Wo Behinderte im Alltagauf Hürden stossen

(Südostschweiz am Wochenende / Linth Zeitung)

Wo steht der Kanton St. Gallen in seiner Behindertenpolitik und welche Schwerpunkte sind in den nächstenJahren geplant? Eine Tagung mit Betroffenen gewährt Einblicke und zeigt auf, wo noch viel zu tun ist.


Angeregte Podiumsdiskussion: Vertreter von Behindertenorganisationen erzählen von ihren Erfahrungen.RAMONA NOCK

 

VON RAMONA NOCK

Eine Frau mit einem Blindenhund, unterwegs in der Stadt St. Gallen. Geschickt bahnt sie sich am Bahnhof den Weg zum richtigen Perron, erkennt Hindernisse durch Abtasten und meistert Treppen und Trottoirs gleichermassen.

Was einfach aussieht trügt. Domenica Griesser, die Frau aus dem Video mitschnitt, musste vieles von Grund auf neu lernen. Seit ihrer Jugend ist sie blind, plötzlich sah sie Trottoirränder nicht mehr, stiess in andere Menschen und Gegenstände. «Eine Sehbehinderung stellt das ganze Leben auf den Kopf»,schildert sie. «Man muss sich neu orientieren und sein Leben neu sortieren.»

Mitmachen und mitbestimmen

Heute ist Griesser Vorstandsmitglied des Schweizerischen Blindenverbandes. Als Vertreterin einer Behindertenorganisation hat sie am Donnerstag im Pfalzkeller St. Gallen die Tagung des Kantons zur Zukunft der Behindertenpolitik eröffnet.Vertreter verschiedener Behinderteninstitutionen wollten sich ein Bild darüber machen, welche behindertenpolitische Akzente der Kanton in den nächsten Jahren setzen will. «Mitreden, mitmachen,mitbestimmen» lautete das Motto.

Das Motto sei gleichermassen das Zielder kantonalen Behindertenpolitik, erklärte Regierungsrat Martin Klöti (FDP).Anfang Jahr hat der Kanton einen sogenannten Wirkungsbericht veröffentlicht.Dieser soll aufzeigen, wie die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderung aussehen und ob sie der Gesetzgebung entsprechen. «Wie wirkt das Gesetz und was ist zu verbessern?», veranschaulichte Klöti. Menschen mit Behinderung sollten etwa keine Nachteile haben und nicht ausgegrenzt werden.

Aus diesem Grund hat das Amt für Soziales die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Kanton untersucht.Mit dem Ergebnis: Es gibt noch Handlungsbedarf. Zum Beispiel würden Betroffene im Alltag oft daran scheitern,dass etwas kompliziert sei, Geld koste,oder dass sie eine Begleitung bräuchten.Auch würden sich Arbeitgeber zu wenig Gedanken darüber machen, wie sie jemanden mit Handicap einstellen könnten.

400 000 Franken vom Kanton

Aufgrund der Ergebnisse des Berichts hatder Kanton Massnahmen bestimmt und macht Empfehlungen für den Zeitraum 2019 bis 2023. Konkret sind drei Pilotprojekte geplant. Mit einem Förderkredit von 400 000 Franken kann der Kanton ab Mai jedes Jahr 80 000 Franken für nachhaltige Projekt sprechen – Projekte,die Menschen mit einer Behinderung stärken und bei denen sie aktiv mit wirken. Zudem will der Kanton zusätzliche Nischenarbeitsplätze in der kantonalen Verwaltung schaffen. Im dritten Pilotprojekt geht es darum, dass Betroffene vermehrt andere Betroffene beraten -zum Beispiel bei einem Wechsel von einer Wohngruppe in eine eigene Wohnung.

Alle mit einbeziehen

Am Bericht haben die Verteter von kantonalen Behindertenorganisationen sowie Angehörige und Fachleute mitgewirkt. Domenica Griesser sagt, sie habe diesen Prozess als sehr fruchtbar erlebt.«Es war ein Novum, dass erstmals verschiedene Behindertengruppen am gleichen Tisch über das gleiche Thema sprachen», schilderte sie. Ihr sowie anderen Betroffenen sei nämlich wichtig, «dass man Entscheidungen nicht über uns Behinderte fällt, sondern mit uns».

In anschliessenden Podiumsgesprä-chen hatten Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung sowie Vertreter von Behindertenorganisationen die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge darzulegen und auf Alltagsschwierigkeiten hinzuweisen. So seien zahlreiche Homepages nicht barrierefrei, sagte Griesser.Auch beim Ausfüllen von Formularen im Internet würden Blinde an ihre Grenzen stossen.

80 000 Franken kann der Kantonab Mai jedes Jahr für nachhaltige Projekte sprechen – Projekte,die Menschen mit einer Behinderung stärken und bei denen sie aktiv mit wirken.

Ein Problem für Menschen mit einer geistigen Behinderung sei das Amtsdeutsch, sagte Hansueli Salzmann, Geschäftsleiter Procap St. Gallen-Appenzell «Sie sind darauf angewiesen, dass etwa Abstimmungsunterlagen in einfacher Sprache abgefasst sind.» Ob dem «Amtsdeutsch» würden Betroffene nämlich teils verzweifeln.

«Wohngruppe» statt «Heim»

Auch das Thema Wohnen gibt in Behinderteninstitutionen zu reden. Wie Therese Wenger von Pro infirmis St. Gallen-Appenzell darlegte, geht es vor allem um das Thema Wahlfreiheit. Menschen mit einer Behinderung müssten genügend darüber informiert werden, was eine Wohnung oder eine Wohngruppe bedeute, wo Möglichkeiten und Grenzen lägen.Klar wurde an diesem Nachmittag auch: Betroffene sind oft unzufrieden mit Begriffen, welche die Gesellschaft für sie bestimmt hat. Wie ein Votum aus dem Publikum zeigte, empfinden Betroffene den Begriff «Wohnheim» als diskriminierend. Dies, weil es den Fokus auf die Behinderung lege. «Lieber wäre uns das Wort Wohngruppe», sagte eine junge Frau. «In einer Wohngruppe zu wohnen,ist cool – man denkt dabei an eine WG,nicht an ein Heim für Behinderte.

Drei Fragen an…


HANSUELI SALZMANN Geschäftsleiter Procap St. Gallen-Appenzel

 

1 Welche der angekündigten Akzente der kantonalen Behindertenpolitik stehen für Sieim Zentrum?

Für Menschen mit einer Behinderung ist der Zugang zu finanziellen Mitteln, die für sie existenzsichernd sind, oft mit vielen Hürden verbunden. Beispiele sind Ergänzungsleis tungen oder IV-Gelder. Deswegen begrüsse ich den Förderkredit von 400 000 Franken, den der Kantondie nächsten fünf Jahre für entsprechende Projekte bereitstellt. Es wird sich zeigen, wie niederschwellig dieses Angebot für Menschen mit einer Behinderung ist – ob sie solche Gelder selber beantragen können oder dafür eine Organisation im Rücken brauchen. Wünschenswert wäre, dass es für sie einen einfachen Zugang zu diesen Mitteln gäbe.

2 Wo besteht aus Ihrer Sichtaktuell der grösste Hand-lungsbedarf für Menschen miteiner Behinderung?

Was oft fehlt, ist der hindernisfreie Zugang zu öffentlichen Gebäuden.Museen oder Konzerte sollen auch Personen mit Handicap autonom besuchen können. Dies sollte bei Neubauten unbedingt bedacht werden. Aktuell sind nämlich die meisten Betroffenen auf Unterstützung aus ihrem Umfeld angewiesen.Auch beim öffentlichen Verkehr sind wir noch nicht dort, wo wir gern wären. Ohne Fremde um Hilfe zufragen oder jemanden als Begleitperson dabei zu haben, ist es für viele Menschen mit einer Behinderung schwierig, den ÖV zu nutzen.

3 Der Kanton will Begegnun-gengen zwischen Menschenmit einem Handicap und derBevölkerung fördern. Wo stehenwir diesbezüglich heute?

Ich denke, für viele ist es nach wie vor eine grosse Hemmschwelle, im Alltag Menschen mit einer Behinderung anzusprechen. Was ich oftmals von Betroffenen höre, ist, dass sie von Fremden einfach geduzt werden. Damit setzt man sie auf ein kindliches Niveau, was verletzend ist. Hier braucht es ein Umdenken: Menschen mit einer Behinderung sollen in erster Linie als Menschen wahrgenommen werden und nicht kategorisiert und auf ihre Defizite reduziert werden.