Vielfalt im Arbeitsmarkt – eine Chance

(SozialAktuell)

In der Antike war Arbeit ein notwendiges Übel.Im Wandel der Zeit wurde die Arbeit zur höchsten Tätigkeit. Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)braucht es eine Arbeitswelt, die Vielfalt als Mehrwert erkennt.

Text: Anja Reichenbach, Beratung und Entwicklung Sensability (l)

Arbeit dient vielen Menschen in erster Linie als Existenzsicherung. Durch Arbeit lässt sich jedoch auch Status erlangen. Aus Beruf wird Berufung.Die Bereitschaft, rund um die Uhr Hochleistungen zu erbringen, wird begrüsst. Doch Arbeit bedeutet auch Struktur und Halt. Im Arbeitsumfeld erfahren wir soziale Zugehörigkeit. Es ist ein wichtiger Ort für Begegnung, Austausch und um Anerkennung zu spüren.

Die Aufteilung in 1. und 2. Arbeitsmarkt spaltet unsere Gesellschaft. Ist ein Mensch erwerbsfähig, gilt er allgemein als leistungsfähig und wird im 1. Arbeitsmarkt geduldet.

In der Arbeitswelt zeigt sich eine Tendenz,den Wert eines Menschen über die Leistungsfähigkeit zu definieren. Im Umkehrschluss würde dies also bedeuten, dass wertlos ist, wer keine Leistung erbringt.

Menschen mit Behinderungen sind aufgrund der physischen, psychischen oder kognitiven Einschränkung sowie der Barrieren in der Umwelt in unterschiedlicher Form in der Lage, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Gemäss den Statistiken ist der Anteil der Personen, die sich nicht am 1. Arbeitsmarkt beteiligen, in der Schweiz bei Menschen mit Behinderungen doppelt so hoch wie bei nicht behinderten Menschen (28,7 Prozent gegenüber 14,9 Prozent).Mehr als jede zweite stark eingeschränkte Person (53 Prozent) ist vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und wird vom System in den 2. Arbeitsmarkt geschoben.

Unzählige Institutionen, gut finanziert und etabliert, dienen als Auffangbecken und Beschäftigungsstätte. Sie sind eine vermeintliche Errungenschaft unseres Sozialsystems.

In der Schweiz werden Parallelstrukturen unterhalten. Die Forderungen nach konsequenter Teilhabe sind noch zu leise, und der Druck ist zu schwach.

Im Artikel 27 «Arbeit und Beschäftigung» der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird konkretisiert, dass das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen das Recht auf die Möglichkeit der Arbeit in einem offenen, einbeziehenden und zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld einschliesst. Der Schattenbericht von Inclusion Handicap hält fest, dass der 2. Arbeitsmarkt die Gefahr birgt, dass Menschen mit Behinderungen meist «unter sich bleiben» und keine oder wenig Zusammenarbeit mit Menschen ohne Behinderungen stattfindet. Weiter wird festgestellt, dass für die geschützten Werkstätten keine Anreize bestehen, ihre Arbeitnehmenden für den 1. Arbeitsmarkt zu trainieren.

Inklusive Welt

Es braucht ein Umdenken. Wir müssen beginnen, unsere Welt inklusiv zu gestalten, stattein Flickwerk aus Integrationsmassnahmen zu formen. Es braucht mehr Flexibilität in Bezug auf Arbeitsmodelle. Schnittstellen zwischen den Systemen müssen z. B. durch Partnerschaften installiert und effektivere Gesetze erlassen werden.

Es braucht ein Umdenken.

Wir müssen beginnen, unsere Welt inklusiv zu gestalten.

Die Berufsidentitäten im Bereich der Sozialen Arbeit müssen überprüft und angepasst werden.Fachwissen und Fachpersonen werden weiterhin gebraucht, wenn auch in verändertem Kontext. Machtverhältnisse und Hierarchien zwischen Fachpersonen und Adressatinnen müssen bewusst gemacht und allenfalls neu definiert werden. Es bedeutet aber auch, dass Fachpersonen spezifische Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten erhalten. So muss dem Arbeitsfeld «Assistenz» mehr Bedeutung geschenkt werden, z. B.indem Bildungsinstitute Studierende zulassen,die in diesem Bereich tätig werden. Jede sozial ausgerichtete Ausbildung sollte zudem Inklusion und Vielfalt in Bezug auf Behinderungen behandeln, vorzugsweise mit Dozierenden, die selbst mit Behinderungen leben.

Um in dieser gesellschaftlichen Veränderung voranzukommen, braucht es die Erkenntnis, dass Arbeit insbesondere in einem engen Zusammenhang mit Bildung steht. Es braucht daher überalle Stufen ein inklusives Schulsystem mit der nötigen Infrastruktur und personellen Ressourcen. Inklusive Bildungsangebote, durchlässigere Zulassungskriterien und eine flächendeckende Umsetzung des Nachteilsausgleichs. Weiter benötigt es inklusiven Lebensraum, um die Autonomie und Teilhabe ganzheitlich zu ermöglichen. Sich hinter Gewohnheiten und bewährten Systemen zu verstecken, entspricht in keiner Weise der UN-BRK. Stimmen, die eine inklusive Gesellschaft vor allem als finanzielle Herkulesaufgabe betiteln, lassen ausser Acht, welche Unsummen das Sonderförderungssystem verschlingt. Das kostenintensive Unterfangen beziehungsweise eine gezielte Umverteilung sind also zwingend, um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu manifestieren. Der Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung würde hier Hand bieten.

 

Inklusion ist ein Menschenrecht

Im Kontext der Sozialen Arbeit begegnet einem häufig das Wortspiel «Inklusion = Illusion».Beispielsweise setzen sich Fachpersonen an Tagungen vertieft mit den Grenzen der Inklusion auseinander, ohne die UN-BRK je im Detail gelesen zu haben. Ein Menschenrecht als illusorisch zu benennen, ist bedenklich. Vor allem wenn man weiss, dass die meisten Berufsleute keine Behinderungen haben. Werden Rechte von Menschen ohne Behinderungen verletzt, setzt man sich zur Wehr. Denn die Verteidigung der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung wird in der Schweiz hochgehalten. Dass die Fremdbestimmung eine alltägliche Begleiterin von Menschen mit Behinderungen ist, wird als Usus akzeptiert.

Menschen mit Behinderungen werden viel zu wenig partizipativ in Prozesse involviert. Der Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» wird weitgehend ignoriert. Zu zeitaufwendig und komplex scheint ein ernst gemeinter Einbezug.

Ein spezifisches Augenmerk gilt den schädlichen Praktiken. So müssen sich z.B. Behindertenorganisationen auflösen, sofern sie nicht in der Lage sind, den Paradigmenwechsel mitzutragen und mit allen Mitteln voranzutreiben. Arbeit als Mass aller Dinge zu betrachten, hat in unserer Gesellschaft dazu geführt, zum Teil absurde Beschäftigungssituationen für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Häufig leben und arbeiten Menschen mit Behinderungen am gleichen Ort. Sie bewegen sich in einem abgesonderten Sozialraum und entwickeln teilweise ein isolierendes Verhalten.

 

Zugänge für Menschen mitBehinderungen zu schaffen,hat meist eine breite Wirkung.

Da in den Ateliers ein – wenn auch geringer – Produktionsdruck besteht, wird darauf geachtet, «starke» Mitarbeitende nicht an externe Arbeitsorte zu verlieren. Es stellt sich im institutionellen Rahmen die Frage, ob es solche Werkstätten überhaupt noch braucht oder der Begriff der Beschäftigung nicht neu definiert werden müsste. Wir müssen uns bewusst werden,
dass ein Beschäftigungsmodell von Menschen ohne Behinderungen entwickelt wurde. Historisch gewachsen, wird es konsequent verfolgt und beharrlich verteidigt. Wer aus diesem System ausbrechen will, braucht einen hohen Eigenantrieb,ein unterstützendes Umfeld und meist auch Geld, weil die öffentliche Hand den Bedarf noch nicht erkennt.

Einsatz nach Fähigkeiten

Ein allgemeiner Arbeitsmarkt sollte über verschiedene Kanäle gespeist werden. Es braucht Bemühungen, die nötige Sensibilität bei Arbeitgebenden herzustellen. Ein umfassendes, flexibles und langfristiges Unterstützungsangebot für alle Involvierten muss vorhanden sein, um eine Zusammenarbeit sorgfältig aufzubauen und bei Krisen rasch zu unterstützen.

Zudem muss die Vielfalt als Mehrwert erkannt werden.Der Arbeitsmarkt muss Menschen vermehrt nach Fähigkeit einsetzen.

Ein inklusives Arbeitsumfeld führt unweigerlich dazu,Strukturen und Abläufe zu reflektieren. Prozesse werden dadurch vereinfacht. Es gilt stets, einen Perspektivenwechsel zu machen, Situationen von unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und anders zu verstehen. Dies fördert die Lösungsfindungskompetenz aller und ergibt eine Innovationskraft.

Zugänge für Menschen mit Behinderungen zu schaffen,hat meist eine breite Wirkung. So führt z. B. der Einsatz von einfacher oder leichter Sprache dazu, dass explizit benannt wird, was implizit gemeint ist. Sitzungsgefässe brauchen einen klaren Rahmen und ein begrenztes Volumen, um eine gleichberechtigte Situation herzustellen.

Assistenzleistungen sind ein weiterer elementarer Bestandteil, um ein inklusives Setting zu gestalten. Ein Aufgabenpaket enthält meist Teilaufträge, die dazu verleiten,den Auftrag nicht an Mitarbeitende mit Behinderungen zu übergeben, weil die Umsetzung Barrieren aufweist. Dies kann mit individuellen Unterstützungsleistungen kompensiert werden. Eine Person, die nicht kopfrechnen kann, ist durchaus inder Lage, einen Zahlungsvorgang zu begleiten, sofern eine Assistenzperson diese Teile übernimmt.

Doch vor allem braucht es die Stimmen von Menschen mit Behinderungen, regen und unverblümten Austausch, positive Beispiele und die Erkenntnis, dass die Verantwortung in unseren Händen liegt. Jede Einzelperson, jede Struktur, die Systeme, die Politik und die breite Bevölkerung haben Einfluss und sind gefordert, den Umgang mit Vielfalt zu lernen und die Kraft des Miteinanders zu nutzen. So lassen wir Antike und Gegenwart hinter uns und starten in eine neue Epoche.

Fussnote

1 Sensability engagiert sich für die Veränderung des Denkens über Menschen mit Behinderungen und für den Abbau von bestehenden Hindernissen: www.sensability.ch