«Wir wollen weg vom Arme-Leute-Image»

(Walliser Bote)

Interview Procap-Chef Christophe Müller hat ein klares Ziel


Sieht eine positive Entwicklung. Christophe Müller, Geschäftsführervon Procap Oberwallis.FOTO WB

 

Christophe Müller, Procap feiert ihr 75-Jahr-Jubiläum,inwiefern hat sich die Organisation verändert?

«In der Anfangszeit waren die Sozialversicherungen noch nicht so weit ausgebaut wie heute. Die Procap musste also viel Direkthilfe leisten. Das ist inzwischen nicht mehr der Fall. Heute macht die Procap vor allem Beratungen und organisiert gesellschaftliche Anlässe. Dazu wurden die Strukturen deutlich professionalisiert.»

Die Wahrnehmung vonMenschen mit einem Handi-cap hat sich gewandelt…

«Genau. Wir wollen mehr weg vom Image, dass Handicapierte alles arme Leute sind, denen man ein paar Almosen gibt. Viele Betroffene sind berufstätig. An dieser Inklusion in das gesellschaftliche Leben arbeiten wir schon lange.Unter unseren über 1000 Mitgliedern sind beispielsweise 200 Solidarmitglieder ohne Handicap. Bei den Anlässen, die wir organisieren, unterscheiden wir nicht zwischen Menschen mit oder ohne Handicap.»

Was ist nötig, damit sich Menschen mit Handicap dazugehörig und nicht als Randgruppe fühlen?

«Erst einmal braucht es das Denken, dass sie nicht anders sind. Man muss sie so nehmen, wie sie sind. Schliesslich machen sie es bei uns genauso. Dazu gehört auch,dass man ihnen gegenüber nicht immer nach gibt. Man muss ihnen genauso Schranken setzen wie jedem anderen. In dieser Hinsichthat sich in der Vergangenheit aber schon einiges getan.»

Inwiefern?

«Einerseits ist der Anteil der Menschen mit Handicap, die an unseren Anlässen teilnehmen, zurück-gegangen. So fuhren wir früher jeweils mit drei oder vier Bussen nach Meran – inzwischen reicht einer. Viele Handicapierte reisen ganz normal. Ein weiteres Indiz:Unser Bauberater musste im letzten Jahr bloss für eine Person individuelle bauliche Anpassungen planen. Das ist ein Zeichen dafür,dass die Gesetze greifen. Neue Wohnungen müssen so gebaut werden,dass sie ohne Probleme angepasst werden können oder bereits komplett schrankenfrei sind.»

Wie steht es um die Akzeptanz von Handicapierten inder Arbeitswelt?

«Die verschiedenenIV-Revisionen haben hier Möglichkeiten geschaffen. Bei vielen Arbeitgebern herrscht jedoch die Angst vor, dass man jemanden mit Handicap, einmal eingestellt, nicht mehr entlassen kann Dem ist nicht so. Wird jemand für eine Funktion eingestellt, die er nicht erfüllen kann,kann diese Position genauso neu besetzt werden. Der Arbeitgeber muss für die Inklusion aber auch die restliche Belegschaft mit ins Boot holen. Diese Integration ersetzt aber keine Werkstätten wie ein Atelier Manus. Die wird es immer brauchen. Und auch dort braucht es Wahlmöglichkeiten fürHandicapierte.»
(Interview.mas)

Revision der Invalidenversicherung
IV-Reformunter Sparzwang

Die geplante Revision der IV hat gute und schlechte Seiten, sagt Staatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten. Das Dossier kommt demnächst in den Ständerat. Beat Rieder betont, dass man dort keine Vorlage durchwinken werde, die nicht sozialverträglich sei. Er betont aber auch den Sparzwang.

Mit über zehn Milliarden steht die Invalidenversicherung (IV) beim AHV-Fonds in der Kreide. Das ist nicht nur für die IV, sondern auch für die AHV ein Problem.«Wir müssen den finanziellen Druck aus diesen Werken herausnehmen. Nur so können sie in Zukunft richtig arbeiten», sagt Ständerat Beat Rieder an der Generalversammlung von Procap. Die AHV-Steuervorlage sowie die geplante IV-Revision würden nicht überall auf Gegenliebe stossen. Doch sie würden die Werke entlasten. Wenn dieser Kompromiss nicht durchkomme, habe das Konsequenzen, ist Rieder überzeugt.

«Wir wissen aus den letzten Diskussionen, dass mitder Reform auf Einsparungen abgezielt wird», sagtStaatsrätin Esther Waeber-Kalbermatten, die noch vor Rieder ihr Wort an die Versammelten richtet. In einigen Bereichen werde sie sicher Verbesserungen bringen. So will die Reform gerade für junge Leute Anreize schaffen. Doch mit den geplanten Kürzungen bei den Kinderrenten oder bei den Reise-Entschädigungen vonKindern mit Geburtsgebrechen beinhalte die Revision klare Verschlechterungen für die Betroffenen. Dazu höre sich das geplante stufenlose IV-Rentensystemzwar gerecht an, da sich dadurch eine Erwerbstätigkeit in jedem Fall auszahlen soll, doch auch hier sieht sie Sparabsichten verborgen. Waeber-Kalbermattenwünscht sich für dieses wichtige Dossier deshalb eine richtige Debatte. Dabei seien alle gefordert: der Verband, die Regierung sowie demnächst der Ständerat.

«Ich bin überzeugt, dass der Ständerat die IV-Revi-sion sehr genau anschauen wird und keine Vorlagedurchlässt, die nicht sozialverträglich ist», versichert Rieder im Anschluss.(mas)

KOMMENTAR
Wunschdefizit
Die Sozialversicherungen stehenunter Dauerdruck. Bei der AHV beträgt die prognostizierte Finanzierungslücke bis 2030 sieben Milliarden, bei der IV liegtein Schuldenberg von zehn Milliarden. Ohne grosse Reformen droht die Insolvenz, tönt es vonüberallher. Die Defizite sind fürdie Mitte- und Rechtsparteienein gefundenes Fressen und sogar erwünscht, damit gekürzt werden kann. Die Löcher in den Sozialwerken werden dann schön verteufelt – womit man völlig ausser Acht lässt, dass sie auf einer ganz anderen Stufe stehen, als Ausgaben für Kampfflugzeuge. Für den Kauf von Fliegern muss der Bund andere Ausgaben zurückstellen. Bei den Sozialversicherungen hingegen handeltes sich im Prinzip um eine reine Umverteilung. Das heisst: Der Bund kassiert das Geld bei den einen ein und gibt es an die Pensionierten und jene weiter, die nicht an der Arbeitswelt teilnehmen können. So haben am Ende alle ihren Lebensunterhalt gedeckt. Der Bund müsste bloss den Missbrauch verhindern.Dann könnte er die Sozialwerke auch gleich ins Bundesbudget aufnehmen. Ein wirtschaftlich gesundes Land muss in der Lage sein, für seine Handicapierten und Rentner aufzukommen.Sonst versagt das Land irgendwo ganz gewaltig.(Martin Schmidt)