Die absurde Autismus-Regel

(Beobachter)

GEBURTSGEBRECHEN. Ein autistisches Kind erhältnur Hilfe von der IV, wenn die Diagnose vor dem fünften Geburtstag gestellt wird. Fachleute undEltern kritisieren das.


Moritz*

 

Moritz* ist zehn und ein stiller Bub. Seit er gehen kann, bewegt er sich nur auf Zehenspitzen. Wenn er sich aber überfordert fühlt – und das passiert oft-, wird er wütend, schreit herum und reisst sichan den Haaren.

Sprechen gelernt hat Moritz erst spät. In seiner Sprachentwicklung hinkt er den Gleichaltrigen weit hinterher, obwohl er seit Jahren heilpädagogisch und logopädisch betreut wird.Er hat oft Mühe, die richtigen Wörter zu finden. Er sagt «Loch» statt «Lavabo» und wiederholt Sätze mehrmals, bis ersie versteht. Die Schule macht ihn so müde, dass er noch als Achtjähriger einen Mittagsschlaf brauchte. Sie überfordert ihn, immer öfter weigert er sich,hinzugehen. Seit den Herbstferien war er kaum mehr da. Seine Eltern sind verzweifelt.

Die Mutter hat im Januar vor einem Jahr ihren Job als Pflegefachfrau aufgegeben, um mehr Zeit für ihn zu haben.Seit damals hat Moritz die Diagnose frühkindlicher Autismus. Das erklärt, warum er in seiner Entwicklung zurück-bleibt, auch seine Probleme mit Sprache und Kommunikation.

Lange unerkannt.Die meisten Kindererhalten die Diagnose im Alter zwischen zwei und drei, weil sie sich auffällig verhalten. Moritz bekam sie erst mit neun,obwohl er schon als Kleinkind verschiedenste Therapien machen musste. Aber niemand kam auf die Idee, dass er Autist sein könnte. Das ist Pech, denn die IV anerkennt Autismus als Geburtsgebrechen nur, wenn die Störung vor dem fünften Altersjahr diagnostiziert wird.

Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst hat Moritz trotzdem bei der IV angemeldet, damit seinen Eltern alle medizinischen Leistungen vergütet werden. Die IV lehnte das Gesuch ab.Die Behandlung des Leidens werde «nur übernommen, wenn eindeutige Symptome schon vor dem vollendeten 5. Lebensjahr erkennbar und ärztlich dokumentiert waren». So steht es auch in der Verordnung über Geburtsgebrechen zu Autismus-Spektrum-Störungen im IV-Gesetz.

Allerdings: Um die Krankheit als Geburtsgebrechen anzuerkennen, reicht es eigentlich, wenn sich nachträglich nachweisen lässt, dass die Symptome bereits vor dem fünften Geburtstag bestanden. Der Verein Autismus deutsche Schweiz und die Behindertenorganisation Procap kritisieren, dass sich die IV nicht immer an diese Regelung hält. Sie kennen zahlreiche Fälle von Kindern,deren Eltern dafür kämpfen müssen,dass die Krankheit als Geburtsgebrechen anerkannt wird, nur weil die Diagnose zu spät gestellt wurde.

Moritz‘ Eltern erhoben Einsprache gegen den Entscheid. Vergeblich. Die IV lehnte die Kostengutsprache für medizinische Massnahmen erneut ab. Die Familie hätte den Entscheid vor Gerichtanfechten können, verzichtete aber.«Ich kann nicht mehr. Immer muss ich für Moritz kämpfen. Nun hilft uns nicht einmal die IV», sagt seine Mutter. «Es ist total unfair, dass wir mit den Kosten alleingelassen werden. Wie hätten wirdenn schon früher wissen sollen, dass Moritz Autist ist? Auch die Fachleute sind damals nicht auf diese Idee gekommen.»

Problem unbestritten.So bleibt es dabei. Die Familie muss den Selbstbehalt für Medikamente und Therapien selber tragen. Das sind mindestens 300 Franken pro Jahr. Sollte später eine spezielle Therapie für Moritz nötig werden,die die Kasse nicht anerkennt, wird die Familie alle Kosten dafür selber tragen müssen. Irritierend sei, dass selbst die IV die Diagnose nicht anzweifle – und trotzdem nicht bezahle.

«Ich kann nicht mehr. Immer muss ichfür Moritz kämpfen. Nun hilft uns nichteinmal die IV.» Mutter von Moritz

Die Altersgrenze bei Geburtsgebrechen dient dazu, angeborene von nicht angeborenen Gebrechen und geringfügige von schweren Leiden abzugrenzen. Die IV zahlt nur bei angeborenenund schwerwiegenden Leiden. Bei Moritz sei das nicht der Fall, so die IV. Aus Sicht der Mutter ist das blanker Hohn.

Das für die IV zuständige Bundesamtfür Sozialversicherungen erklärt: «Es ist unbestritten, dass die in der Verordnung vorgesehenen Altersgrenzen ausmedizinischer Perspektive keine abschliessenden Kriterien für die geforderten Abgrenzungen darstellen.» Mangels besserer Alternativen seien sie dennoch als juristische Kriterien gewählt worden. Sie ermöglichten eine gute Annäherung.

In der anstehenden IV-Revision sind die Geburtsgebrechen bisher nicht traktandiert. Sie könnten dennoch Thema werden. Martin Boltshauser,Leiter des Procap-Rechtsdiensts, fordert, dass die Alterskriterien gestrichen und die medizinischen Kosten ab der klaren Diagnose übernommen werden,sofern das Leiden eindeutig angeboren und nicht erworben ist. Diese Lösung brächte auch Kindern mit psychischen Störungen Verbesserungen, zum Beispiel bei ADHS, wo die Altersgrenze heute bei neun Jahren liegt. Auch hier führt die aktuelle Regelung dazu, dass viele Kinder wegen des engen Altersrasters keine Hilfe erhalten.

Hoffen lässt ein anderer Fall: Im Frühling 2016 wurde die Chromosomenstörung Trisomie 21 in die Listeder Geburtsgebrechen aufgenommen,nachdem SP-Ständerat Roberto Zanetti 2013 eine Motion eingereicht hatte.Nun muss die IV die Behandlungen bezahlen.

BIRTHE HOMANN