Wenn das Lesen schwerfällt

(Zürichsee-Zeitung / Bezirk Meilen)

Ausgegrenzt durch die Sprache

Die leichte Sprache hilft Menschen mit sprachlichen Defiziten, sich im Alltag zurechtzufinden.Profitieren aber können wir alle, sagt Gloria Schmidt vom Büro für Leichte Sprache.

von Fabienne Sennhauser

Schätzungsweise 800’000 Menschen haben hierzulande Mühemit dem Lesen und Schreiben. Das können Personen miteiner kognitiven Beeinträchtigung sein – etwa mit einer Lernschwäche, einer Hirnverletzung oder mit Demenz. Aberauch für Personen mit Migrationshintergrund und einer anderen Muttersprache als Deutsch sind umständlich geschriebene Texte schlecht oder gar nicht verständlich. Für sie ist die Leichte Sprache entwickelt worden. Dabei handelt es sich um ein Sprachkonzept, das die deutsche Schriftsprache stark vereinfacht.

Ein Recht auf Zugang zu Information

Das klingt dann etwa so: «Es gibt eine neue Krankheit. Die Krankheit kommt vom Corona-Virus. Bei der Krankheit haben die Menschen zum Beispiel Husten oder Fieber. Manche Menschen sterben an der Krankheit. Besonders alte und schon kranke Menschen können sterben.»

Entwickelt wurde die LeichteSprache in den 1970er-Jahren in Amerika. Im deutschen Sprachraum breitete sich das Konzept vor gut 30 Jahren aus. Während Ministerien und Parteien in Deutschland ihre Programme bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in die Leichte Sprache übersetzen, nahm das Thema inder Schweiz erst in den letztenJahren Fahrt auf. Der Grundstein lieferte die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche hierzulande 2014 in Kraft trat. So definiert Artikel 21 der Konvention etwa das Recht auf Zugang zu Informationen.

Hier setzt Pro Infirmis, nationale Dachorganisation für Menschen mit Beeinträchtigungen, mit ihrem Büro für Leichte Sprache an. An den drei Standorten Zürich, Bellinzona und Freiburg werden Texte wie Verträge, Formulare, Websites oder Broschüren für verschiedene Auftraggeber in eine einfachere Sprache übersetzt.


Gloria Schmidt, Fachverantwortliche des Zürcher Büros für Leichte Sprache. Foto: PD

 

«Verstehen heisst selbstbestimmt leben»

Gloria Schmidt ist seit Ende 2020 Fachverantwortliche des Zürcher Büros. Die gebürtige Österreicherin zeigt sich überzeugt, dass längst nicht nur Menschen mit einer Leseschwäche von der Leichten Sprache profitieren können. «Heutzutage sind viele Informationen in einer schwer lesbaren Verwaltungs- oder Fachsprache verfasst. Man denke nur an Texte wie AGB, Datenschutzbestimmungen und so weiter.» Diese seien praktisch für jeden Menschen schwer zu erfassen.

Wenn alle Menschen den gleichen Zugang zu Informationen hätten, stärke das auch unsere Gesellschaft, sagt Schmidt. «Wer Texte und Zusammenhänge versteht, der kann sich da durch eine eigene Meinung bilden und damit auch ein selbstbestimmtes Leben führen.»

«Die Fachsprache nicht ausrotten»

War das Büro für Leichte Sprache zu Beginn hauptsächlich für soziale Institutionen tätig, habe sich die Nachfrage inzwischen «immens» gesteigert. Und auch das Kundenportfolio präsentiere sich heute sehr viel facettenreicher, sagt Schmidt. Von öffentlichen Ämtern über Veranstalter bis hin zu privaten Unternehmern sei alles dabei.

Nachholbedarf sieht die ausgebildete Übersetzerin vor allem in den Bereichen Politik und Gesundheitswesen. «Abstimmungsunterlagen oder Patienten-Arzt-Gespräche sind heute oftmals viel zu komplex.»Schmidt hält dennoch fest: «Die Leichte Sprache will die Fachsprache nicht ausrotten, sondern ergänzen.»

Jeder Text wird von Textprüfern gegengelesen

Die grösste Herausforderung beim Übersetzen in die Leichte Sprache sei die Auswahl der Informationen und deren Anordnung im Text. «Obschon gefiltert, müssen die Informationen immer noch stimmen und möglichst vollständig sein», erklärt Gloria Schmidt. Und wie stellt das Büro für Leichte Sprache sicher, dass die Texte von den Zielgruppen auch wirklich verstanden werden? «Jeder Text wird von sogenannten Textprüfern gegengelesen»,erklärt Schmidt. Bei den Textprüfern handelt es sich um Klienten von Pro Infirmis Schweiz, die selber über eine Leseschwäche verfügen und gegen ein Entgelt die Texte von Schmidt und ihren Kollegen auf deren Verständlichkeit prüfen.


Die wichtigsten Regeln der Leichten Sprache

  • kurze Wörter und Sätze
  • einfache, gebräuchliche Begriffeverwenden, Synonyme,Metaphern, Fremd- und Fachwörter vermeiden («erlauben»ist besser als «genehmigen»)
  • keine Passivkonstruktionen
  • keine Sonderzeichen
  • zusammengesetzte Wörter durcheinen Bindestrich trennen
  • Layout des Textes strukturieren(kurze Absätze). (fse)