Warum die IV-Detektive nicht vors Volk kommen

(Aargauer Zeitung / GesamtRegio)

von Tobias Bär — Nordwestschweiz


Die Referendumsfrist wird wohl ungenutzt verstreichen. (Symbolbild)

Zur Verfügung gestellt Trotz rechtsstaatlicher Bedenken zur Überwachung von IV-Bezügern gibt es kein Referendum. Die Gegner sind sich sicher, dass eine Volksabstimmung kaum zu gewinnen wäre.Im August 2017 beugte sich die Sozialkommission des Ständerats ein erstes Mal über den Gesetzesentwurf zur Überwachung von IV-Bezügern und anderen Sozialversicherten. Vergangene Woche, nur sieben Monate später, haben die eidgenössischen Räte die Vorlage verabschiedet. Das ist Gesetzgebung in einem Tempo, das im politischen System der Schweiz Seltenheitswert hat. Der Fraktionschef der Grünen, Balthasar Glättli, macht den Tatendrang von National- und Ständerat gar zum Gegenstand eines Vorstosses. Der Zürcher will unter anderem vom Bundesrat wissen, welche anderen Gesetzesrevisionen in derart kurzer Zeit durch das Parlament «gepeitscht» wurden. Rechtsstaat ist kein Grund.

Die Grünen hatten vergangene Woche vor der Beratung im Nationalrat ebenso vor der «unverhältnismässigen» Vorlage gewarnt wie der Arbeitnehmer-Dachverband Travail.Suisse. Letzterer brachte die Möglichkeit eines Referendums ins Spiel, sollte die Vorlage nicht überarbeitet werden. Die Änderungswünsche von SP und Grünen hatten dann aber nicht den Hauch einer Chance. So brauchen die Sozialversicherungen für die Überwachung von mutmasslichen Betrügern keine vorgängige richterliche Genehmigung – es sei denn, sie wollen Peilsender zur Standortbestimmung einsetzen. Und die Versicherten dürfen an allen Orten beobachtet werden, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind, also etwa auf ihrem Balkon. Diese Bestimmungen treten in Kraft, sofern die Referendumsfrist, die voraussichtlich kommende Woche startet und Anfang Juli abläuft, ungenutzt verstreicht.

Danach sieht es derzeit entgegen der Ankündigung von Travail.Suisse aus. Gemäss Präsident Adrian Wüthrich würde der Dachverband zwar ein Referendum unterstützen. Von sich aus werde man aber kein solches ergreifen. «Es braucht Zeit, die Mitgliedsverbände auf ein Referendum einzustimmen. Wegen des vom Parlament angeschlagenen Tempos fehlt uns diese Zeit», sagt Wüthrich. Ausserdem wäre es schwierig, im Abstimmungskampf mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit zu punkten, während die Befürworter Missbrauchsfälle bewirtschaften. Ähnlich tönt es bei Julien Neruda, Geschäftsleiter des Dachverbandes der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap: «Unsere Botschaft ist schwieriger zu vermitteln. Wir sind ebenfalls für die Bekämpfung von Versicherungsmissbrauch. Dafür dürfen aber keine rechtsstaatlichen Prinzipien aufgegeben werden.» Ihn würde es erstaunen, sollte das Referendum ergriffen werden, so Neruda.

Soll das Volk über die Überwachung von IV-Bezügern abstimmen?
55% Ja
45% Nein

Die SP-Nationalrätin Silvia Schenker (BS), die sich an vorderster Front für ein abgeschwächtes Gesetz eingesetzt hat, meint zwar ebenfalls: «Die Abstimmung wäre schwer zu gewinnen.» Sie glaube aber, dass die Bevölkerung durchaus zu haben sei für die Verteidigung der Privatsphäre. Gemäss SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi (SG) wurde die Frage des Referendums in der Parteispitze nicht vertieft diskutiert. «Diese Vorlage wurde im Eilzugtempo durchgebolzt und ist rechtsstaatlich bedenklich. Man kann aber nicht jede fragwürdige Vorlage mit dem Referendum bekämpfen.» Womöglich müsse man sich auf die Reform der Ergänzungsleistungen fokussieren, so Gysi. Nach den vom Nationalrat beschlossenen Kürzungen dränge sich eher ein Referendum auf.

«Volk unterstützt Überwachung»
CVP-Nationalrätin Ruth Humbel (AG), die das Überwachungsgesetz befürwortet, führt den wahrscheinlichen Verzicht auf ein Referendum auf die 5. IV-Revision zurück. Mit dem Gesetz erhielten die IV-Stellen die Möglichkeit, ungerechtfertigten Leistungsbezug zu bekämpfen. Das Volk stimmte 2007 mit einer Mehrheit von 59 Prozent zu. Damit sei klar, «dass die Bevölkerung versicherungsbetrügerische Machenschaften nicht schützen will und notwendige Instrumente zu deren Aufdeckung akzeptiert», sagt Humbel.