IV-Bezüger müssensich wieder einglieder

(Neue Zürcher Zeitung)

Leiturteil zur Integration in die Arbeitswelt
KATHRIN ALDER

Das Gesetz ist klar: Bezüger einer IV-Rente haben laut Artikel 8 des Invali-denversicherungsgesetzes (IVG) einenAnspruch auf Massnahmen zur Wieder-eingliederung in die Arbeitswelt, sofernbestimmte Bedingungen erfüllt sind.Doch sind sie auch dazu verpflichtet, ansolchen Massnahmen teilzunehmen? Zum ersten Mal seit Inkrafttreten der 6. IV-Revision befasste sich nun dasBundesgericht mit dieser Frage. In seinem am Freitag publizierten Leiturteilkam es zum Schluss: IV-Rentenbezügerhaben nicht nur einen Anspruch aufMassnahmen zur Wiedereingliederung,sondern auch die Pflicht, sich an solchenMassnahmen zu beteiligen.

Konkret hatte die Erste sozialrecht-liche Abteilung des Bundesgerichts in Luzern folgenden Fall zu beurteilen: Die IV-Stelle des Kantons Uri hob bei einerIV-Bezügerin 2017 den Rentenanspruchauf, weil sie im Rahmen einer Eingliede-rungsmassnahme ein Belastbarkeitstrai-ning abgebrochen und es trotz Mahnund Bedenkzeitverfahren nicht wiederaufgenommen hatte. Nachdem dasUrner Obergericht ihre Beschwerde ab-gewiesen hatte, gelangte die Frau an dasBundesgericht. Doch auch die LuzernerRichter weisen ihre Beschwerde ab, wo-bei sie sich intensiv mit der Frage nachder Pflicht zur Teilnahme an solchenMassnahmen auseinandergesetzt haben.

Revisionsgrund nicht nötig

Sie hielten zunächst fest, dass für die An-ordnung einer Massnahme zur Wieder-eingliederung kein Revisionsgrund vor-liegen muss. Ein solcher besteht in derRegel, wenn sich die Umstände geänderthaben, aufgrund deren eine Rente ge-sprochen wurde – etwa, wenn sich derGesundheitszustand des Bezügers verbessert oder verschlechtert hat. DasBundesgericht stützte sich in seinerArgumentation auf Artikel 7 Absatz 2des IVG, der eine klare Antwort liefere.So besagt er, dass eine versicherte Personan allen zumutbaren Massnahmen, diezur Eingliederung ins Erwerbsleben die-nen, aktiv teilnehmen muss. In systema-tischer Hinsicht sei der Artikel damit das Gegenstück zu Artikel 8 des IVG, dereinen Anspruch statuiert. Daraus schlossen die Luzerner Richter, eine Wieder-eingliederungsmassnahme könne auchohne Revisionsgrund gesprochen werden und der Bezüger müsse daran teilnehmen, ob er wolle oder nicht.

Diese Rechtsprechung decke sich mitder Stossrichtung der beiden IV-Revisionen 5 und 6, argumentierten die Luzerner Richter weiter. Demnach sollte sichdie Invalidenversicherung von einer Rentenversicherung zu einer Eingliederungs-versicherung entwickeln. Die 5. Revisionhatte zum Ziel, unnötige neue Renten zuvermeiden. Mit der 6. Revision sollte die Zahl der IV-Bezüger reduziert werden.Durch persönliche Beratung, Begleitungund weitere spezifische Massnahmen sol-len Rentenbezüger mit Eingliederungs-potenzial gezielt auf eine Wiedereingliederung vorbereitet werden.

Alter und Bezugsdauer relevant

Im konkreten Fall besteht für die UrnerIV-Bezügerin gemäss Bundesgericht die Aussicht, dass sie mittels einer Wieder-eingliederungsmassnahme dereinst wieder arbeiten kann. Weder die Renten-dauer (die Frau bezieht seit bald 20 Jah-ren eine ganze Invalidenrente) noch die Tatsache, dass sie bereits 60 Jahre alt sei,sprächen gegen eine erfolgreiche Wie-dereingliederung indie Arbeitswelt.Im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit einer solchen Massnahme würden das Alter und die Rentenbezugs-dauer indes durchaus ins Gewicht fallen, hielt das Bundesgericht fest. Dochattestiere ein medizinisches Gutach-ten aus dem Jahr 2015 der Frau eine 80-prozentige Arbeitsfähigkeit, solangesie einer «körperlich leichten bis mittelschweren, wechselbelastenden» Beschäftigung nachgehe. Mit Blick auf die-sen Befund würden deshalb weder Ren-tendauer noch Alter die Massnahmen für die Frau unzumutbar machen.

Die Frage, ob die Rente allenfalls wieder ausgerichtet werden kann, sobald die Frau sich künftig zur Teilnahme an Massnahmen zur Wiedereingliederung verpflichtet, musste das Bundesgericht imvorliegenden Fall nicht beantworten.