Menschen mit Behinderungennehmen ihr Schicksal in die Hand

(Aargauer Zeitung / GesamtRegio)

Betroffene starten eine Initiative für mehr Inklusion.
Diese fordert «massiv verbesserte Leistungen».

Othmar von Matt

Vor 18 Jahren stimmte die Schweiz über die Initiative «Gleiche Rechte für Behinderte» ab. 63,3 Prozent der Bevölkerung lehnten dieses Begehren der Behindertenorganisationen ab.

Nun gehen die Menschen mit Beeinträchtigungen selbst in die Offensive. Sie lancieren eine Initiative für mehr Inklusion. Mit ihr wollen sie die Situation der Behinderten in der Schweiz stark verbessern. «Wir wollen, dass technische Hilfsmittel künftig ebenfalls zu den Assistenzleistungen für die Behinderten zählen -und dass diese Leistungen generell massiv verbessert werden», sagt Islam Alijaj, Präsident des erst 2018 gegründeten Vereins Tatkraft.
In ihm arbeiten Menschen mit Behinderungen für Menschen mit Behinderungen. Ziel der Initiative ist es, dass die Schweiz die Behindertenrechtskonvention der UNO endlich umsetzt. Diese fordert, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt undselbstbestimmt am Leben in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft teilnehmen können.

Unterschriften werden ab nächstem Jahr gesammelt

Heute Mittwoch wird die Initiative am Tag der Demokratie auf dem Bundesplatz angekündigt. Die Unterschriftensammlung beginnt nächstes Jahr. Die Initiative hat beste Chancen, zu Stande zu kommen. Die Demokratieplattform Wecollect unterstützt die Initianten beim Sammeln der Unterschriften.

Die Situation der Menschen mit Behinderungen sei in vielen Bereichen sehr schwierig, sagt auch Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen. Sie denkt dabei an Wohnen, Arbeit, Bildung – aber auchstark an die Politik.
Schweiz

Eingliederung statt Rente

(Penso)

Geschaffen, um das Einkommen von Menschen mit Behinderungen zu sichern, hat sich die IV im Lauf der Jahre immer mehr zur Eingliederungsversicherung entwickelt. Das und die strengere Prüfung von Rentengesuchen hat sich in sinkenden Rentenzahlen und damit auch Kosten niedergeschlagen

Links zum Thema
– Die IV in der Geschichte der sozialen Sicherheit:bit.ly/3hHosnx
– IV-Revisionen beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV): bit.ly/3hgYto2

Seit mehr als sechzig Jahren gibt es die Invalidenversicherung (IV). Die erste grundlegende Reform fand jedoch erst 1991 statt. Damals wurden die IV-Stellen auf kantonaler Ebene geschaffen, die seither von der Bearbeitung der IV Anmeldungen bis hin zu den Verfügungen zuständig sind. Ebenso sind sie verantwortlich für die Planung und Überwachung der Eingliederungsmassnahmen. Für die Berechnung der Geldleistungen und die Auszahlung von Taggeldern und Renten sind weiterhin die Ausgleichskassen zuständig.

Als Reaktion auf die steigenden Zahlen bei den Neurentnern (mit psychischen Leiden) und den Verdacht vermehrter erschlichener Renten (Scheininvalide) wurden 2003 mit der 4. IV-Revision die regionalen ärtzlichen Dienste (RAD) geschaffen. Dies erlaubte IV- Ärzten, selber Versicherte zu untersuchen. Dies schlug sich in der Entwicklung der Neurentenzahlen nieder (siehe Grafik)

Ab 2006 kamen dank der 5. IV-Revision die Früherfassung und Frühintervention dazu. Zwei Massnahmen, die einen niederschwelli-
gen frühzeitigen Kontakt mit der 1V-Stelle ermöglichen, die wiederum relativ unbürokratisch Massnahmen einleiten können, die dem Erhalt des Arbeitsplatzes und damit der Erwerbsfähigkeit dienen. Auch diese Revision schlug sich in der Statistik nieder: Die Zahl der Neurenten stabilisierte sich, die Zahl der Eingliederungsmassnahmen nahm zu (siehe zweite Grafik).

Mit der 6.IV-Revision standen schliesslich keine weiteren Sparmassnahmen im Fokus. Stattdessen wurde mit den Assistenzbeträgen eine neue Leistung geschaffen, die die Se ständigkeit von Personen mit Behinderungen unterstützensollte. Zudem wurde der IV- Fonds geschaffen und mit einem Startkapital von 5 Mrd. Franken ausgestattet. Somit war die IV finanziell selbständig, allerdings noch immer defizitär. Linderung brachte hier die Zu- satzfinanzierung von 2011 bis 2017 mittels einer befristeten Mehrwertsteuererhöhung.

2022 folgt nun die Weiterentwicklung der IV, die wiederum nicht primär ein Sparziel verfolgt, aber dank besonderem Augenmerk auf psychisch Kranke und Jugendliche und junge Erwachsene sowie dem stufenlosen Rentensystem weiter dazu beitragen soll, dass möglichst viele Menschen mit Beeinträchtigung wirtschaftlich unabhängig sind und einer Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt nachgehen können. (gg)


Quelle: Bundesamt für Statistik, eigene Darstellung

 

IV-Revisionen im Überblick
1960: Einführung der IV
1968: 1. IV-Revision
1988: 2. IV-Revision
1992: 3. IV-Revision, Schaffung der IV-Stellen
2004: 4. IV-Revision, Schaffung regionalärztlicher Dienste (RAD)
2008: 5. IV-Revision, Eingliederung vor Rente, Früherfassung und-intervention
2011: Zusatzfinanzierung durch MwSt.-Erhöhung bis 2017
2012: 6. IV-Revision,neu: Assistenzbeiträge, Schaffung IV-Fonds
2022: Weiterentwicklung IV, Fokus auf Junge und psychisch Kranke

Uster schreitet den Weg zur Inklusionsstadt entschlossen fort

(Zürcher Oberländer)

Tribune


In der Stadt Uster soll Inklusion zum Alltag gehören. Im Bild die behindertengerechte Unterführung am Bahnhhof. Archivfoto: Seraina Boner

 

Am Anfang stand ein parlamentarischer Vorstoss, der die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung forderte. Dem Vorstoss folgte das Projekt «Inklusionsstadt Uster». Mit diesem sollte Benachteiligung verhindert und Teilhabe gestärkt werden. Es galt, sichtbare und unsichtbare Barrieren gemeinsam und mit breiter Mitwirkung abzubauen.

Viel hat die Stadt Uster seither unternommen, um diesem Ziel näher zu kommen. Davon zeugen zahlreiche und vielfältige Projekte: Beeinträchtigte nehmen vermehrt am Vereinsleben teil, an Kulturprojekten arbei ten Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam, ältere Menschen finden dank Erklär-Veranstaltungen Zugang zur digitalen Welt, und die Infrastruktur der Stadthalle ist für Rollstuhlfahrende benutzbar. Doch damit nicht genug: Im Kulturhaus Central kommen dank technischen Anpassungen Menschen mit Sehbehinderung in den Genuss von Kino und Theater, Stimmberechtigten wurde die politische Teilhabe dank einer Wahlanleitung und einer Abstimmungsweisung in leichter Sprache sprichwörtlich erleichtert, und das Fachgremium Partizipation Uster hat seine Arbeit aufgenommen.

Wir haben uns vor vier Jahren mutig auf eine Reise gemacht. Nicht in jedem Projekt konnten alle Erwartungen erfüllt werden. Wir mussten teilweise unsere Haltungen und Forderungen überprüfen und anpassen. Blicken wir aber heute zurück, so sehen wir, dass wir alle viel erreicht haben. Damit meine ich nicht nur das Engagement des Stadtrats und der Stadtverwaltung, sondern auch die Projekte, die von privater Seite lanciert wurden und unsere Vision einer «Stadt für alle» unterstützen. So hat zum Beispiel das Werkheim im Loren-Gebiet in Kooperation mit anderen Unternehmen das Mehrwerk eröffnet, wo es Arbeitsplätze für Mitarbeitende mit höherem Unterstützungs-bedarf gibt.


Barbara Thalmann ist Präsidentin (SP) des Stadtrats Uster und wohnt in Uster

 

Nun stellt sich die Frage, wie es mit der Inklusion und den einzelnen Projekten in Uster weitergehen soll. Nach dem vierjährigen «Ausnahmefall» soll Inklusion zum «Regelfall» werden. Oder anders gesagt: Inklusion soll nicht mehr bloss in Nischen oder Spezialprojekten stattfinden, sondern zum Alltag gehören. Das bisherige Engagement sollten wir deshalb als Auftakt verstehen. Wir haben Strukturen aufgebaut und das Bewusstsein in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung geschärft. Daran müssen wir weiterarbeiten, um die «Stadt für alle»-Strategie des Stadtrats umzusetzen. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingt: In den letzten drei Jahren haben wir uns gewissenhaft darauf vorbereitet und sind nun startbereit.

IV ehrt aussergewöhnliche Persönlichkeiten

(Walliser Bote)

Die Kantonale IV-Stelle Wallis hat am Donnerstag zum 38. Mal Menschen, Unternehmen und Institutionen für eine erfolgreiche Ausbildung und berufliche Eingliederung ausgezeichnet.

Die diesjährigen Preisträger sind Anja Volken aus Naters, Pascal Diezig aus Naters und Yvo Grand aus Raron. Sie haben die Herausforderung angenommen und mussten ihren weiteren Lebensweg anders gestalten als gedacht. Dies haben sie geschafft. Dank einer Ausbildung oder einer Umschulung haben sie den Weg in den Arbeitsmarkt gefunden respektive wiedergefunden. Staatsrat Mathias Reynard und IV-Direktor Martin Kalbermatten gratulieren den Preisträgern zudieser Leistung.

Die berufliche Eingliederung ist keine Selbstverständ lichkeit. Dafür braucht es nebst engagierten Arbeitnehmern auch soziale Unternehmen, die eine Chance für einen beruflichen Neuanfang bieten. Besonders herausgestochen ist hier das Restaurant Zur Mühle in Visp. Diesem wurde derdiesjährige Arbeitgeberpreis verliehen.

Schon beim ersten Kontakt mit der Eingliederung der IV- Stelle Wallis habe sich das Wirtepaar Marie-Madeleine Julen und Aldo Fuxoffen für eine Zusammenarbeit gezeigt. Und auch gesundheitliche Rückschläge hätten sie nicht davon abgehalten, die Türen für Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Einschränkung offen zuhalten, heisst es in der Würdigung.

Ferner hat die IV-Stelle Wallis, in Zusammenarbeit mit Forum Handicap Wallis, heuer zum ersten Mal den Preis «Inklusion» verliehen. Dieser Preis ersetzt den bisherigen Spezialpreis und hebt eine besondere Initiative im Bereich Inklusion hervor. Der Preis geht an den Verein ERWO+ Bildung für Alle aus Brig. Dieser Verein setzt sich für den Aufbau eines barrierefreien und inklusiven Erwachsenenbildungsangebots im Oberwallis ein. (mk)

Die Preisträger (von links): Anita Heinzmann (ERWO+), Aldo Fux und Marie-Madeleine Julen (Restaurant zur Mühle), Pascal Diezig, Anja Volken, Yvo Grand. Bild: Pascal Gertschen

 

China fördert den Behindertensport, als sei es ein Wettrüsten

(Neue Zürcher Zeitung)

An den Paralympics kann das Land die politischen Rivalen aus dem Westen so weit hinter sich lassen wie an keinem anderen grossen Sportanlass

RONNY BLASCHKE

Andrew Parsons bemüht sich offensichtlich, keine Wertung vorzunehmen.«Es gibt Dinge, die nur in China möglich sind», sagt der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees(IPC) in einem Videointerview. Und man fragt sich, ob er das gut findet oder nicht.

«China wird im paralympischen Sport weiter massiv investieren.» Die Folgen sind längst eindeutig. An den Paralympics in Tokio führt China im Medaillenspiegel, bis am Montag kamen 54 Gold-, 35 Silber- und 30 Bronzemedaillen zusammen, also insgesamt 119 Medaillen; Grossbritannien als zweitbeste Nation brachte es zum gleichen Zeitpunkt auf 68 Medaillen.

Das grösste Zentrum der Welt

Chinas Aufstieg basiert auf einem langfristigen Plan. An den Paralympics 1996 in Atlanta belegte das Land im Medaillenspiegel den 9. Rang, vier Jahre später in Sydney den 6. Rang. Doch dann wurden 2001 die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele 2008 nach Peking vergeben. In einem Vorort der Hauptstadt wurde das grösste paralympische Sportzentrum der Welt gebaut, in den Provinzen entstanden acht-zehn Stützpunkte. Nach Angaben der Kommunistischen Partei flossen jährlich 100 Millionen Yuan, 14 Millionen Franken, aus Lotteriemitteln in den Behindertensport. Das Staatsfernsehen berichtete zunehmend und zitierte Persönlichkeiten wie Ping Yali, der 1984 das erste paralympische Gold für China gewonnen hatte. «Unser Behindertensportverband hat Hunderttausende Mitarbei-ter», sagte Ping, «auf allen Ebenen: in der Zentralregierung und in jedem Dorf.»

Die Aussage mag übertrieben sein,doch sie lässt eine Richtung erkennen. Seit der Jahrtausendwende wurden in China Zehntausende Menschen mit Behinderung für den Leistungssportgesichtet. Chi Jian, der Präsident der Sportuniversität in Peking, beschreibt in einem Aufsatz, wie weit das Netzwerk reicht: Spitäler, Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen melden behinderte Jugendliche mit potenziellen Talenten an lokale Sportverbände.

In China leben schätzungsweise 100 Millionen Menschen mit einer Behinderung, das entspricht den Bevölkerungszahlen von Deutschland, Österreich und der Schweiz. «Nur ungefähr jede zehnte gesichtete Person wird für den Sport rekrutiert», sagt Karl Quade, der in Tokio zum 13. Mal ein deutsches Team als Chef de Mission anführt. «Das ist ein brutaler Selektionsprozess, den sich andere Länder nicht leisten können und wollen.»

Seit den Paralympics 2004 in Athen dominiert China den Medaillenspiegel. An den Spielen 2016 in Rio de Janeiro gewann die Delegation 107 Goldmedaillen – 43 mehr als die Nummer 2 Grossbritannien. Medien, Politiker und Wissenschafter in China werten diese Erfolge als Sinnbild für den ökonomischen Aufstieg der Volksrepublik. Und der historische Medaillenspiegel scheint ihnen recht zu geben: Von den zehn erfolgreichsten Nationen kommen acht aus Europa und Nordamerika. Die ersten drei – die USA, Grossbritannienund Deutschland – blicken auf sech-zehn Paralympics Teilnahmen zurück. China liegt mit zehn Teilnahmen seit dem Debüt 1984 auf Platz 4, als einziges Land unter den Top Ten, das sich kulturell nicht mit dem «Westen» identifiziert.

Das chinesische Regime kann seine politischen Rivalen an den Paralympics so weit hinter sich lassen wie an keinem anderen grossen Sportanlass. Doch für die Kommunistische Partei soll der Behindertensport auch nach innen wirken: Medaillen gelten als Belege für die Fürsorge des Sozialstaates und für die wachsende Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Der Forscher ChiJian schreibt sogar von «Massstäben, an denen der Fortschritt der gesellschaftlichen Zivilisation gemessen wird» Regierungsnahe Beobachter berufen sich auf Deng Pufang. Der erste Sohn des Reformers und ehemaligen Staatschefs Deng Xiaoping gilt in der Geschichtsschreibung Pekings als wichtigster Förderer von Menschen mit Behinderung in China. Deng setzte sich für eine bessere Versorgung ein, sprach bei Politikern vor, gründete 1988 den chinesischen Behindertenverband – und machte sich für Sport stark. Was kaum erwähnt wird: Während der Kulturrevolution war Deng Pufang gefoltert und 1968 zu einem Sprung aus dem dritten Stock genötigt worden. Seitdem ist er querschnittgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Unter dem Diktator Mao Zedong sollten auch Paraden von trainierten Körpern den Aufbau der kommunistischen Nation symbolisieren – für behinderte Menschen wie Deng war lange kein Platz.

Westliches Expertenwissen

Das änderte sich um die Jahrtausendwende. «Das Niveau der Sportwissenschaften in China wurde im paralympischen Bereich immer besser», erzählt der promovierte Sportwissenschafter Karl Quade. Sportschulen verpflichteten Trainer und Experten für Prothetik aus demWesten. Doch einige Experten wie Stephen Hallett aus Grossbritannien legten dar, dass diese Sportoffensive nicht repräsentativ sei für Menschen mit Behinderung in China. Hallett lebte mehrere Jahre mit einer Sehbehinderung in China. In Beiträgen für die BBC dokumentierte er, wie behinderte Menschen bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt seien. Eine seiner Thesen: Mit der Vermarktung paralympischer Erfolgewolle das Regime Menschen mit Behinderung indirekt unter Druck setzen – damit diese in der Leistungsgesellschaft mehr zur Produktivität beitrügen.

Für diesen Anspruch stellt der Staat eine bessere Infrastruktur zur Verfügung, zumindest in Ballungsgebieten wie Schanghai oder Peking, wo 2022 die Olympischen und Paralympischen Winterspiele stattfinden werden. «Viele neue Hotels, Transportmittel und Sportstätten sind barrierefrei», sagt der IPC- Präsident Parsons. Doch beim Thema Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe, sind andere Nationen weiter. In Grossbritannien, Kanada oder den Niederlanden profitieren Sportler mit und ohne Behinderung häufig von den gleichen Angeboten in Training, Medizin oder Fortbildung. In China gibt es solche Kooperationen selten. Und überAntidoping-Massnahmen und technische Hilfsmittel sind nur wenige Informationen verfügbar.

Hunderttausende chinesische Kinder kommen jährlich mit einer Behinderung zur Welt, und die Zahl könnte weiter wachsen, wegen Umweltschäden und früherer Abtreibungen als Folgeder Ein-Kind-Politik. Sport könnte in der Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation von behinderten Menschen eine wichtige Rolle spielen. Ob die Paralympics 2022 dafür eine Öffentlich-keit schaffen werden, bleibt abzuwarten. Erst seit 2002 nimmt China auch an den Winter-Paralympics teil. Seither hat es an diesen Anlässen erst zu einer Goldmedaille gereicht, 2018 im Rollstuhl-Curling. Es ist wahrscheinlich, dass diese Zurückhaltung an den kommenden Heimspielen in Peking ein Ende finden wird.

Und plötzlich leitet man ein kleines Unternehmen

(Procap/Das Magazin)

 

Seit seiner Einführung 2012 nutzen zunehmend mehr Menschen mit Behinderungen den Assistenzbeitrag, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die neu gewonnene Freiheit ist zwar oft mit einem hohen administrativen Aufwand verbunden, doch verschiedene Organisationen bieten dafür Unterstützung.

Text Sonja Wenger Fotos Shutterstock

Für ein selbstbestimmtes Leben braucht es in der Regel zwei Dinge: die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie die Möglichkeit, diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Vielen Menschen mit Behinderungen wird jedoch oft bereits das Recht, selbst zu entscheiden, verwehrt. Und obwohl es für die meisten Menschen leicht ist, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele zu formulieren, sehen sich Personen mit Handicap bei der Umsetzung häufig mit hohen Hürden konfrontiert: wenn sie etwa in einem Wohnheim leben, in dem sie sich den Regeln einer grossen Gemeinschaft unterordnen müssen; oder wenn sie zwar genau wissen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, aber im Alltagnicht die Hilfe erhalten, die sie dazu brauchen.

Aus diesen Gründen ist für viele Menschen mit schweren Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben in der Form, wie es in der UNO-Behindertenrechtskonvention definiert wurde, kaum erreichbar. Trotzdem haben in den vergangenen Jahren immer mehr Personen mit unterschiedlichen Handicaps den Schritt in ein selbstbestimmtes Leben gewagt.


Arbeitsverträge, Lohnzahlungen und Einsatzpläne: Die Organisation
ihrer Assistenzpersonen übernehmen die Betroffenen selbst.

 

Suchen, ausbilden, verwalten …

Wesentlich vereinfacht wurde ein solcher Schritt durch die Einführung des Assistenzbeitrags Laut der aktuellen IV-Statistik des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) bezogen Ende 2020 rund 3400 Personen einen Assistenzbeitrag. Dieser Beitrag kann ausschliesslich für die Anstellung von Assistenzpersonen verwendet werden. Er ermöglicht Menschen mit Handicap erstmals eine selbst definierte Autonomie, damit sie ihr Leben ausserhalb eines Wohnheims gestalten und am Leben genauso teilhaben können, wie das für Menschen ohne Behinderungen selbstverständlich ist.

Die gewonnene Freiheit bedeutet für die Betroffenen, dass sie zur Arbeitgeberin oder zum Arbeitgeber werden. Der Grund: Ein Assistenzbeitrag ermöglicht es, die benötigte Hilfe zur Bewältigung des Alltags oder zur Ausübung eines Berufes zu bezahlen. Die Organisation dieser Hilfe übernehmen die Betroffenen selbst. Dies bedeutet, sie dürfen Angestellte suchen, führen und auch ausbilden. Und sie koordinieren Arbeitsverträge, Lohnzahlungen und Einsatzpläne.Nicht alle fühlen sich diesen Aufgaben gewachsen oder bringen das notwendige Vorwissen mit. Allerdings ist in den letzten Jahren das Angebot für Beratung und Unterstützung stark ausgebaut worden.

Eine starke Stimme aufbauen

Wie wichtig Beratung, Informationsvermittlung und Vernetzung sind, hat sich vergangenes Jahr zu Beginn der Corona-Pandemie besonders deutlich gezeigt. Simone Leuenberger von InVIEdual, dem Arbeitgeber*innenverband von Assistenznehmer *innen, erinnert sich im Gespräch mit Procap: «Damals wurden schnell Schutzmassnahmen für Angestellte eingeführt wie etwa die Maskenpflicht und die Vorgabe, Abstand zu halten. Abstand halten ist für Assistenzpersonen aber nicht möglich. Und zu Beginn erhielten nur Institutionen Zugang zum Schutzmaterial.» Das habe Menschen, die auf Assistenzpersonen angewiesen seien, vor beinahe unlösbare Probleme gestellt. Für ihre speziellen Bedürfnisse und Anliegen hätten sie damals kaum Gehör gefunden. «Das hat uns gezeigt, dass die Betroffenen selbst eine Stimme brauchen», sagt Leuenberger.

Entsprechend liegt der Fokus von InVIEdual auf der Interessenvertretung für seine Mitglieder. «Natürlich muss es für Assistenzpersonen definierte Rechte und Pflichten geben», sagt Leuenberger. «Doch oft führen gesetzliche Vorschriften dazu, dass das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt wird.» Dabei geht es beispielsweise um vorgeschriebene Ruhezeiten oder um das Verbot, zwischen 23 Uhr und 6 Uhr normale Arbeitseinsätze zu leisten. Auch die Entschädigung der Präsenzzeit von Assistenzpersonen etwa bei einer Ferienbegleitung ist problematisch. «Mit dem Assistenzbeitrag können diese Vorgaben leider nicht finanziert werden», sagt Leuenberger. «Es braucht deshalb Lösungen, die die Interessen von Menschen mit Behinderungen und Assistentinnen gleichermassen berücksichtigen. InVIEdual setzt sich dafür ein, dass unsere Anliegen als Arbeitgeber *innen von Assistenz- personen nicht vergessen gehen.»

Suche nach Assistenzpersonen vereinfachen

Vernetzung und Interessenvertretung sind eine Sache. Hierfür finden sich auf dem Netz viele und gut aufgebaute Websites mit Informationen zu rechtlichen und administrativen Fragen. Sehr wichtig sind aber auch spezialisierte Jobplattformen. Zu diesem Zweck hat der 2019 gegründete Förderverein CleA im März dieses Jahres eine erste, kostenlose Beta-Version einer Jobplattform in Betrieb genommen. Sie vernetzt Menschen, die Assistenzpersonen suchen, mit jenen, welche diese Dienste anbieten möchten. Bis Ende Jahr solldie Plattform auch auf Französisch zur Verfügung stehen.

Fabienne Locher von der Geschäftsleitung von CleA bezeichnet die Plattform gerne als «Tinder für Assistenznehmende und Assistenzgebende». Im Gespräch mit Procap zieht sie eine erste Bilanz. «Dank einem klaren Filtersystem bei der Registrierung finden sich nun Suchende und Anbietende sehr viel schneller.» Ziel von CleA ist es, den administrativen Teil der Assistenzsuche zu vereinfachen, bei dem viele Betroffene bisher auf sich selbst gestellt waren. «Unsere Plattform ist ein digitales Hilfsmittel, das viele Menschen breit gefächert vernetzt», sagt Locher. «Zwar ist es noch nicht das fertige Produkt, und es gibt noch viel weiterzuentwickeln. Doch bereits heute bietet die Plattform einen grossen Mehrwert.

Hochindividuelle Arbeit

Wer sich für einen Assistenzbeitrag interessiert oder Assistenzpersonen sucht, dem steht inzwischen ein grosses Informationsangebot zur Verfügung. Noch im Aufbau befindet sich hingegen das Berufsbild der Assistenzperson. Zwar bieten Fachhochschulen bereits vereinzelt Weiterbildungsmöglichkeiten an. Doch bei InVIEdual wie auch bei CleA werden die Vorteile hervorgehoben, wenn diese Tätigkeit von Quereinsteiger*innen ausgeführt wird. «Ich verstehe, dass man sich oft einen Rahmen für die Tätigkeit wünschen würde», sagt Fabienne Locher. «Aber Assistenzarbeit ist hochindividuell.» Und auch Simone Leuenberger weiss, dass «viele Betroffene es bevorzugen, ihre Assistenzpersonen selbst anzulernen». Dies ermöglicht mehr Freiheiten, als wenn jemand mit einer pflegerischen oder sozialpädagogischen Ausbildung die Arbeit nur nach den erlernten Regeln leisten möchte.

Beide halten jedoch die Option einer Weiterbildung im Bereich der Einstellung von Assistenzpersonen sinnvoll. Grundsätzlich müsse es das Ziel einer Assistenzperson sein, einem Menschen mit Handicap ein Leben zu ermöglichen, welches für Menschen ohne Handicap normal oder selbstverständlich sei


Rund um den Assistenzbeitrag

Die Sozialversicherungsstellen von Procap beraten Sie gerne bei Fragen zum Assistenzbeitrag. Bitte wenden Sie sich an Ihre lokale Sektion.

Weiterführende Informationen (Auswahl)
InVIEdual, Verein zur Interessensvertretung von
Menschen mit Behinderungen, die Assistenzpersonen
anstellen: www.inviedual.ch

Verein Assistenzbüro ABü: www.assistenzbuero.ch
CI6A, Jobplattform für Assistenzpersonen mit
vielen Zusatzinformationen. Web: clea.app

Kreisschreiben des BSV über den Assistenzbeitrag:
https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6394
Broschüre «Assistenzbeitrag der IV»:
https://www.ahv-iv.ch/p/4.14.d

www.proinfirmis.ch Rechtsratgeber Assistenz Jobplattformen (Auswahl)

clea.app
«Assistenzbörse Schweiz» auf Facebook

www.assistenzbuero.ch > Inserate

Quitt, für die Registrierung und Verwaltung von
Haushaltshilfen; auf Deutsch, Französisch und
Englisch: www.quitt.ch

Vernetzung und Austausch

Serie «Souverän» von Procap Bern noch bis Ende
Oktober; auf Deutsch: www.procapbern.ch >
Aktuelles > Neue Onlineserie «Souverän – Leben
zu Hause»

Online-Serie «Absolut persönlich – Der etwas
andere Job» des Fördervereins CläA. Die Serie
richtet sich speziell an Assistenzpersonen oder
Menschen, die an dieser Tätigkeit interessiert sind;
auf Deutsch. Ab Ende August 2021 bis Mai 2022.
Weitere Informationen:
www.clea.app/absolut-persoenlich.

5 Millionen Franken für Gleichstellung

(Volksstimme)

Liestal Regierung legt Behindertenrechtegesetz vor
sda

Die Baselbieter Regierung hat ein neues Behindertenrechtegesetz in die Vernehmlassung geschickt. Es bildet den Gegenvorschlag zur formulierten Initiative «Für eine kantonale Behindertengleichstellung». Mit dem neuen Gesetz würden die Anliegen der Initianten vollständig abgedeckt und teilweise bereits umgesetzt, teilte die Regierung am Dienstag mit. Die Initiative wollte die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung festschreiben.

Die Verfassungsinitiative war 2017 zustande gekommen. 2019 verlängerte der Landrat die Behandlungsfrist um drei Jahre, um die Möglichkeit für die Ausarbeitung eines Gegenvorschlags zu schaffen. Dasselbe Volksbegehren war auch im Kanton Basel-Stand eingereicht worden. 2019 hiess der Grosse Rat einen Gegenvorschlag gut, worauf
die Initiative zurückgezogen wurde.

Die am Dienstag eröffnete Vernehmlassung läuft bis Ende November. Das Behindertenrechtegesetz formuliert laut Baselbieter Regierung
konkrete Rechtsansprüche von Betroffenen auf Beseitigung von Benachteiligungen im Kompetenzbereich des Kantons und legt das Verfahren zu deren Umsetzung fest – dies unter Wahrung der Verhältnismässigkeit.

Lanciert hatten die Initiativen in den beiden Kantonen das Behindertenforum beider Basel. Verlangt wurde, dass Behinderte Zugang zu Arbeit, Bildung, Freizeit, Kommunikation, Mobilität und Wohnen haben müssen. Ebenso müssen ihnen Bauten, Anlagen, Einrichtungen und öffentlich angebotene Leistungen offenstehen.

Für die Umsetzung der im Gegenvorschlag vorgesehenen Massnahmen rechnet die Baselbieter Regierung für 2024 und 2025 mit Kosten von 2,4 respektive 2,6 Millionen Franken. Vorgesehen ist unter anderem eine kantonale Anlaufstelle mit 1,3 Vollzeitstellen. Zudem sollen in der kantonalen Verwaltung weitere 2,5 Vollzeitstellen in Zusammenhang mit der Behindertengleichstellung geschaffen werden.

«Ich bin Elena Kratter. Mich gibt es nur mit Prothese!»

(Schweiz am Wochenende / Bündner Zeitung)

Die 25-jährige Schwyzer Behindertensportlerin erlebt in Tokio ab Dienstag ihre Paralympics-Premiere mit Einsätzen über 100 m und im Weitsprung. Insgesamt kämpfen rund 4400 Athletinnen und Athleten aus 160 Nationen um die Medaillen.

Rainer Sommerhalder

Elena Kratter strahlt, als würden wir uns ewig kennen. Dabei hiess es im Vorfeld des Gesprächs, die junge Frau aus Vorderthal im Kanton Schwyz sei ein wenig scheu und in ihren Antworten zurück-haltend. Von wegen! Die 25-Jährige punktet mit ihrer Persönlichkeit und der offenen Art, mit Fragen umzugehen.

Eine Kostprobe? Politische Korrektheit bei den Formulierungen ist bezogen auf Paralympics-Teilnehmende eine heikle Sache. Wie soll man Athletinnen und Athleten im Rollstuhl oder mit Prothesen bezeichnen, ohne sie zu diskriminieren? Elena Kratter antwortet: «Schreiben Sie Behindertensportlerin. Alles andere wirkt erzwungen.»

Elena Kratter trägt am rechten Bein von oberhalb des Knies eine Prothese. Weil sie bei der Frühgeburt mit ihrer eineiigen Zwillingsschwester einen zu schwachen Herzkreislauf hatte, musste der Unterschenkel amputiert werden. Sie ist mit der Behinderung aufgewachsen, kennt es nicht anders. Sie hadert nicht. «Ich habe stets für alles eine Lösung gefunden», sagt sie. Die Beeinträchtigung habe ihr nie zu schaffen gemacht, und sie würde sich ihr Leben nicht anders wünschen. «Ich bin Elena Kratter. Mich gibt es nur mit Prothese!»

Die Belastung auf den Körper wurde im Skisport zu gross

Die grosse Leidenschaft der Schwyzerin ist der Sport. Sie liebt die Bewegung. Auf der Liste ihrer Hobbys findet man Klettern und Segeln. Sie könne nicht zwei Wochen am Stück ohne Sport sein. «Dann werde ich ungeduldig.» Schon früh stand sie auf den Ski. Auch Stürze konnten Elena Kratter nicht stoppen.

Den Mut, den sie als ihre Stärke bezeichnet, hat sie sich früh auf den Pisten im Hoch Ybrig angeeignet.

Im Verlauf der Skikarriere wechselte sie von der Prothese auf das einbeinige Fahren. Ob eine Prothese unterhalb oder oberhalb des Knies beginnt, macht einen grossen Unterschied. Bei Letzterem gilt es, auch die Funktion des Knies zu ersetzen. Elena Kratter sagt, dass dies aus der Hüfte und dem Rumpf heraus gesteuert wird. Die Kräfte, die dann auf den Körper wirken, sind gerade bei Skirennen enorm.

Knapp verpasste die engagierte Sportlerin, die an sechs Tagen die Woche je zwei Trainings absolviert, die Qualifikation für die Winter-Paralympics 2018 in Pyeongchang. Eine Knieverletzung nach einem Sturz an der WM 2019 zwang Elena Kratter, die Skikarriere aufzugeben. «Das ist mir extremschwergefallen. Der Skisport war wie eine zweite Familie», sagt sie.

Doch das bedeutete nicht das Ende ihrer Sportkarriere. Schon seit ihrer Lehre als Orthopädistin hat sie intensiven Kontakt zum mehrfachen deutschen Paralympics-Sieger Heinrich Popow. Der Sprinter und Weitspringer trägt ebenfalls eine Knieex-Prothese. Er hat Elena Kratter den Wechsel zur Leichtathletik glühend empfohlen. Ihn und nicht etwa eine Athletin oder einen Athleten ohne Behinderung nennt sie ihr grosses Vorbild.

Im gleichen Rennen wie die Sprinterinnen ohne Behinderung

Die Leichtathletikkarriere begann auf Anhieb mit viel Erfolg. Im allerersten Rennen über 100 m schaffte sie die B- Limite für die Weltmeisterschaften. An der EM im Juni 2021 holte sie im Sprint und im Weitsprung je eine Silbermedaille. Die Türe zu den Paralympics in Tokio war geöffnet. Elena Kratter lobt den Schweizerischen Leichtathletik-Verband. Dieser ermöglicht ihr, an Meetings gegen Nicht-Behinderte zu starten. Es sei zwar eine grosse Challenge, aber auch eine riesige Motivation. «Ich versuche, den Abstand zu ihnen so klein wie möglich zu halten.»

Ihre Ziele in Japan formulierte Elena Kratter defensiv: Erfahrungen sammeln und wenn möglich persönliche Bestleistungen erzielen. Von einer Medaille spricht sie im Gegensatz zu ihrem sportlichen Umfeld nicht. «Dieser Wettkampf ist grösser als alles, was ich bisher in meinem sportlichen Leben gemacht habe. Ich bin noch nie in einem nur annähernd so grossen Stadion gerannt. Ich weiss nicht, was alles auf mich zukommt und wie ich darauf reagiere.»

Das vorsichtige Formulieren ihrer Ziele liegt auch daran, dass Elena Kratter das Selbstvertrauen als Schwäche bezeichnet. «Zu zweifeln gehört ein wenig zu mir», sagt sie. Aber es gelinge ihr je länger desto besser, den Schalter wieder zu kippen. Denn im Grunde weiss die 25-Jährige, dass sie bestmöglich auf Tokio vorbereitet ist.

Ist es denn im Sport ein Vorteil, wenn man eine Behinderung von Geburt her hat? Elena Kratter differenziert. Es gebe durchaus auch einen spürbaren Nachteil. «Mein Hirn hat das Bewegungsbild, wie man schnell rennt, nie abgespeichert. Deshalb ist die Koordination im Sprint meine grösste Herausforderung. Daran arbeite ich intensiv.»

Ein Leben fast wie eine Profisportlerin

Die Maturitätsschule für Erwachsene in Sargans, welche ihr ein späteres Studium erlauben soll, hat sie vorerst ausgesetzt. Wegen der Paralympics und dessen, was ab dem 1. November auf sie zukommt. Elena Kratter wird als erste Behindertensportlerin überhaupt die Spitzensport-Rekrutenschule in Magglingen absolvieren. Die Unterstützung durch das Militär ist für sie auch finanziell ein wichtiger Posten, denn mit 80 Prozent Einsatz für den Sport und 20-prozentiger Arbeitsstelle als Orthopädistin lebt es sich nicht auf grossem Fuss. «Es ist eine knappe Angelegenheit», sagt Elena Kratter. Neben der Unterstützung durch die Sporthilfe kann sie seit diesem Jahr auf die Credit Suisse als persönlichen Sponsor zählen.

Am heutigen Beruf hat Elena Kratter von Kindesbeinen her geschnuppert. «Da ich während des Wachstums regelmässig neue Prothesen anfertigen lassen musste, habe ich viel Zeit in der Werkstatt verbracht. Ich war früh fasziniert von diesem Beruf und habe schnell gewusst, was ich lernen will.»

Und nun befasst sie sich mit dem Gedanken, die handwerkliche Seite der Prothesenanfertigung mit der wissenschaftlichen Seite eines Studiums in Biomechanik zu ergänzen. Auch dieser Schritt folgt einem klaren Ziel. «Man redet immer von Hightech-Prothesen. Aber was wir tragen, ist noch lange nicht Hightech.» Die Funktion des Knies werde nach wie vor nur ungenügend ausgeübt. «Solange ich nicht normal eine Treppe hinaufsteigen kann, muss doch hier noch mehr möglich sein», sagt Elena Kratter. Und man spürt ihren Ehrgeiz, auch im beruflichen Umfeld wie im Sport Grenzen zu verschieben.

Marcel Hug und der schnellste Rollstuhl der Welt

Der Thurgauer Marcel Hugüberlässt nichts dem Zufall. Der RollstuhlSportler mit dem einprägsamen Silberhelm will an den Paralympics in Tokio bei seinen vier Starts in der Leichtathletik die stolze Medaillensammlung erweitern. Dabei soll auch eine aufwendige Innovation im Bereich Material helfen. Mit Unterstützung der ETH Zürich und der Sauber Fl Group in Hinwil liess der 35 Jährige den angeblich schnellsten RennRollstuhl der Welt anfertigen.

«OT Foxx» nennt sich das Gefährt mit dem bis ins letzte Detail optimierten Set-up. Die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und die Tests im Hinwiler Windkanal sorgten für eine Rundum-Verbesserung. Die Aerodynamik des Rollstuhls wurde ebenso unter die Lupe genommen wie jene des Helms und des Renndresses. Auch die Räder des Gefährts sowie die Bereifung hin bis zum perfekten Luftdruck wurden durchleuchtet, die Sitzposition optimiert und das neue Chassis komplett aus Karbon gebaut.
(rs)


Elena Kratter
25, Vorderthal (SZ)
Leichtathletik
(100 m und Weitsprung)

Elena Kratter gewinnt im Mai 2021 an der Europameisterschaft in Polen, ihrem ersten Grossanlass in der Leichtathletik, Silber über 100 m. Bild: Marcus Hartmann/PD

 

Historische Premiere: Spitzensport-RS öffnet für Behindertensportler

Die Förderung des Schweizer Leistungssports durch die Armee erhält eine neue Dimension. 17 Jahre nach der Etablierung dieser Spezialform der Rekrutenschule sind erstmals ein Sportler im Rollstuhl und eine Athletin mit Beinprothese als Soldaten dabei.

Es ist eine Art Ritterschlag für den paralympischen Sport in der Schweiz. Mit der 25-jährigen Leichtathletin Elena Kratter aus Vorderthal und dem 22-jährigen Handbiker Fabian Recher aus Spiez absolvieren zwei aktuelle Teil nehmer der Paralympics in Tokio ab dem 1. November die Spitzensport-Rekrutenschule in Magglingen. «Für uns ist dies eine Riesenchance», sagt Matthias Schlüssel am Telefon aus Tokio. Der Leiter Spitzensport beim Fachverband PluSport sagt: «Es führt zweifellos zu einer weiteren Professionalisierung unserer Athletinnen und Athleten. Sie können sich während 18 Wochen an Sportlern orientieren, die hochprofessionell unterwegs sind. Das bringt sie auf jeden Fall weiter.»

Wie wertvoll das Engagement der Schweizer Armee für den Spitzensport ist, unterstrich das Schweizer Abschneiden an den Olympischen Spielen in Tokio. Sieben der 13 Medaillen gingen an Sportsoldaten. Im Vergleich zu den Sommerspielen 2016 in Rio stieg der Anteil Sportsoldaten innerhalb der Delegation von 29 auf 41 Prozent.


Beim RS-Start am 1. November warten auch ein Athlet im Rollstuhl und eine Sportlerin mit Prothese auf das Fassen ihres Armee-materials. Bild: Kurt Henauer/PD

 

Die aktuelle Form der Spitzensport-RS gibt es seit 2004. Im Jahr 2006 absolvierte sie erstmals eine Frau. In der Sommer-RS, welche diesen Freitag zu Ende ging und von 54 Athleten aus Wintersportdisziplinen durchlaufen wurde, waren 14 Frauen mit an Bord.

Seit 2018 diskutieren der Fachbereich Spitzensport der Armee, die beiden Fachverbände und Swiss Olympic über eine Öffnung der Fördergefässe für Behindertensportler. Einfach war dies auch deshalb nicht, weil eine Behinderung grundsätzlich zur Dienstuntauglichkeit führt. Dass in diesem Modell nun dienstuntaugliche Menschen zu Sportsoldaten ausgebildet werden, war eine völlig neue Ausgangslage und führte zu einigem Klärungsbedarf mit der Invalidenversicherung.

Urs Walther, seit 2008 Chef Spitzensport der Armee, sagt, dass die Verdoppelung der Anzahl Plätze in der Spitzensport-RS von jährlich 70 auf140 Plätze bis ins Jahr 2023 diesem Projekt in die Karten spielte. Für eine hindernisfreie Benutzung musste die Infrastruktur teilweise angepasst werden. Der Berner sagt, er sei sehr guten Mutes, dass dieses Projekt gelingen werde.

Auch der Schweizer Olympiachef Ralph Stöckli freut sich über die neuen paralympischen RS-Kameraden für die Sporttalente: «Das ist eine coole Sache. Ich bin überzeugt, dass sie für alle Beteiligte befruchtend sein wird.»

Rainer Sommerhalder

Die Schweizer Delegation anden Paralympics in Tokio

 

 

Lücke beim Assistenzbeitrag wird geschlossen

(Schweizer Personalvorsorge Aktuell)

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats (SGK-S) hat der Parlamentarische Initiative von Christian Lohr für die Entschädigung von Hilfeleistungen von Angehörigen im Rahmen des IV-Assistenzbeitrags zugestimmt. Die Initiative forderte, dass Angehörige von Menschen mit Behinderungen für ihre Hilfeleistungen über den Assistenzbeitrag der IV entschädigt werden. Die Verbände Agile.ch und InVIEdual zeigten sich in einer Medienmitteilunq erfreut über den Entscheid der Kommission und erwarten nun, dass der Ständerat nach- zieht. Der im Januar 2012 in Kraft getretene Assistenzbeitrag der IV ermöglicht es Menschen mit Behinderungen, die eine Hilflosenentschädigung erhalten, durch die Anstellung von Assistenten ein selbstbestimmtes Leben zu Hause zu führen. Nun sollen auch Familienangehörige über diesen Assistenzbeitrag bezahlt werden können

Ein Alltag voller Hindernisse

(bz Zeitung für die Region Basel)

Ein Spaziergang durch die Freie Strasse zeigt die Probleme für Menschen mit einer Behinderung auf.


Regierungspräsident Beat Jans (Mitte) nahm gestern im Rollstuhl Platz, um die Probleme besser nachvollziehen zu können.

 

Samantha Siegfried

Es ist laut in der Freien Strasse in Basel an diesem Mittwochvormittag: Bagger, Presslufthämmer und Fräsen arbeiten an der Umgestaltung der Einkaufsmeile, dazwischen zwängen sich grosse Lastwagen hindurch. Mittendrin tastet sich PeterHänggi, 55, mit einem Blindenstock langsam vorwärts. «Der Lärm nimmt sehbehinderten Menschen zusätzlich die Orientierung», sagt Hänggi, der seit seinem zwanzigsten Lebensjahr erblindet ist. Er sei angewiesen auf das Geräusch der Schritte und seines Stocks.

An seiner Linken führt ihn Banchu Madörin, 25, ebenfalls sehbehindert, aber im Gegensatz zu Hänggi nicht komplett blind. Die beiden sind Teil des Stadtrundgangs «Gemeinsam unterwegs zu einem besseren Miteinander», zu dem Regierungspräsident Beat Jans, das Behindertenforum und die Fachstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderung eingeladen haben. Die neu im Präsidialdepartement geschaffene Fachstelle überwacht und koordiniert die Umsetzung des Behindertenrechtegesetzes, das seit dem 1. Januar 2021 in BaselStadt in Kraft ist. Der Rundgang solle vor allem sensibilisieren, sagt der Leiter der Fachstelle Michael Wilke: «Wir müssen das Thema Inklusion aus der Theorie ins praktische Leben
holen. Was bedeutet es konkret, wenn ich nicht in einen Laden
gehen kann?»

Bauliche Massnahmen sind nur ein Puzzlestein

Vor diesem Problem ist soeben Christine Bühler gestrandet, Präsidentin des Behindertenforums. Aufgrund einer Geburtsbehinderung ist sie bereits ihr Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen. Vor den Stufen des Vom Fass und dem Lindt Chocolate Shop hält sie an und sagt: «Es gibt immer noch Geschäfte, die nicht rollstuhlgängig sind», fügt aber hinzu: «Früher konnte man sich mit dem Rollstuhl gar nicht in der Innenstadt bewegen, so gab es beispielsweise keine Trottoirabsenkungen. Heute werden mehr Anpassungen gemacht.»

«Wir sind es gewohnt, nicht in Entscheidungen miteinbezogenzu werden.»
Peter Hänggi seit 35 erblinde

Neben ihr fährt Regierungspräsident Beat Jans im Rollstuhl und versucht, zu hohe Trottoirs und Baustellenrampen zu überwinden und Hindernissen auszuweichen. «Es ist sehr beeindruckend, mit wie vielen Einschränkungen Menschen mit einer körperlichen Behinderung im Alltag konfrontiert sind», stellt Jans bei seinem Selbstversuch fest. Er wolle sich verstärkt für die Anliegen von Menschen mit
einer Behinderung einsetzen.

Als er sich etwas später mit Augenklappe und Blindenstock auf dem renovierten Strassenabschnitt der Freien Strasse vortastet, macht ihn Hänggi darauf aufmerksam, wie die Bedürfnisse von Menschen mit einer Sehbehinderung nicht in die Planung miteinbezogen wurden: Der Boden der neuen Einkaufsmeile hat keine Trottoirs, jedoch auch keine Leitlinie am Boden, an der sich blinde Menschen orientieren können. Mit dem Stock fühle sich nun alles gleich an, sagt Hänggi. Künftig hat er in der Freien Strasse folglich mit einer weiteren Schwierigkeit zu kämpfen. Zusätzlich zu den Mülleimern, den Stellwänden oder Autos, die das Trottoir versperren, den Fahrrädern, die an Hauswänden angeschlossen sind oder – immer häufiger – den Menschen, die auf das Smartphone starren und ihn deswegen übersehen. Was macht es mit einem, wenn seine Bedürfnisse übersehen werden? «Menschen mit einer Behinderung sind es gewohnt, nicht in Entscheidungen miteinbezogen zu werden. Deswegen müssen wir auf unsere Rechte aufmerksam machen», sagt Hänggi.

Hier will die Fachstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderung ansetzen. Konkret, indem sie die Verantwortlichen, etwa bei Bau- oder Sanierungsprojekten, zu einem Rundgang mit Betroffenen einlädt. So sollen beispielsweise bei der geplanten Umgestaltung des Rümelinsplatzes die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung berücksichtigt werden, sagt Michael Wilke.

Dabei seien bauliche Massnahmen nur ein Puzzleteil für eine gelungene Inklusion. Mit dem Inkrafttreten des Behindertenrechtegesetzes hat BaselStadt die Aufgabe, Menschen mit Behinderung in allen Bereichen ein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben zu ermöglichen. Dazu gehören laut Wilke etwa das erweiterteStimm- und Wahlrecht, mehr barrierefreier Wohnraum oder Jobs im ersten Arbeitsmarkt.

Ähnlich sieht es die Präsidentin Christina Bühler vom Behindertenforum. «Die baulichen Anpassungen sind der erste Schritt, damit wir unsüberhaupt unter die Leute mischen können», sagt Bühler. Erst von dort aus könne die Inklusion in den anderen Bereichen in Angriff genommen werden.