Wie viel darf ein Leben kosten?

(NZZ am Sonntag)


Die 21 Monate alte Estelle aus den USA leidet unter spinaler Muskelatrophie. Ihre Versicherung bezahlt 2,1 Millionen US-Dollar für die Behandlung mit Zolgensma. (Walpole, 6.8.2019)

 

Der Pharmakonzern Novartis verlost eine millionenteure Therapie fürtodkranke Kinder. Ethiker kritisieren diese Lotterie. Doch für dieEltern sind Bürokratie und hohe Medikamentenpreise viel schlimmer.Von Birgit Voigt und Regula Freuler

Drama liegt Cedric Lienhart offensichtlich nicht. Der junge Mann wirkt gefasst,zum Gespräch hat er akkurat sortierte Unterlagen mitgebracht: Statistiken,Grafiken, Berichte. Dochso sachlich er erzählt, so tragisch ist die Geschichte seiner Familie. Sein anderthalbjähriger Sohn Felipe leidet unter spinaler Muskelatrophie (SMA). Je nach Schweregrad endet diese seltene Form von Muskelschwund ohne Behandlung tödlich: Die Patienten ersticken.

Seit einigen Monaten setzen Eltern von SMA-Kindern ihre Hoffnungen auf eine neue Gentherapie namens Zolgensma. Sie soll die Funktion des fehlenden oder defekten Gens- der Ursache von SMA – ersetzen. Das Medikament muss nur einmal gespritzt werden.

Dem kleinen Felipe Lienhart nützt das allerdings nicht viel: Zolgensma ist bis jetzt erst in den USA zugelassen – und kostet 2,125 Millionen US-Dollar. Doch nun hat der Hersteller Novartis eine aussergewöhnliche Aktion gestartet: Im Laufe dieses Jahres sollen 100 Dosen von Zolgensma weltweit im Lotterieverfahren verteilt werden, und zwar gratis. Die erste Verlosung fand am vergange-nen Montag statt.

Die Aktion hat Empörung ausgelöst.Novartis spiele mit der Hoffnung der Familien, kritisieren Ethiker. Andere sagen, der Konzern fahre eine Kampagne, um Behördenunter Druck zu setzen und damit die Zulassungsverfahren in anderen Ländern zu beschleunigen. Auch Nicole Gusset, Präsidentin der Patientenorganisation SMA Schweiz, übt Kritik. «Wir halten die Verlosung für unangemessen, da es Voraussetzungen für solche Programme gibt, etwadass keine andere Therapie erhältlich ist»,sagt Gusset. «Doch diese haben wir, nämlich Spinraza.»

Grundsätzlich ist sich auch Novartis des ethischen Problems bewusst, das mit der Lotterie verbunden ist. Dave Lennon, Präsident von Avexis, jener Biotech-Firma, die Zolgensma entwickelt hat und 2018 von Novartis gekauft wurde, sagt: «Die Frage,wer am meisten von der Behandlung profitiert, stellt ein grosses Dilemma dar. Soll das Neugeborene behandelt werden? Es hat noch gar keine Symptome, aber den höchsten Langzeitnutzen. Oder soll das 11-monatige Kind das Medikament bekommen, das schon sehr krank ist? Wir sind offen für bessere Verfahren, solange sie die Bedingungen der US-Zulassung beachten.»

Die Eltern hingegen stossen sich weniger am Losverfahren. Auch Cedric Lienhart nicht. Für ihn ist es einfach eine neue Möglichkeit im Rennen gegen die Zeit. «Felipe bleibt noch ein halbes Jahr Zeit, danach ist diese Chance vorbei», sagt er. Derzeit erhält sein Sohn eine Behandlung mit Spinraza,dem einzigen anderen, erhältlichen Medikament. Es ist seit 2017 hierzulande auf dem Markt. Spinraza muss anfangs im monatlichen, später im vier monatlichen Rhythmus in den Rückenmarkskanal injiziert werden. Das ist nicht nur eine schmerzhafte Angelegenheit, sondern auch mit Risiken behaftet. Denn das Kind erhält fürdie Lumbalpunktion eine Narkose, die zu Atemstillstand führen kann. «Einmal haben wir diese Krisensituation schon erlebt»,erzählt Cedric Lienhart, der neben Felipe noch zwei ältere Kinder hat. Ausserdem besteht die Gefahr, dass die vielen Punktionen im Laufe der Jahre zu schwerwiegenden Infektionen führen.

Spinraza wird nach langem Zögern vonder Invalidenversicherung in der Schweiz bezahlt. Grund für die über Jahre dauernden Verhandlungen mit dem Anbieter war der geforderte Preis. Jede Injektion kostet 92 000 Franken. Geht man von einer lebenslang nötigen Behandlung aus, kostet Spinraza den Versicherer nach zehn Jahren Therapie rund 700 000 Franken mehr als die einmalige Gentherapie Zolgensma von Novartis. Ob diese aber wirklich eine dauerhafte Reparatur des Gendefektes bewirkt,weiss im Moment niemand, weil noch keine Langzeitstudien vorliegen – auch dieser Umstand wird von Ethikern bemängelt.

Felipes Eltern kämpfen trotzdem darum,ihr Kind mit der neuen Gentherapie behandeln zu lassen. Doch die bürokratischen Hürden scheinen zu hoch. Felipes Arzt hat ein Gesuch zur Kostenübernahme für Zolgensma bei der Invalidenversicherung gestellt. Diese «prüft» und lässt sich Zeit mit einem Entscheid – Zeit, die das Kind nicht mehr hat. Aus diesem Grund hat der behan-delnde Arzt nun auch den Versuch gestartet,Felipe bei der Zolgensma-Lotterie zu regis-trieren. Dabei stiess er allerdings auf unklare Kriterien. So verlangte Novartis im Registrierungsformular den Nachweis eines speziali-sierten SMA-Zentrums, das die Therapie verabreichen könnte. «Felipes Arzt kam bei dieser Bedingung aber nicht weiter», sagt Lienhart.

Den Eindruck, dass hier übertrieben hohe Hürden aufgebaut werden, weist Novartis zurück. «Wir haben verschiedene medizinische Zentren in Europa, die sich gerade registrieren, um bereit zu sein, falls sie einen ausgewählten Patienten bekommen», sagt ein Mediensprecher des Pharmakonzerns auf Anfrage. Auch Martin Knob lauch, der Geschäftsführer der Schweizerischen Muskelgesellschaft, ist zuversichtlich: «Ich bin überzeugt, dass sich die neuromuskulären Zentren aller grossen universitären Kliniken dafür qualifizieren.»

Laut Novartis sind in den letzten Tagen erste Patienten per Los ausgewählt worden.«Die Ärzte der betreffenden Patienten sind informiert», sagt der Mediensprecher. Er will aber keine weiteren Angaben dazu machen,wie viele Behandlungen erfolgen werden und in welchen Ländern.

Doch Unklarheiten finden sich nicht nur bei Novartis. Auch die Haltung der zuständigen Schweizer Behörden zur allfälligen Behandlung der kleinen Patienten mit derneuartigen, wenig erprobten Therapie ist widersprüchlich. Die Heilmittelbehörde Swissmedic erklärt einerseits, dass nach neuem Heilmittelrecht für einzelne Patienten nicht zugelassene Arzneimittel importiert werden dürfen.

Doch das neue Heilmittelgesetz erlaubt die Ausnahme nur, wenn es kein bereits inder Schweiz zugelassenes Therapeutikum gibt. Genau dies ist hier aber der Fall, nämlich mit Spinraza. Die Verabreichung des Medikaments ist jedoch, wie geschildert, mithohen Risiken behaftet. Die Frage, ob die Gentherapie Zolgensma in der Schweiz über ein Patientenzugangsprogramm angeboten werden darf, ist deshalb offen. Doch genau eine solche Bestätigung fordert wiederum das Novartis-Zugangsprogramm von den zuständigen Behörden.

Grund der ganzen Schwierigkeiten rund um den Zugang zu solchen Gentherapien sind die hohen Preise. Ob sie sich bei Medikamenten gegen spinale Muskelatrophie längerfristig durchsetzen lassen, ist noch nicht entschieden. Auch der Pharmakonzern Roche will bald eine solche Therapie auf den Markt bringen. Das dürfte die Preise unter Druck bringen.

Unabhängig von der Preisdebatte läuft inder Schweiz noch eine weitere Diskussion:Soll man alle Neugeborenen standardmässig auf spinale Muskelatrophie testen? Laut Martin Knoblauch sind Fachleute von der Notwendigkeit überzeugt und wollen jetzt darauf hinarbeiten.

In den USA sind solche Neugeborenen-Screenings schon eingeführt. In der Schweiz hingegen muss die Krankheit erst sichtbar werden, bevor gehandelt wird. Für die Patienten und ihre Angehörigen ist das fatal,denn je früher Kinder behandelt werden,desto besser sind ihre Chancen auf eingesundes Leben. «Bei einer sofortigen Behandlung hätte Felipe die Aussicht auf dieselbe Entwicklung gehabt wie andere Kinder», sagt Cedric Lienhart.

Seltenes Leiden

Mindestens fünf Kinder werden jährlich in der Schweiz mit spinaler Muskelatrophie geboren. Allgemein ist eines von 10 000 Neugeborenen betroffen.