«Wenn ich höre, dass ich behindert sei, denke ich mir: Ich bin doch nicht behindert, ich habe ein Handicap»

(Walliser Bote)

OBERWALLIS Andauernd wird über Menschen mit einer Behinderung gesprochen. Martina Schnyder ist Geschäftsführerin im Schlosshotel Leuk, Jenny Aberle arbeitet auch da. Susi Stuber arbeitet in der Fux campagna, Sven Lochmatter im Atelier Manus und Roger Seiler ist Leiter Berufliche Massnahmen Atelier Manus. Sie alle wollen mitreden.

Was bringt ein Tag wie der «internationale Tag der Menschen mit Behinderung»?

Schnyder: «Dieser Tag gibt uns die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren für die Anliegen und Rechte der Menschen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung. Es ist die Möglichkeit, ein Thema zu bearbeiten und zu diskutieren.»

Seiler: «Es ist eine Plattform für uns mit einem fixen Datum, auf das wir uns vorbereiten können. Man lädt die Öffentlichkeit ein und verbringt einen interessanten Abend zusammen.»

Wurde es in den letzten paar Jahren leichter, Beeinträchtigte in die Arbeitswelt einzuführen?

Seiler: «Konkret geändert hat sich in den letzten paar Jahren noch zu wenig. Esist einfach wichtig, dass Chancen bestehen und dass man es zulässt, dass diese Menschen zeigen dürfen, was sie können. Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Was wirklich wichtig ist, ist das Miteinander. Und da gibt es noch Luft nach oben. Ich hoffe, das wird sichin Zukunft noch verbessern.»

Stuber:«Ich selber habe nicht das Gefühl, dass sich da gross was ändern wird.Ich bin auch nicht mehr in der Arbeitswelt, doch früher war es sehr schwierig. Die meisten Arbeitgeber sagten, sie nähmen nur gesunde Menschen.»

«Wenn ich zuerstgrüsse, erschreckendie fast» Susi Stuber

Seiler:«Was heisst es eigentlich, behindert zu sein? In der Arbeitswelt, in der wir Menschen um die 20 Jahre anfangen und uns lange Zeit darin bewegen, in diesem Prozess werden wir alle älter und irgendwann auch eingeschränkt. Wir können nicht einfach von sprechen. Wir wissen nicht, was mit uns passiert. Die Leistungsfähigkeit lässt nach, Sinne und Wahrnehmung schwinden. So gesehen, werden wir alle mit der Zeit behindert und diese Akzeptanz, dass da jetzt etwas nicht mehr geht, aber sehr viel anderes schon, ist sehr wichtig. Man sieht halt oft das Negative vor dem Guten.»

Gab es nennenswerte Veränderungen in den letzten zehn bis zwanzig Jahren?

Seiler: «Ein grosses Thema ist die Inklusion. Die bessere Durchmischung hat sicher viel verändert, sowohl an Schulen wie in der Arbeitswelt. Allein das Wort bewegt viel. Es sagt:

Was kann jeder Einzelne für sich wie auch eine Organisation oder ein Arbeitgeber tun, um Menschen mit Beeinträchtigungen in die Arbeitswelt einzuführen?

Seiler: «Erzwingen soll man das nicht,damit ist niemandem gedient. Was es braucht, ist ein Umdenken, sodass die grosse Masse sagen kann:“Machen wirdas doch!“ Ich erlebe es auch bei der Arbeit. Die Firmen, die sich darauf einlassen, haben sehr viele positive Erlebnisse. Es gibt eine Veränderung des Arbeitsklimas Nicht immer, offen gesagt, doch wenn das wirkt, so sind das viele schöne Momente, die damit einherziehen. Auch kann sich der Arbeitgeber mit den komplexeren Themen befassen und hat dennoch jemanden,der die etwas leichteren Aufgaben machen kann. Natürlich arbeitet die Entwicklung etwas gegen uns. Mit der Digitalisierung ist alles verbunden mit Tempo und Perfektion. Alles soll so schnell wie möglich gehen. Und wir müssen uns generell damit befassen, ob das der richtige Weg ist. Ich bin gespannt, was uns in Zukunft diesbezüglich erwartet.»

Allein das Wort Behinderung ist zum Teil mit einem negativen Stigma belastet. Wie gehen Sie damit um? Wie gehen die Betroffe-nen damit um?

Seiler: «Das Wort an sich ist kein Problem. Auch wenn jemand an Krücken geht, ist er in manchen Aktionen behindert. Doch man hat ein klares Bild im Kopf und das ist ein Problem. Man kann das Wort nicht abschaffen, doch man kann die Art, es zu benutzen, ändern.»

Stuber: «Ich mag dieses Wort nicht,doch ich habe mich auch gefragt, ob ich zu empfindlich bin. Wenn ich höre,dass ich behindert sei, denke ich mir:Ich bin doch nicht behindert, ich habe ein Handicap.»

Seiler: «Man sollte sich auch bewusst sein, dass das jeder anders empfindet.Jeder Mensch im Rollstuhl nimmt das auf eine jeweils verschiedene Art und Weise wahr. Einer ist empfindlicher und der andere weniger. Schön ist, wenn man dann so offen zusammen diskutieren kann wie wir heute. Menschen sinde infach verschieden.»

Schnyder: «Ich finde, wenn jemand sagt,ihm gefalle dieses Wort nicht und erwolle nicht so genannt werden, reichtdas, dieses Wort nicht zu verwenden.Oder wenn doch, dann in einem anderen Zusammenhang.»

Stuber: «Ich denke aber auch, ganz streichen kann man dieses Wort nicht.»

Wenn man es könnte, sollte man?

Seiler: «Wir sollten einfach besser miteinander kommunizieren. Dass man sowohl darauf achtet, wie man etwas formuliert, und gleichzeitig, wie man etwas aufnimmt. Wenn wir anfangen,einzelne Wörter aus dem Vokabular zuverbannen… Wo führt das hin? Das Verbot des Wortes ist keine Lösung. Aber wenn die Betroffenen sich wohlfühlen,akzeptiert sind wie hier am Tisch und mitwirken können, dann…»

Stuber: «Dann fühle ich mich gar nicht…so.»

Seiler: «Genau, dann fühlst du dich nicht behindert und dann hat auch das Wort nur halb so viel Kraft.»

«Mit der Zeit werdenwir alle behindert»Roger Seiler

Sehr viele Menschen haben wenig Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen und wissen teils nicht recht damit umzugehen.Von mitleidigen Blicken bis Gelächter können die Reaktionen stark variieren. Was sagen Sie diesen Menschen?

Stuber: «Letztes Mal war ich auch im Dorf mit dem elektrischen Rollstuhl und habe mich bewusst geachtet, wie die Menschen reagieren. Sehr wenige grüssen überhaupt. Und wenn ich zuerst grüsse, erschrecken die fast.»

Seiler: «Auch das zeigt, wir müssen versuchen, einen normalen Umgang miteinander zu pflegen. Dass man sich sagt:Das ist ein Mensch wie du und ich!»

Schnyder an Aberle:«Kam es vor, dass man dich geneckt hat, als du im Kinderdorf warst?»

Aberle:«Weiss ich gar nicht mehr recht.Etwas gab es da schon, doch ich erinnere mich nicht genau.»

Stuber:«Mich hat man auch gepiesackt,aus dem Sport ausgegrenzt…»

Lochmatter:«Das ist wohl überall so. Das war auch bei mir der Fall.»

Seiler zu Lochmatter:«Und jetzt bist du Schweizer Rekordhalter im Bogenschiessen?!»

Lochmatter:«Ja, jetzt ist es offiziell.»(Gratulationen von allen Seiten)

Seiler:«Genau das ist es. Wie wir jetztreden, uns unterhalten. Jetzt könnten wir eine Pizza bestellen und einfach eine, zwei Stunden diskutieren, und eswäre für alle Beteiligten das Normalste der Welt. Genau das ist es.»

Eine Utopie, eine Wunschvorstellung einer Gesellschaft ohne die ganzen Normen, ohne den andauernden Abgleich am «Normalen».Können Sie Ihre persönliche Utopie kurz in Worte fassen?

Stuber: «Frieden… einander akzeptieren. Verständnis… sowohl für mich wie auch für alle.»

Schnyder: «Zu meiner Utopie gehört ganz klar, dass Andersartigkeit als etwas Positives angesehen wird und dass man interessiert ist, den anderen Menschen kennenzulernen.»

Seiler: «Zeit. Ich arbeite viel mit Zeit.Susi, du sprichst von Verständnis. Verständnis für dich wie auch für andere.Um dieses Verständnis zu erlangen,brauchen wir Zeit. Und das ist eine Art Utopie. Es geht alles so schnell, es herrscht ein enormer Druck und ich weiss, dass es einem Menschen guttut,wenn er mit jemandem zusammen ist,der Zeit hat. Es ist das Wertvollste, was wir schenken oder bekommen können.»
Nathan Anthamatten (Text)
Alain Amherd (Bilder)

NICHTS ÜBER UNS, OHNE UNS

So lautete das Motto des Abends, der von Emera in Zusammenarbeit mit Atelier Manus, Schlosshotel Leuk, Fux campagna, MitMänsch Oberwallis sowie der HES-SO und dem Forum Handicap Valais am 3. Dezember organisiert wurde, am «internationalen Tag der Menschen mit Behinderung». Menschen mit Beeinträchtigungen wirkten von Anfang bis Schluss mit. Zum Beispiel bei der Ansage des Films oder bei der Organisation. Oder auch bei der gemütlichen Gesprächsrunde mit dem «Walliser Boten».
Dabei waren: Martina Schnyder (Geschäftsführerin Schlosshotel Leuk), Jenny Aberle (Mitarbeiterin SchlosshotelLeuk), Susi Stuber (Mitarbeiterin Fuxcampagna), Sven Lochmatter (Mitarbeiter Atelier Manus) und Roger Seiler (Leiter Berufliche Massnahmen Atelier Manus). Das Gespräch wird hier in konzentrierter Form wiedergegeben


Sven Lochmatter.Mitarbeiter Atelier Manus.

 


Martina Schnyder. Geschäftsführerin Schlosshotel Leuk.

 


Roger Seiler. Leiter Berufliche Massnahmen Atelier Manus

 


Jenny Aberle. Mitarbeiterin Schlosshotel Leuk.

 


Susi Stuber. Mitarbeiterin Fux campagna.