Wortlos,aber nichts prachlos

(Schaffhauser AZ)


Gehörlose müssen viele Barrieren überwinden. Vor allem jene, die Hörende im Kopf haben.

 

Romina Loliva


Kommunikation

 

Christa Notter, Patty Shores und Roland Hermann unterhalten sich angeregt. Es ist Montag, der Kantonsrat berät gerade das Budget fürdas nächste Jahr. Draussen im Regen verteilen die Staatsangestellten harte Brötchen. Im Saal geht es um eine langersehnte Lohnerhöhung und um weitere Krümel, um die das Parlament während des Tages streiten wird. Die drei sitzen auf der Tribüne und verfolgen die Debatte. Unten geben die Kantonsrätinnen und -räte ihre Voten zum Besten. Nach der Aufwärmrunde bei der Eintretensdebatte ringen sie in der Detailberatung um jeden Franken.

Plötzlich ruft Hermann aus. Der Ärger steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Frau,Patty Shores, mahnt ihn, ruhig zu bleiben. Der Mann aber rückt seine Hornbrille zurecht und wirft die Arme hoch. Was im Saal diskutiert wird, passt ihm ganz und gar nicht. Das merkt aber kaum jemand. Denn Hermann ist, wie die anderen an diesem Morgen auf der Tribüne,gehörlos. Wenn er spricht, hört man ihn nicht, man sieht ihn. Nur aus dem Ratssaal schaut niemand zu ihm hoch.

Unsichtbare Minderheit

Laute macht der Mensch vom ersten Moment seines Lebens an. Was zuerst ein Schrei ist, wandelt sich schnell in Silben, Melodien, in Worte und Sätze. Sprache ist die Basis für Kultur, Gesellschaft und Zivilisation und ist so vielfältig wie der Mensch selbst. Weltweit gibt es gemäss Max-Planck-Institut zwischen 6500 und 7000 verschiedene Sprachen. Dass uns Laute über die Lippen kommen, wenn wir den Mund aufmachen, ist selbstverständlich. Nur gilt das nicht für alle. Denn die gesprochene Sprache entwickelt sich nur dank dem Gehör. Ist diese Fähigkeit beeinträchtigt, müssen die Betroffenen ausweichen, auf Zeichen und Gebärden.Das machen sie vollkommen natürlich. Die Gebärdensprache ist ihre Muttersprache. Eine, die ausserhalb der gehörlosen Gemeinschaft jedoch fast niemand versteht oder gar spricht.

In der Schweiz, wo Kinder bereits im Kindergartenalter mit verschiedenen Sprachen in Berührung kommen, ist die Gebärdensprache eine Randerscheinung. Obwohl es rund 10000 nicht Hörende gibt, die 12 Dialekte der Deutschschweizer Gebärdensprache sprechen,ist diese kaum ein Thema. Schulen, Kulturinstitutionen, Behörden: Nirgends kommt sie zum Einsatz. Gehörlose besuchen eigene Schulen, für jede Kommunikation mit Hörenden ist eine Übersetzung nötig. Die Barrieren sind überall. Im Zug verpassen sie die Durchsagen, im Restaurant bekommen sie nicht das,was sie bestellt haben. Bei Notfällen können sie nicht einfach die 144 wählen. Und wenn sie nach dem Weg fragen müssen, bleibt niemand stehen. Sie sind unsichtbar.Das soll sich ändern.

Lobbyoffensive

Inzwischen ist es Mittagszeit. Die meisten Kantonsrätinnen und -räte sitzen irgendwo vor dampfenden Tellern. Nach der Pause wird bis zu später Stunde debattiert. Ein paar bleiben aber im Foyer des Kantonsratssaals, wo ein kleiner Apero stattfindet Bei Chäschüechli und Weisswein heisst der SP-Kantonsratspräsident Andreas Frei die Mitglieder der Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen willkommen. Der Anlass wird zum 25. Jubiläum der Gesellschaft organisiert. Der Kantonsratspräsident hat die Mitglieder eingeladen und für eine professionelle Übersetzung durch zwei Dolmetscherinnen während der ganzen Debatte am Vormittag gesorgt. Für den Kantonsrat ein Novum. Schon öfters waren fremdsprachige Delegationen zu Gast, Gehörlose jedoch nie.

Eine gute Gelegenheit, um für die eigenen Anliegen zu lobbyieren. Denn die Gehörlosen haben viel zu sagen. «Natürlich interessiere ich mich für Politik», erzählt Christa Notter. Die 43-Jährige aus Beringen ist Stellenleiterin des-Vereins für Sprache und Integration Dima. «Ich gehe abstimmen und wählen und würde gerne mehr mitwirken», sagt sie entschieden, aber das gehe schlicht nicht. Auch die anderen Anwesenden, die sich während der kantonsrätlichen Sitzung ausführlich über die diskutierten Themen unterhalten haben, betonen, dass sie das alles sehr interessiere: «Ich bin ein aktiver Bürger», sagt Roland Hermann, «ich habe eine Meinung», seine Frau und er seien auch Mitgliederder SP. Aber für den Kantonsrat zu kandidieren? Das sei im Moment undenkbar. «Wir gehen vergessen», fügt seine Frau, Patty Shores, an.

Die anwesenden Politikerinnen und Politiker zeigen Verständnis. Lorenz Laich, der bald von Andreas Frei das Präsium des Kantonsrats erben wird, ist sichtlich erfreut: «Wir klagen immer über Desinteresse. Es ist schön,zu sehen, dass es Menschen gibt, die sich beteiligen wollen», sagt der FDP-Mann. Freude allein reicht jedoch nicht Der Kanton ist auf die Mitwirkung von Gehörlosen absolut nicht vorbereitet. Es gibt keinen Übersetzungsdienst,keine visuellen Kommunikationsmittel. Ein Parlament, das ausschliesslich auf dem gesprochenen Wort basiert, ist mit der Inklusion von nicht Hörenden überfordert. Auch das aktive Wahlrecht und das Abstimmungsrecht stellen Gehörlose vor Probleme. Denn entgegen der geläufigen Meinung, dass Lesen für Gehörlose kein Problem sei, ist die Schriftsprache für viele eine grosse Hürde. Die Deutsche Gebärdensprache ist nicht Deutsch in Gebärden, sondern ein Sprachsystem mit einer eigenen Grammatik,das sich von der Laut- und Schriftsprache deutlich unterscheidet Komplexe Texte zu lesen, ist für nicht Hörende eine Herausforderung. Immerhin habe der Bund reagiert, erzählt Shores:«Das Abstimmungsbüchlein gibt es nun auch als Video in Gebärdensprache, das erleichtert uns den Zugang zur Demokratie», vom Kanton erwarte man eigentlich dasselbe.

«Wir werden behindert»

Ob etwas geschehen wird, ist unklar. Dringender scheint es für die anwesenden Gehörlosen, dass man sie ernst nimmt. Und das fängt mit dem Abbau der Barrieren an, die die Hörenden im Kopf haben. «Wir sind nicht behindert», erklärt Christa Notter, «wir werden behindert.» Immer wenn es darum gehe, Inklusion zu fördern,würde die Kostenfrage gestellt und mit ihr diejenige der Verhältnismässigkeit: Ist es gerechtfertigt, Geld für eine Minderheit auszugeben? «Mit einem Preisschild versehen zu werden, ist ziemlich diskriminierend», sagt sie weiter.

Und dann geht es noch um den Respekt:Gehörlose sprechen mit Gesten, ihre Mimik istentscheidend, der Körpereinsatz gibt dem Gesagten Ausdruck, vermittelt Emotionen und Intention. Das alles verpasst man, wenn man sie nicht anschaut oder davon ausgeht, das ssie eine geistige Beeinträchtigung hätten. Was lange Zeit die Regel war. Bis Ende der 1980erJahre war es Gehörlosen in vielen Fällen verboten, die Gebärdensprache zu gebrauchen, man zwang sie, mit Stimme zu sprechen.

Dreissig Jahre später braucht es den Perspektivenwechsel, ein breiteres Verständnis von Kommunikation, die auch heissen kann: Hinschauen. Und vielleicht wird künfig manches Mitglied des Kantonsrats öfters den Blick nach oben richten.

Gehörlose haben vielzu sagen, auch in Bezugauf die Politik. Das siehtman.Peter Pfister

 

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