Vom Kanton benachteiligt

(Limmattaler Zeitung)

Grosse Lücke bei Gleichstellung: Menschen mit Behinderung werden vom Kanton benachteiligt
von Lina Giusto


Keine Pflicht im Kanton Zürich: Eine Gebärdensprachendolmetscherin übersetzt ein Gespräch für eine gehörlose Mitarbeitende von Louis Widmer in Schlieren.© az Limmattaler Zeitung

 

ZHAW-Forscher zeigen, dass die UNO-Behindertenrechtskonvention ungenügend umgesetzt wird.

Menschen mit Behinderungen haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen. So steht es zumindest auf dem Papier geschrieben. In der Realität sieht es aber anders aus. Bei der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gibt es grosse Lücken. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Koordiniert hat die einjährige Erhebung die Behindertenkonferenz Kanton Zürich (BKZ). Der Auftrag erhielt die BKZ Anfang 2017 von der Sicherheitsdirektion. Finanziert hat die Studie das kantonale Sozialamt.

Zwischen August 2017 und Juli 2018 gaben 33 Fachleute aus Kanton und Gemeinden den Zürcher Forschern Auskunft, inwieweit die UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), die 2014 in Kraft trat, umgesetzt und eingehalten wird. Die Vereinbarung verpflichtet Bund, Kantone und Gemeinden, Massnahmen zu treffen, die Menschen mit Behinderungen Selbstbestimmung, gesellschaftliche Integration sowie Gleichstellung sicherstellen. Gemäss dem Übereinkommen sind Menschen mit Behinderungen Personen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder sinnliche Beeinträchtigungen haben. Und diese können sie an der vollen und gleichberechtigten Teilnahme des gesellschaftlichen Lebens hindern.

Massnahmen sind ungenügend

Um die Schnittstellen zwischen Kanton und Gemeinden besser zu verstehen, wurden die drei grössten Zürcher Gemeinden Zürich, Uster und Winterthur untersucht. «Die Studie zeigt, dass der Kanton in sämtlichen untersuchten Bereichen seine Verpflichtungen aus der BRK noch nicht genügend realisiert», fasst Hauptautor Tarek Naguib das Studienergebnis zusammen. Die wichtigsten Erkenntnisse werden in sieben Themenbereichen zusammengefasst.

– Behindertenpolitik: Laut Studienautoren ist problematisch, dass der Kanton Zürich kein Rahmengesetz hat, das die Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen thematisiert. Auch unterstützt der Kanton die Gemeinden bei der Umsetzung der Konvention nicht genügend. Gerade kleinere und mittlere Gemeinden seien hinsichtlich Recht und Pflicht gegenüber Menschen mit Behinderungen überfordert. Zudem fehle ein breites Wissen über die Barrieren bei der gesellschaftlichen Teilnahme sowie die Alltagsdiskriminierung. Auch der aktive Einbezug dieser Menschen in die kantonale Politik sei nicht gewährleistet. Ihre Mitsprache werde lediglich bei der Bau- und Mobilitätsinfrastruktur einbezogen. Es fehlten auch verbindliche Regeln hinsichtlich Kommunikation. Digitale Angebote des Kantons seien für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich.
– Bau und Mobilität: Zwar werden diese Gesetze vom Kanton erfüllt, noch aber seien viele Haltestellen, Strassen, öffentliche Plätze und Gebäude nicht hindernisfrei zugänglich. «Handlungsbedarf besteht bei der Umsetzung, die langsam vorangeht», schreiben die Autoren.
– Selbstbestimmtheit: Die ZHAW-Forscher kommen zum Schluss, dass Menschen mit Behinderungen – unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung – ihre Wohnform nicht mit Sicherheit frei wählen können. Dies verstosse gegen das Recht auf eine unabhängige Lebensweise.
– Bildung: Obwohl die Gleichstellung in der Grundschul- und Berufsbildung geregelt ist, fehlt gemäss Aussagen der befragten Fachpersonen ein Grundsatz der Integration sowie ein Anspruch auf entsprechende Vorkehrungen, die den Zugang zu allen Bildungsstufen regeln. Deshalb empfehlen die Forscher, genügend Ressourcen zu schaffen, damit es ein Bildungssystem für alle gibt.
– Arbeit: Zwar entspricht das kantonale Personalrecht teilweise den Vorgaben der BRK, jedoch haben Mitarbeitende mit einer Behinderung keinen Anspruch darauf, dass Arbeitgebende das Arbeitsumfeld für betroffene Personen bedarfsgerecht organisieren. Explizit schreiben die Autoren: «Der Kanton Zürich übernimmt in Bezug auf die Anstellung von Menschen mit Behinderung bisher keine Vorbildfunktion.»
– Kultur, Freizeit und Sport: Es gibt keine Übersicht, welchen Hindernissen Menschen mit Behinderung in den Bereichen Kultur, Freizeit und Sport zu kämpfen haben. Der Kanton schöpft seine gesetzlichen Mittel hier nicht vollumfänglich aus.
– Gesundheit: Das Thema der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist in diesem Bereich kaum präsent. Wegen dem Umfang des Gesundheitssystems ist für die Einschätzung, ob die BRK eingehalten wird, eine eigene Studie notwendig.

Die Themen Kindes- und Erwachsenenschutz, Sexualität, Familie sowie Beziehung wurden in der Studie wegen mangelnden Ressourcen nicht behandelt.

Über die Bücher gehen

Aufgrund dieser Ergebnisse empfehlen die Forscher, eine kantonale Verwaltungsstelle zu schaffen, welche die BRK umsetzt. Auch die Erarbeitung eines Massnahmenplanes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung wird gefordert sowie der hindernisfreie Zugang zu Informationen der kantonalen Verwaltung. Autor Naguib verweist diesbezüglich auf die kantonale Umsetzungspflicht: «Dazu gehört neben dem politischen Willen, dass die erforderlichen finanziellen, fachlichen und personellen Ressourcen bereitgestellt werden.» Auch der Dialog zwischen Regierung und den betroffenen Menschen sowie die Formulierung von überprüfbaren Zielen seien Teil der UNO-Behindertenrechtskonvention.

Dies scheint auch im Interesse der Zürcher Exekutive zu sein, zumindest begründet sie so den Studienauftrag: «Die Sicherheitsdirektion wollte in Erfahrung bringen, welche Massnahmen ergriffen werden müssen, damit die UNO-BRK im Kanton Zürich umgesetzt werden kann», sagt Andrea Lübberstedt, Chefin des kantonalen Sozialamtes. In einem nächsten Schritt werde man die Studienergebnisse analysieren und entsprechende Massnahmen eruieren. Lübberstedt sagt weiter: «Die Sicherheitsdirektion wird im Rahmen einer Medienkonferenz im November die Behindertenpolitik im Kanton Zürich und die nun veröffentlichte Studie beleuchten.»