Von blinden Flecken und dem Wunderkind

(Aargauer Zeitung / GesamtRegion)

Die Anliegen von Menschen mit Behinderungen gehen öfters vergessen. Ein blinder Klavierlehrer erzählt, was ihn besonders ärgert.


Lucius sieht nichts, hat aber das absolute Musikgehör: Bundespräsidentin Sommaruga lauscht seinem Konzert Bild: Christian Pfander

 

Maja Briner

Der 17-jährige Lucius und seinLehrer spielen Klavier, der Jugendliche ist in die Musik versunken. In einer Ecke des Schulzimmers steht ein Schlagzeug, auf einem Schrank liegt ein Instrumentenkoffer. Doch was alltäglich aussieht, ist es nicht. Lucius ist Autist und blind. Die richtigen Tasten auf dem Klavier findet er trotzdem mühelos,Noten braucht er nicht. Der 17-Jährige habe das absolute Musikgehör,könne nachspielen, was er ihm vorspiele, erzählt sein Lehrer Alexander Wyssmann nach der Stunde: «Ein Wunderkind.»

Auch die Bundespräsidentin staunt.Sie sei «tief beeindruckt», sagt Simonetta Sommaruga, selber Pianistin, die an diesem Nachmittag die Blindenschule Zollikofen in der Nähe von Bern besucht. Anlass für ihren Besuch ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen, der jeweils am 3. Dezember begangen wird. Extra für die Bundespräsidentin spielt Lucius eine Eigenkomposition vor. «Das hat mich ganz besonders gefreut», sagt sie danach, und bittet den 17-Jährigen:«Wenn Sie mal auftreten, schicken Sie mir eine Einladung.»

Als die Klavierstunde vorbei ist, tastet sich Lucius mit einer Hand an der Wand entlang hinaus. Draussen im Gang hängen Turnsäcke an den Haken, unten liegen Finken – so wie an so vielen Schulen. Doch in diesen Klassenzimmern werden nicht nur alltägliche Fächer wie Mathematik unterrichtet, sondern beispielsweise auch die Blindenschrift und ganz praktische Fähigkeiten: Wie schneidet man mit Messern, wie erkennt man Münzen – und wie packt man die Schultasche am besten, damit man alles rasch findet? 84 Schüler besuchen die Blindenschule in Zollikofen. Sehbehinderte werden nach Lehrplan unterrichtet, für mehrfachbehinderte Kinder gibt es einen speziellen Unterricht. Zudem betreut der sogenannte Ambulante Dienst sehbehinderte Schüler, die in der Volksschule integriert sind.

Auch zwei Lehrpersonen sind blind. Einer von ihnen ist Klavierlehrer Alexander Wyssmann, ein Jazzmusiker. Er war zwanzig Jahre alt, als er bei einem Militärunfall erblindete.«Durch den Unfall habe ich die Chance erhalten, Musik zu machen», sagt er. Wegen des Unfalls absolvierte er eine neue Ausbildung, das Lehrerseminar- «und da standen so viele Klaviere herum», erzählt er im Gespräch mit Bundespräsidentin Sommaruga. Später studierte er Jazz. «Ich komponiere Bilder», sagt er über seine Musik,«jene Bilder, die ich sehe.» Weil er nicht sehen kann, konzentriert sich Wyssmann auf seine anderen Sinne. «Wenn ich in einen Laden gehe, atme ich einmal ein,und dann weiss ich, wo ich bin»,sagt er. Wo er sich eingeschränkt fühle?, fragt ihn Sommaruga. Er könne die Post nicht selber erledigen, auch Banksachen nicht,erzählt er. Das ärgere ihn.

Wyssmann will möglichst selbstständig sein – und er istkeiner, der rasch aufgibt. Trotzdem sagt er: «Ich erwarte auch,dass man mir hilft.» Er finde es toll, wenn ihn Leute in der Stadt fragten, ob er Hilfe benötige.Sein Credo, das er seinen Schülern weitergibt: Sie sollen all das selber machen, was sie können-und nur dann Hilfe verlangen,wenn es nötig ist. «Wir wollen schliesslich als Gleichberechtigte gesehen werden.»

«Überdurchschnittlich oft diskriminiert»

In der Schweiz gibt es 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen (siehe Kasten). Noch hapert es mit der Gleichstellung, trotz entsprechender Gesetzgebung und ratifizierter UNO-Konvention. «Menschen mit Behinderungen werden in der Schweiz immer noch überdurchschnittlich oft diskriminiert», sagt Marc Moser, Sprecher von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen. Der Zugang zur Bildung sei erschwert, der Weg in den normalen Arbeitsmarkt schwierig, der Diskriminierungsschutz grundsätzlich zu schwach. Moser sagt,die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen gingen oft vergessen. «Das ist nicht unbedingt böse gemeint. Das Bewusstsein fehlt vielerorts.» Blinde Flecken sozusagen. Ein grosses Thema sind laut Moser die Dienstleistungen von Privaten,also etwa Restaurants oder Kinos. Sie alle müssen – anders alsetwa Bushaltestellen – nicht behindertengerecht sein. Auch imInternet stossen Menschen mit Behinderungen auf Hürden: Nur ein Viertel der Onlineshops ist für sie gut nutzbar.

Inclusion Handicap fordert deswegen einen wirksamen Diskriminierungsschutz.Zwar schreibt das Gesetz vor, dass private Dienstleister Behinderte nicht diskriminieren dürfen.Wenn ein Laden beispielsweise nur per Treppe zugänglich ist,kann ein Rollstuhlfahrer dagegen klagen. Die Auswirkungen sind indes beschränkt: Der Ladenbesitzer muss schlimmstenfalls eine Entschädigung von 5000 Franken zahlen – an der Treppe aber muss er nichts ändern.

Die Bundespräsidentin tappt im Dunkeln

Fragt man Klavierlehrer Wyssmann, was für sehbehinderte Kinder und Jugendliche am schwierigsten sei, spricht er indes von etwas ganz anderem: sich selbst zu akzeptieren, sich so anzunehmen, wie man ist. Mit einer Behinderung sei das manchmal schwieriger, sagt er.

Sommaruga wiederum bekommt die ganz realen Alltagshürden, mit denen Blinde zu kämpfen haben, für eine kurze Zeit selber zu spüren. Im Schweizer Blindenmuseum, das auf dem Areal der Schule steht, besucht sie den Dunkelraum. Durchs Zimmer führt ein Handlauf, zu sehen ist: nichts, absolut nichts. Und so tappt Sommaruga durchs Dunkle, die Finger am Handlauf. Als dieser plötzlich endet, ist die Verunsicherung gross: Wie geht es nun weiter? Dann die Erleichterung: Nur wenige Zentimeter entfernt beginnt der nächste Handlauf.Hätte das Licht gebrannt, wäre uns Sehenden der Unterbruch kaum aufgefallen; im Dunkeln aber fühlen wir uns deswegen schon verloren.

1,7 Millionen Behinderte

Gemäss offiziellen Angaben gibtes in der Schweiz 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Dazu zählt das Bundesamt für Statistik (BFS) alle, die «ein dauerhaftes Gesundheitsproblem haben und die bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens (stark oder etwas) eingeschränkt sind». Knapp 460000 Menschen leben mit einer «starken Beeinträchtigung». Der Anteil der Menschen mit Behinderungen steigt mit dem Alter an:Bei jungen Erwachsenen zwischen 16 und 24 Jahren sind eslaut BFS 12 Prozent, bei den über 85-Jährigen 46 Prozent – also fast jeder Zweite.(mjb)

«Wenn ich in einen Laden gehe, atme ich einmal ein, und dann weiss ich,wo ich bin.»
Alexander Wyssmann
Klavierlehrer und Jazzmusiker