«Wir gehen aktiv auf die Leute zu»

(Sozial Aktuel)

Wie das Luzerner Sinfonieorchester die Musik zu den Menschen bring
Text: Ursula Binggeli

Wenn Mitglieder eines Orchesters und Menschen mit geistiger Behinderung sich im KKL Luzern über Musik austauschen, wenn ein Bus mit integrierter Bühne klassische Klänge in die Bergtäler der Zentralschweiz bringt, wenn Streicher und Bläser im Pflegeheim aufspielen – dann steckt dahinter das Luzerner Sinfonieorchester. Der niederschwellige Zugang zur Musik ist hier Anspruch und Programm zugleich.

Auweia! Das war die erste Reaktion von Judith Schilling, Unternehmensleiterin bei der Stiftung Brändi, als sich vor zwei Jahren eine Vertreterin des Luzerner Sinfonieorchesters telefonisch bei ihr meldete, um Begegnungsmöglichkeiten zu besprechen – etwa einen Konzertbesuch im Luzerner KKL. «Ich war zuerst etwas ratlos», sagt die Vorsteherin eines Wohnhauses für Erwachsene mit leichter geistiger Behinderung in Horw. «Unsere Bewohnerinnen und Bewohner hören eigentlich lieber Schlager und Volksmusik, weil man da gut mitsingen kann. Klassik ist ihnen eher fremd.» Dennoch: Das Gespräch mit Diana Lehnert, der leitenden Musikvermittlerin beim Luzerner Sinfonieorchester, war der Anfang einer Zusammenarbeit. Judith Schilling fand einen Weg, das Angebot des Sinfonieorchesters eingepackt in vertraute Alltagsstrukturen unter die Leute zu bringen: Der im Bereich Wohntraining auch für die Bildung zuständige Sozialpädagoge schlug seiner Gruppe den Besuch im KKL Luzern vor – und alle machten mit. Die Musikvermittlerin Diana Lehnert wiederum erarbeitete ein Programm, das neben einer Einführung in einfacher Sprache und einem konzertanten Teil auch einen Blick hinter die Kulissen vorsah und ein Gespräch mit Mitgliedern des Orchesters. Es sei vor allem der persönliche Austausch gewesen, der Kontakt von Mensch zu Mensch, der für die Bewohnerinnen und Bewohner zu einer Horizonterweiterung geworden sei, sagt Judith Schilling. Sie ist mittlerweile Mitglied des inklusiven Fachbeirats des Orchesters, eines Gremiums von Fachleuten aus sozialen Institutionen, welche die Bedürfnisse und Interessen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen einbringen. Ein Projekt für 2019 ist die mögliche Teilnahme der «Brändisingers» als Gast-Chor am Weihnachtssingen im KKL. «Wir wären auch interessiert an einem Workshop mit Schlaginstrumenten», denkt Judith Schilling weiter in die Zukunft.

Ein Orchester, das für alle da ist

Das Luzerner Sinfonieorchester ist das Residenzorchester des KKL und das Opernorchester des Luzerner Theaters. Das älteste Orchester der Schweiz, Gründungsjahr 1805, war hierzulande die erste klassische Formation, die für die Musikvermittlung eine eigene Stelle schuf. Das war 2008, und Diana Lehnert – Querflötistin und Musikpädagogin – begann bei null. Sie habe in den ersten Jahren ihrer Anstellung ständig telefoniert, erinnert sie sich, habe Anstösse gegeben, Ideen ausgearbeitet, wie die Musik des Orchesters auch Leute erreichen könnte, die keine der «normalen» Konzerte besuchen. «Das KKL ist ja nicht gerade ein Haus, in das man einfach so hineinspaziert. Die Leute denken oftmals, es sei zu elitär, zu teuer für sie. Und auch beim Zugang zu klassischer Musik liegt die Schwelle hoch, auch für Menschen ohne Beeinträchtigungen.»

Auch intern galt es, die Projekte der Musikvermittlung allen Beteiligten zu erläutern, in erster Linie natürlich den rund siebzig Musikerinnen und Musikern, deren diesbezügliches Engagement in der Regel ausserhalb des regulären Konzertprogramms stattfindet. In einem ersten Schritt entstand ein breit gefächertes Angebot für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, für Kinder, Jugendliche, Familien – inszenierte Konzerte für Familien, Probenbesuche für Schulklassen, Musikworkshops und vieles mehr. In der Folge begann sich der Fokus auch auf Gruppen zu richten, für die der Zugang zu den Angeboten speziell erschwert ist. Sei es wegen Beeinträchtigungen oder weil die Anfahrt zu umständlich ist. Den Anfang machten Workshops in Heilpädagogischen Schulen und ein Zusatzangebot für Menschen mit Demenz rund um die Lunchkonzerte, in Zusammenarbeit mit der Alzheimervereinigung Luzern.

Der Musikwagen

2011 kam dann der Intendant des Orchesters, Numa Bischof Ullmann, mit der Idee eines «Musikwagens» auf Diana Lehnert zu – eines «fahrenden Konzertsaals», welcher die Musik hinaus aufs Land bringt, bis in die abgelegensten Talschaften. Seit 2014 ist der Musikwagen Realität: Ein neun Meter langes, speziell für das Sinfonieorchester gebautes Gefährt aus Holz, dessen Inneres Platz für ein Ensemble des Orchesters und eine Schulklasse bietet. «Im Musikwagen geht es in erster Linie ums Musikhören», sagt Diana Lehnert dazu. «Aber im Rahmen von Workshops dann auch um das Sammeln von Klängen, ums Selber-Komponieren.» Und das können alle, sagt sie. Denn: «Wer möchte, kommt ganz schnell ins Musizieren, mit der eigenen Stimme und dem Körper, mit Alltagsgegenständen, mit Naturmaterialien, die im Musikwagen auch zu finden sind.» Auch hier sind es die Begegnungen mit den Musikerinnen und Musikern, die rasch Nähe herstellen, auch zur Welt der klassischen Töne. Der Wagen ist mindestens zwölf Wochen im Jahr unterwegs, vorwiegend in der warmen Jahreszeit, und stand schon auf Dorf- und Pausenplätzen, in Asylzentren und vor Heimen.

Stationskonzerte für Betagte – Konzertbegleitungen für Sehbehinderte

In den letzten zwei Jahren sind im Rahmen des Bereichs «Inklusion & Soziales Engagement» nun weitere Angebote dazugekommen. Da sind zum einen die sogenannten Stationskonzerte. Hochbetagten oder kranken Personen sind Konzertbesuche oft kaum mehr möglich. Deshalb besuchen Ensembles des Sinfonieorchesters nun Alterszentren und Pflegeheime. Die Idee stammt von einer Musikerin des Orchesters. Einem öffentlichen Konzert im Saal der Institution folgen jeweils in den nächsten Tagen halbstündige Auftritte auf den einzelnen Abteilungen, auch hier mit Gelegenheit zum anschliessenden Gespräch mit den Musikern. Ebenfalls neu ist das Angebot der Konzertbegleitung für blinde und sehbehinderte Menschen. Das in Kooperation mit der Fachstelle Sehbehinderung Zentralschweiz entwickelte Pilotprojekt ermöglicht es ihnen, für einen Konzertbesuch eine Begleitperson zu buchen, die sie auf Wunsch vom Bahnhof oder von der Busstation abholt, sie ins KKL Luzern begleitet und dabei wo nötig unterstützt. Nach dem gemeinsamen Konzertbesuch geht es dann zurück zu Zug oder Bus. Die rund zwanzig Freiwilligen, die sich dafür zur Verfügung stellen, sind von Mitarbeitenden der Fachstelle Sehbehinderung in einem Workshop auf ihre Aufgabe vorbereitet worden. Wer noch nicht vom inklusiven Gedanken profitieren kann, sind die Blindenhunde: Sie müssen am Eingang zum Konzertsaal abgegeben werden. Doch das soll sich ändern, in absehbarer Zeit steht ein entsprechen der Pilotversuch an.

Die Voraussetzungen fürs Gelingen

Die Faktoren fürs Gelingen seien bei allen Projekten letztlich dieselben, sagt Diana Lehnert. «Wir müssen aktiv auf die Leute zugehen.» Die Angebote müssen bedürfnisgerecht sein, und die Informationen dazu müssen dem Zielpublikum auf eine passende Weise kommuniziert werden. Um über neue Angebote zu orientieren, nutzt das Sinfonieorchester deshalb die Kommunikationskanäle der Kooperationspartner im Sozialbereich: Magazine, Newsletter, Monatsbriefe. Auf diese Weise gelangen die Informationen am einfachsten zu den Leuten. »Die Institutionen und Verbände sind für uns wertvolle Multiplikatoren. Ohne sie würde es nicht funktionieren.» Wichtig ist zudem der Geist der »Willkommenskultur», der durch die Einladungstexte wehen muss, und eine Sprache, die leicht verständlich ist. Nicht zuletzt müssen die Angebote auch finanziell niederschwellig, sprich erschwinglich sein. Das ist nur möglich, weil sämtliche Aktivitäten der Musikvermittlung des Luzerner Sinfonieorchesters vollumfänglich von Stiftungen und Gönnerinnen und Gönnern finanziert werden.

Inklusive Kultur – das Label

Seit der vorletzten Konzertsaison trägt das Luzerner Sinfonieorchester das Label «Kultur inklusiv». Ein Label, das nicht als Preis für Erbrachtes vergeben wird, sondern als Zeichen einer Verpflichtung zu inklusiver Kulturtätigkeit, die die Labelträger für die kommenden Jahre eingehen. Das sagt Silvan Rüssli, Leiter der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis, die das Label betreut. «Wir schliessen mit den Kulturinstitutionen, die unser Label tragen, nach genauen Abklärungen und dem gemeinsamen Erarbeiten von Zielsetzungen eine Leistungsvereinbarung für die nächsten Jahre ab.» Dabei geht es um Entwicklungsschritte in ver- schiedenen Handlungsfeldern; diese reichen von der Um- setzung ganzheitlich-inklusiver Programm- und Vermittlungsangebote über Erleichterungen der Sicht- und Hörbarkeit der kulturellen Inhalte bis zur barrierefreien Kommunikation aller Informationen und Massnahmen. «Fördergeld fliesst bei unseren Verträgen keines, aber wir begleiten die Institutionen fachlich auf ihrem Weg Richtung Inklusion und überprüfen die Fortschritte regelmässig.» Nach jeweils vier Jahren wird das Label bestätigt – oder entzogen. Die Verpflichtung zum Abbau von Schwellen im Kulturbereich basiert für Silvan Rüssli zum einen auf dem Gebot der kulturellen Teilhabe der ganzen Gesellschaft, auf die auch der Bund in seiner Kulturbotschaft für die Jahre 2016 bis 2020 einen besonderen Schwerpunkt gelegt hat. »Die andere Vorgabe ist für uns ganz klar die UNO-Behinderten rechtskonvention.» Zu den Labelträgern gehören Kulturinstitutionen aus allen Sparten. Aus dem Bereich der Klassischen Musik ist mittlerweile ein weiteres Orchester dabei: das Sinfonieorchester Basel.

Inklusive Kultur – der Preis

Anfang Dezember 2018 ist das Luzerner Sinfonieorchester für sein gesamtes Musikvermittlungsprogramm mit dem «Junge Ohren Preis» ausgezeichnet worden. Dieser wird von einem renommierten deutschen Netzwerk für Kulturvermittlung an Institutionen verliehen, die sich durch innovative und nachhaltige Musikvermittlung auszeichnen. Aus der Jurybegründung: «Das Luzerner Sinfonieorchester setzt ein deutliches Zeichen für den Stellenwert dieses Bereichs innerhalb der Institution. (…) Besonders hervorzuheben ist das inklusive Konzept, das Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sowie sozial benachteiligte Gruppen zu Begegnungen mit Musik einlädt.»

Links
www.sinfonieorchester.ch
www.kulturinklusiv.ch