soll bis 2021 zeigen, wo noch Handlungsbedarf besteht

Germann selber wird die FGMB auf Ende Juli verlassen,um beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung als wissenschaftlicher Mitarbeiter anzufangen. Auch dort wird er sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen: «Gleichstellung ist etwas, was alle Gesellschaftsbereiche umfassen muss.»

Aufgrund der Corona-Pandemie musste die Stadt Bern die Feierzum 10-Jahr-Jubiläum der FGMB absagen. Als Ersatz hat sie eine Videobotschaft von Gemeinderätin Franziska Teuscher (Grüne) und einen künstlerischen Beitrag der «Heiteren Fahne» veröffentlicht.


Treppen können sowohl für Geh- als auch für Sehbehinderte ein Hindernis darstellen. Fotos: Raphael Mose

 


Ein Hindernis: Pflastersteinein der Altstadt.

 


Verwaltungsgebäude an der Predigergasse 5: Verbesserte Zugänglichkeit durch Leitlinien für Sehbehinderte.

 


Hindernisfrei: Der Spielplatz Tscharnergut wurde 2017 nach einerNeugestaltung als «Spielplatz für alle» eröffnet.