So steht es nach Long Covid um eine IV-Rente

(Berner Zeitung)

Langzeitfolgen Fast tausend Patienten haben sich dieses Jahr bei der IV angemeldet, jetzt entscheidet die Versicherung über die Rente. Dabei spielt das Fatigue-Syndrom eine entscheidende Rolle.

Markus Brotschi

Sie geraten auch Monate nach der akuten Erkrankung bei leichter körperlicher Anstrengung ausser Atem, klagen über chronische Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen. Bei manchen Long-Covid-Betroffenen sind die Beschwerden so stark, dass sie nicht mehr arbeiten können. 900 dieser Patienten haben sich im ersten Halbjahr 2021 bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet. Dies berichtet Altea, einNetzwerk von Fachpersonen und Long-Covid-Betroffenen.

Die häufigsten Langzeitfolgen einer Covid-Erkrankung sind Atemnot, chronisches Erschöpfungssyndrom (chronisches Fatigue-Syndrom) sowie Gelenk- und Muskelschmerzen. Bei den IV-Anmeldungen dürften chronische Fatigue, Konzentrationsschwierigkeiten und allenfalls noch psychische Probleme dominieren, sagt Michael Schlunegger, Geschäftsführer von Altea. Atemwegsprobleme dürften hingegen weniger häufig der Grund für eine IV-Anmeldung sein, da diese Beschwerden vor allem in der akuten Phase der Krankheit aufträten.

Menschen, die unter Fatigue leiden, spüren eine Erschöpfung, die auch bei viel Schlaf nichtweggeht. Anwalt Daniel Schilliger von der Behindertenorganisation Procap betreut zurzeitzwei Long-Covid-Patienten mit chronischer Fatigue, die sich bei der IV angemeldet haben. Er warte auf die ersten Entscheide der IV zu Long-Covid, mit denen er im Herbst rechne.

Ein Jahr lang arbeitsunfähig

Voraussetzung für einen Rentenentscheid der IV ist, dass jemand mindestens während eines Jahres arbeitsunfähig geschrieben und in medizinischer Behandlung war. Die Eingliederungsmassnahmen müssen erfolglos gewesen und abgeschlossen sein. Die ersten Long-Covid-Anmeldungen bei der IV dürften laut Schilliger im Sommer 2020 erfolgt sein, einige Monate nach den ersten Erkrankungen.

Entscheidend, ob man mit chronischem Erschöpfungssyndrom eine Rente erhält, ist laut Schilliger, ob die IV die Erkrankung als somatisch oder psychosomatisch beurteilt. Im letzteren Fall sei die Hürde für eine Rente hoch.

Laut Anwalt Schilliger ist es jedoch auch möglich, dass die IV bei den Fatigue-Fällen zum Schluss kommt, dass es eine somatische Ursache gibt. Wegweisend könnte ein Bundesgerichtsurteil von 2013 sein, gemäss dem chronische Fatigue infolge einer Krebserkrankung als relevante Krankheit anerkannt wurde. Ausschlaggebend könnte bei den Long-Covid-Patienten zudem die grosse Zahl der Betroffenen sein. Je häufiger solche Erkrankungen vorkommen, desto besser sind sie auch medizinisch dokumentiert.

Michael Schlunegger schätzt, dass es in der Schweiz Zehntausende Long-Covid-Betroffene gibt, bei bisher 700’000 bestätigten Corona-Fällen seit Ausbruch der Pandemie. Long Covid sei als Syndrom aber noch nicht definiert und wirklich anerkannt. Viele Patienten seien auf der Suche nach Hilfe und würden teilweise von ihren Ärzten und Therapeuten nicht ernst genommen.

Die IV setzt derzeit auf die medizinische Behandelbarkeit von Long Covid. «Wenn das behandelbar ist und die Arbeitsfähigkeit gegeben ist, gibt es an sich keine guten Gründe, weshalb sich die IV in diesem Bereich weiter engagieren sollte», sagte Stefan Ritler, Vizedirektor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), kürzlich gegenüber Radio SRF. Mit einem Anteil von rund 3 Prozent der Anmeldungen führten die Long-Covid-Fälle bei der IV bis jetzt zu einer Fallzunahme, wie sie auch in anderen Jahren zu
beobachten sei.

Ein Fall für die Gerichte

Dass die Langzeitfolgen von Covid-Erkrankungen medizinisch behandelbar seien, also eine Besserung oder Heilung möglich sei, schliesse eine IV-Rente nicht aus, sagt hingegen Schilliger. Die IV könne in solchen Fällen nach der Rentenzusprache eine Überprüfung vornehmen. Generell hätten es Fatigue-Patienten bei der IV aber schwer, zu einer Rente zu kommen, sagt Schilliger. Chronische Fatigue ist von anderen viralen Erkrankungen bekannt.Liegt kein Krebsleiden vor, werden die Fälle von der IV meist als psychosomatische Erkrankungen betrachtet.

Zwar sei auch dann eine Rentenzusprache nicht ausgeschlossen, sagt Schilliger. Aber dann müsse mit neuropsychologischen Abklärungen, medizinischen Gutachten und Arbeitstests eruiert werden, ob ein Erschöpfungssyndrom vorliege. Schwierig dürfte es laut Schilliger auch für Long- Covid-Patienten mit Fatigue sein, die bereits vor der Covid-Erkrankung psychische Probleme hatten. Schliesslich kann die IV auch zum Schluss kommen, dass das Leiden zwar vorhanden, aberüberwindbar ist. Das heisst, dass sie trotz Erschöpfungssyndrom weiterhin erwerbsfähig sind. Bessere Chancen auf eine Rente hat, wer vor Covid keine Vorerkrankungen aufwies und von Covid schwere gesundheitliche Schäden davongetragen hat, etwa an der Lunge oder an Organen.

Vermutlich werden sich am Schluss die Gerichte mit Dossiers von Long-Covid-Patienten beschäftigen müssen, vor allemwenn diese gegen abschlägige Rentenentscheide rekurrieren. Für die Betroffenen habe eine Anmeldung bei der IV jedoch nicht Priorität, sagt Schlunegger. Viele der Betroffenen hofften relativ lange, dass sich ihr Zustand verbessere. Deshalb dürften jene, die sich bei der IV anmeldeten, in der Minderheit bleiben.

Wird die Erkrankung als psychosomatischbeurteilt, ist die Hürde für eine Rente hoch.

Bundesrat forciert teure Praxisänderung beim Bahnzugang

(Schweizer Eisenbahn-Revue)

Bislang galten Bahnhöfe, bei denen der Zugang zu den Perrons über eine Unterführung mit Rampen erfolgte, als behindertengerecht. Das ändert sich nun: In Zukunft müssen die Infrastrukturbetreiber bei Um-und Ausbauten vermehrt den zusätzlichen Einbau von Personenaufzügen vorsehen.Offen ist noch, für welche Bahnhöfe das konkret gelten wird.

Die Praxisänderung ist das Ergebnis von parlamentarischen Vorstössen. Mitte“-Nationalrätin Marie-France Roth Pasquier und FDP-Ständerätin Johanna Gapany monierten mit je einer gleichlautenden Interpellation, der bisherige Standard beim Bahnzugang entspreche nicht dem Sinn des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG). Dieses
erlaube zwar Rampen, doch seien diese für Personen mit eingeschränkter Mobilität oft zu lang und zu steil, de facto also nicht nutzbar.

Der Bundesrat erinnert in seiner Antwort zwar daran, dass die Entscheidung, Rampen gegenüber Aufzügen zu bevorzugen, 2004 in
Abstimmung mit Behindertenorganisationen erfolgt sei, zeigt sich erstaunlicherweise aber bereit, der Forderung nachzukommen. Begründung: Man sei sich den Veränderungen
in der Gesellschaft und den Erwartungen der Reisenden bewusst.“

Anlässlich der nächsten Revision der Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverordnung (AB-EBV) sollen deshalb die entsprechenden
Vorschriften neu beurteilt werden. Dabei sind auch Kriterien festzulegen, für welche Bahnhöfe die Doppelausrüstung anzustreben ist. Immerhin sollen die finanziellen Folgen des Einbaus, des Unterhalts und des Betriebs von Aufzügen sowie deren Erneuerung berück- sichtigt werden“, so der Bundesrat.

Um- und Ausbauten von Bahnhöfen werden entweder über die periodischen Leistungsvereinbarungen oder über die STEP-Ausbauschritte finanziert. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) geht in einer ersten Einschätzung davon aus, dass als Ergebnis der Praxisänderung einerseits in grossen Bahnhöfen zusätzliche Lifte erforderlich und andererseits kleinere Bahnhöfe neu damit auszurüsten sein werden. Das BAV hat die Infrastrukturbetreiber aufgefordert, insbesondere bei laufenden Projektierungsarbeiten zur Umsetzung des BehiG die veränderten Kundenbedürfnisse zu berücksichtigen.“ Man sei bereit, allfällige Mehrkosten im Rahmen der bestehenden Kredite für die Bahninfrastruktur zu finanzieren.

Kein Thema dürfte – hoffentlich – der vermehrte Einsatz von Liften anstelle von Rampen sein, da die Kapazität von Aufzügensehr gering ist und sie zudem eine schlechtere Verfügbarkeit aufweisen (Wartung, Störungen).
(mr)

Liebe auch für das gesunde Kind

(Schweiz am Wochenende / Luzerner Zeitung)

Dass die Kindheit mit einem beeinträchtigten Geschwister Spuren hinterlässt, wird oft zu spät klar. Hilfe tut not.


Die Liebe zwischen Geschwistern ist gross. Nicht zuletzt deshalb brauchen sie manchmal auch einzeln
Unterstützung, damit keines zu kurz kommt. Symbolbild: Getty

 

von Susanne Holz

Sabrina, heute 38, wuchs mit einem schwerst behinderten Bruder auf, der eineinhalb Jahre älter war. Wegen Komplikationen während der Geburt sass der Bruder ein Leben lang im Rollstuhl und war geistig und körperlich stark beeinträchtigt. Sabrina half schon als Kind bei der Pflege mit; beim Waschen, Wickeln, der Gabe von Essen und Trinken oder beim Trösten. Heute sagt sie: «Meine Kindheit war nicht einfach. Das wurde mir aber erst als erwachsener Frau bewusst. Als ich mich plötzlich zu fragen begann, woher gewisse Probleme kommen, die ich habe.»

Sabrina erzählt, dass sieihren Bruder, der mit 26 Jahren starb und nur die letzten zwei Jahre seines Lebens im Heim verbrachte, sehr geliebt habe: «Als wir einmal ausnahmsweise verreisten und ihn in fremde Betreuung geben mussten, war das schrecklich belastend für meine Eltern und mich.»

Probleme behält sie für sich, die Mutter hat genug Sorgen

Mutter, Vater, Schwester – das Leben eines jeden von ihnen war auf den Bruder fokussiert. Einer musste immer zu Hause sein. Der Bruder weinte oft, auch nachts. Sabrina erklärt sich ihre beständigen Schlafstörungen inzwischen auch mit dem gestörten Schlaf in ihrer Kindheit. Sie musste früh erwachsen werden, früh selbstständig sein, alles früher können als andere Kinder. Hatte sie Probleme, behielt sie diese für sich – die Eltern hatten schon genug Sorgen. Die Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um den Bruder, der Vater arbeitete sehr viel, um beispielsweise den Umbau der Wohnung in eine behindertengerechte Wohnung zu finanzieren. «Meine Eltern wollten immer alles alleine hinbekommen», blickt die 38-Jährige zurück, der lange nicht klar war, dass sie vor allem als Teenager mehr Aufmerksamkeit gebraucht hätte. Oder dass die unbelasteten Momente fehlten – das Leben war geprägt von den Schmerzen des Bruders, von den Operationen und
Behandlungen, die dieser auf sich nehmen musste.

Vielleicht deshalb hat Sabrina nur wenig Erinnerung daran, wie sie sich als Kind fühlte: «Ich habe viel verdrängt», vermutet sie. Nur an eines erinnert sie sich: den Eltern vorgeworfen zu haben, den Bruder mehr zu lieben als sie. Aus Erzählungen der Eltern wiederum weiss Sabrina, dass sie als kleines Kind einst nichts mehr essen wollte – bis die Eltern begriffen, dass ihre Tochter wohl noch ebenso beim Essen und Trinken unterstützt werden wollte, wie sie es beim grösseren Bruder sah.

Im Teenageralter kämpft Sabrina plötzlich mit Ängsten, Depressionen, Essstörungen. Als sie 18 ist, sagt ihre Ärztin: «Gell, dir geht es nicht gut?» Sie rät zu Therapie. «Ich hätte schon viel früher eine bekommen sollen», sagt Sabrina heute.

Die Therapie hilft der jungen Frau. Im Zuge weiterer Therapien kommt es zu einer Aussprache mit den Eltern. Vor allem der Vater gibt zu: Man hätte einiges anders machen, mehr Hilfe beanspruchen sollen. Im Rückblick hätte sich Sabrina einen Mutter-Tochter-Tag pro Woche gewünscht, mehr Unterstützung von aussen, mehr Liebe, und auch die Möglichkeit, schon als Kind mit einer Fachperson über ihre Ängste zu reden. Nun hofft sie auf einen Austausch in einer Selbsthilfegruppe und möchte hier auch andere Betroffeneunterstützen.

Selbsthilfegruppen im Aufbau

Die Selbsthilfe Luzern Obwalden Nidwalden bietet zahlreiche Selbsthilfegruppen an. Einige davon sind im Aufbau wie die Gruppe «Geschwister von Menschen mit einer Behinderung». Wer einen Erfahrungsaustausch in geschütztem Rahmen sucht, der Kraft und Mut geben und bei der Suche nach kreativen Lösungen helfen kann, der kann sich unter Tel. 041 210 34 44 melden oder unter mail @selbsthilfeluzern.ch. In den kommenden Wochen stellen wir einige Gruppen im Aufbau vor. (sh)
Weitere Infos:
www.selbsthilfeluzem.ch

Nachgefragt
«Es ist wichtig, in der Familie über Ängste zu reden»

Martina Bosshart, Geschäftsleiterin der Pro Infirmis Geschäftsstelle Luzern, Ob- und Nidwalden, beantwortet zentrale Fragen, die sich für Angehörige von Menschen mit einer Behinderung ergeben.

Welche Unterstützung können Angehörige von (schwerst) behinderten Menschen beanspruchen?

Martina Bosshart: Es gibt eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten, ambulante und (teil-) stationäre Angebote, Elternvereinigungen und Selbsthilfe. Auch spezialisierte Fachstellen wie die Frühberatung spielen eine wichtige Rolle. Pro Infirmis
bietet als erste Anlaufstelle für alle Fragen rund um das Thema Behinderung Orientierung. Unsere Beratung ist kostenlos und umfassend. Wir erschliessen auch Finanzierungsmöglichkeiten und leisten bei knappen finanziellen Verhältnissen Direkthilfe.

Werden auch Geschwister unterstützt?

Die Betreuung und Pflege von Kindern mit Behinderung ist eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Eltern möchten zudem auch genug Zeit haben für ihre anderen Kinder. Daher ist es wichtig, Unterstützung und Entlastung in Anspruch zu nehmen, bevor die eigenen Ressourcen erschöpft sind. Dazu gehört Unterstützung aus dem privaten Umfeld wie auch die Inan-spruchnahme von Dienstleis-tungen wie Entlastungsdienst oder Spitex. Davon profitieren auch die Geschwister, weil das gesamte System gestärkt wird. Entlastung fördert nachweislich die Lebensqualität aller Familienmitglieder.

Wie wird solcherlei Hilfe finanziert?

Welche Sozialversicherung wann für was aufkommt und
welche Vergünstigungen es sonst noch gibt, ist komplex. Je nach Situation und Dienstleistung (Betreuung ambulant oder stationär, Pflege) kommen andere Kostenträger in Frage: Kanton, Krankenkassen, IV-Stelle etc. Unsere Beratungsstelle zeigt die Möglichkeiten auf und hilft, Ansprüche geltend zu machen.

Welche Hilfe ist emotional und psychisch nötig?

Wichtig finde ich, in der Familie offen über Belastung, Sorgen und Ängste zu sprechen. Jeder Mensch sucht sich zudem seinen eigenen Weg, hat seine eigenen Vertrauenspersonen. Auch in unserer Beratung haben psychosoziale Themen Platz. Daneben gibt es Elternvereinigungen und Selbsthilfegruppen.Der Austausch mit anderenMenschen in einer ähnlichen Situation kann hilfreich sein. Wer professionelle psychologische/psychotherapeutische Hilfe braucht, für den stehen die üblichen Wege (in der Regel über den Hausarzt) offen. Das gilt auch für Geschwister

Wann ist es ratsam, die Pflege abzugeben und sich für ein Heim zu entscheiden?

Diese Frage lässt sich so pauschal nicht beantworten. Immer mehr Familien wünschen sich, dass ihr Kind auch trotz Behinderung im Kreis der Familie aufwachsen kann. Es gibt diverse Zwischenlösungen wie Tages-
strukturen, Wochenenden, Entlastungsdienste etc. Leider entspricht das bestehende Angebot nicht immer den Bedürfnissen der Familien. So fehlt es an
kurzfristigen Entlastungsangeboten.

Finanziert der Staat die Angebote?

Stationäre Angebote werden grundsätzlich vom Kanton finanziert. Die Invalidenversicherung erbringt diverse Leistungen zur Finanzierung von ambulanten Angeboten. Einen Teil zahlen die Eltern selbst. Zahlreiche Familien würden gerne mehr ambulante Unterstützung
in Anspruch nehmen, dochreicht das Geld nicht. Will man die Inklusion fördern, besteht hier Handlungsbedarf.

Ist bei Geschwisterkindern mit Folgen wie Depressionen und Ängsten zu rechnen?

Depressionen und Ängste kommen in allen Familien vor und können auch ganz andere Ursachen haben. Mit einem Geschwister mit Behinderung aufzuwachsen, kann die anderen Kinder auch stark machen und deren Entwicklung fördern.


Martina Bosshart, Pro Infirmis Luzern, Ob-&Nidwalden. Bild: PD

 

Die Eltern hier bauten auf eigene Kosten um. Hätten sie nicht finanzielle Unterstützung beantragen können?

Ja, die Invalidenversicherung (IV) finanziert Umbauten, sofern diese einfach und zweckmässig sind. Das Gesuch ist vorgängig zu stellen. Reichen die finanziellen Mittel der Familie nicht aus, hilft auch Pro Infirmis weiter.(sh)

Mehr Zeit für das, was wichtig ist

(Aargauer Zeitung / Gesamt Regio)

Die SVA will weniger Bürokratie für Eltern beeinträchtigter Kinder.

von Raphael Karpf

Sarah Fischer und ihr Mann leben in Möriken-Wildegg und haben vier Kinder. Eins davon kam mit einem Gendefekt auf die Welt. Esist mehrfach schwerstbehindert. Der Junge kann weder reden noch gehen noch sitzen, er braucht rund um die Uhr Betreuung. Tagsüber geht das Kind in eine heilpädagogische Schule. Ansonsten kümmert sich hauptsächlich Sarah Fischer um ihn, mit Unterstützung der Kinderspitex und Assistentinnen, die von der IV finanziert werden.

Auch den ganzen Papierkrieg ficht Fischer aus: Verfügungen bei der IV beantragen, Termine mit den Ärzten koordinieren, Rechnungen bezahlen. Nebenbei führt Fischer quasi ein eigenes Unternehmen: Werden die Assistentinnen, die bei der Betreuung helfen, zwar von der IV finanziert, sind sie doch bei Fischer angestellt. Sie muss die Verträge machen, die Lohnabrechnungen, die Versicherungsleistungen.

Zwei bis drei Stunden pro Woche wendet Fischer nur für Bürokratie auf. Zwei Ordner mit Dokumenten füllt sie jedes Jahr. Ihr Kind ist mittlerweile zwölf – die Ordner füllen eine ganze Wand. Da ist es nicht ganz einfach, immer den Überblick zu behalten. Insbesondere, weil Verfügungen der IV zeitlich befristet sind. Physiotherapiestunden oder Medikamente werden für eine gewisse Zeit bewilligt – dann muss Fischer einen neuen Antrag stellen.

Auch bei Terminen vor Ort bringt die reine Masse an Papier Nachteile mit sich: Wenn Fischer etwa mit ihrem Sohn beim Arzt ist und dieser Infos von einer anderen Stelle bräuchte. Dann musste sie bisher nach Hause gehen und das entsprechende Dokument in den Ordnern suchen.

35 Eltern haben über 8000 Dokumente digitalisiert

Das Problem hat auch die SVA Aargau, zu der die Invalidenversicherung gehört, erkannt. Darum hat sie ein Pilotprojekt lanciert: eine Onlineplattform für Eltern beeinträchtigter Kinder. Sämtliche Formulare, Unterlagen und Rechnungen können an einem zentralen Ort hochgeladen und abgerufen werden. Nancy Wayland, CEO der SVA Aargau: «Die Onlineplattform schafft etwas zeitlichen Freiraum, den die Eltern für sich und ihre Kinder nutzen können.» Ausgewählt für den Pilotbetrieb
wurden 35 Eltern, darunter auch Sarah Fischer. Sie kann nunbeim Arzt auf ihrem Handy nach Stichworten suchen und findet unter den Hunderten Dokumenten sofort das benötigte.

Und laufen Verfügungen ab, wird sie im Voraus benachrichtigt. Ausserdem kann sie verschiedene Dokumente einscannen und so einreichen. Sie braucht nicht mehr alles auszudrucken, zu unterschreiben und per Brief abzuschicken. Fischer: «Die Plattform macht vieles einfacher und spart sehr viel Zeit.»

Dabei ist die Plattform noch gar nicht fertig. Im Februar 2020 startete das Projekt, seit Herbst 2020 sind alle 35 Pilotuser online. Alleine diese 35 Familien haben schon über 8000 Dokumente hochgeladen und können diese nun online verwalten.

Ausserdem werden Fischer und die anderen Pilotuser regelmässig befragt und können sich einbringen – und so das Projekt weiterentwickeln. In einemnächsten Schritt sollen nun die Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt ausgewertet und Anpassungen vorgenommen werden. Und später soll die Plattform allen Eltern mit gesundheitlich beeinträchtigten Kindern zur Verfügung stehen.

In Zahlen

(Beobachter)

656 Personen beantragten in den erstenfünf Monaten 2021 eine IV-Rente, weil sie unter Covid Langzeitschäden leiden.

Im Januarwaren es 17, im März 171, im Mai 264. Das sind im Schnitt drei Prozent der 20 906 Erstanträge. Seit Mai wird aber jeder 15. Antrag mit Covid- Langzeitschäden begründet; bei den 56- bis 65-Jährigen ist es sogar jeder zehnte. Letztes Jahr wurden 18 700 neue Renten von höchstens 2390 Franken im Monat bewilligt. Von der versicherten Bevölkerung beziehen insgesamtvier Prozent eine Rente der Invalidenversicherung.

RENE AMMANN
quelle:bsv.admin.ch

Eine Welle von Invaliditätsfällen in der 2. Säule?

(Schweizer Personalvorsorge)

Jérôme Cosandey, Directeur romand von Avenir Suisse

Viele Journalisten wollten wissen, wie sich die Pandemie auf die Altersrenten der Vorsorgeeinrichtungen ausgewirkt hat. Die Frage nach den Auswirkungen der Übersterblichkeit im Zusammenhang mit dem Virus ist zwar gerechtfertigt, trifft vermutlich aber den Kern der Sache nicht. Denn die Risiken liegen nicht bei den Rentnern, sondern bei den aktiven Versicherten, und gehen von den Invaliditätsleistungen aus. Vielen Versicherten ist nicht bewusst, welch wichtige Rolle die berufliche Vorsorge hier spielt. Nebst den rund 1400 Franken, die die Invalidenversicherung der 1.Säule (IV) als monatliche Rente aus zahlt, erhalten Pensionskassenversicherte einen ungefähr gleich hohen Betrag. Die Pensionskassen zahlen pro Jahr insgesamt 2.1 Milliarden Franken an Invaliditätsleistungen aus.


«Im Jahr 2020 betrafen 47% der neu zugesprochenen IV-Renten psychische Erkrankungen. Und genau in diesem Punkt dürfte die Pandemie bei den Pensionskassen finanzielle Spuren hinterlassen.


Doppelte Herausforderung für die Kassen

Entgegen der gängigen Vorstellung von Personen mit Beeinträchtigung als Menschen im Rollstuhl spielen körperliche Leiden eine zusehends untergeordnete Rolle. Hingegen betrafen 47 % der im Jahr 2020 neu zugesprochenen IV-Renten psychische Erkrankungen. Und genau in diesem Punkt dürfte die Pandemie bei den Pensionskassen finanzielle Spuren hinterlassen. Die Homeoffice-Pflicht, das Verbot von Sport- und Kulturveranstaltungen sowie die Beschränkung der Anzahl Kontakte im privaten Bereich haben bei vielen Versicherten psychische Störungen ausgelöst.

Gemäss der Swiss Corona Stress Study der Universität Basel ist der Anteil von Menschen mit schweren depressiven Symptomen zwischen der ersten und der zweiten Corona-Welle im Jahr 2020 von 3 % auf 18 % angestiegen. Diese Entwicklung stellt für die IV und damit auch für die von deren Rentenentscheiden abhängigen Pensionskassen eine doppelte Herausforderung dar: Einerseits wegen der gestiegenen Rentengesuche, andererseits, weil sich in Krisenzeiten eine Eingliederung der Betroffenen viel schwieriger gestaltet.

Es gibt zu wenig Case Manager

Je länger die Arbeitsunfähigkeit dauert, desto geringer sind die Aussichten auf eine Eingliederung. In unklaren Situationen, wie sie bei psychischen Erkrankungen typisch sind, kann eine rasche und gezielte Intervention ein Abgleiten in eine Negativspirale verhindern – zu einer Depression können sich eine Alkoholabhängigkeit, der Verlust des Arbeitsplatzes oder Schulden gesellen. Um einen solchen Absturz ins Elend zu verhindern, können die IV, die Krankentaggeld(KTG)-Versicherer oder die Pensionskassen einen Case Manager einschalten. Dieser koordiniert die Massnahmen der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Ärzte und Versicherer.

Obwohl die Arbeitgeber eigentlich verpflichtet sind, Langzeiterkrankungen ihren Pensionskassen frühzeitig zu melden, sind es oft die KTG-Versicherer, die als erste davon erfahren. Doch für Letztere beschränkt sich die Rendite einer «Investition» in einen Case Manager lediglich auf die Einsparungen, die während der maximalen Leistungsdauer von 730 Tagen möglich sind, während die IV und die Pensionskasse noch während Jahren oder gar Jahrzehnten die Kostenfolgen einer nicht gelungenen Eingliederung zu tragen haben. Obwohl das System in seiner Gesamtheit von einem Case Manager profitieren würde, rechnet sich dessen Einsatz für den KTG-Versicherer oft nicht.

Bessere Kostenaufteilung

Diese fehlenden gemeinsamen finanziellen Interessen sind ein klassisches Beispiel für positive externe Effekte: Die Pensionskassen und die IV profitieren vom Case Management, obwohl sie nicht zur Kostenbeteiligung gezwungen sind. Diese Verzerrung ist nicht nur ungerecht, sie schadet auch allen Beteiligten, denn es wird dadurch viel zu selten ein Case Manager eingeschaltet.

Will man ein besseres Gesamtergebnis erzielen, braucht es Finanzmechanismen, die diese positiven Externalitäten internalisieren. Oder auf gut Deutsch: Sämtliche Akteure, die von den Vorteilen des Case Managements profitieren, sollten einen Teil der Kosten tragen. Die Mitglieder des Vereins Compasso haben deshalb eine Vereinbarung für die Kostenaufteilung entwickelt, die eine pragmatische Lösung dieses Problems ermöglicht. Die KTG Versicherung und die Pensionskasse vereinbaren mit einer kurzen E-Mail oder per Telefon, wer die Koordination des Falls übernimmt, für welchen Höchstbetrag und wie die Kosten aufgeteilt werden sollen (beispielsweise 50/50).

Obwohl der Verein Compasso offiziell von rund 100 Mitgliedern getragen wird, darunter auch vom ASIP und von interpension, erfolgt die Umsetzung der Vereinbarung noch nicht systematisch. Ausserdem wäre es wünschenswert, wenn die Kostenaufteilung auch die kantonalen IV-Stellen involvieren würde. Von einer solchen Zusammenarbeit würden nicht nur alle an der Finanzierung von Invaliditätsfällen beteiligten Akteure profitieren, sondern vor allem auch die Hauptbetroffenen, nämlich die Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung.

Fordert barrierefreie gesundheitsversorgung

(Krankenpflege / Soins infirmiers)


Alltagsziel: Ohne fremde Hilfe den medizinischen Termin wahrnehmen.

 

Für viele Menschen mit und ohne Behinderungen sind medizinische Termine mit Hürden verbunden: Sie fühlen sich unwohl im Wartezimmer, empfinden die Untersuchung als unangenehm oder machen sich Sorgen über die Ergebnisse. Kommen weitere Hürden wie eine nicht rollstuhlgängige Praxis oder Fachpersonen, die zu schnell und zu kompliziert sprechen, hinzu, werden medizinische Termine zu einem unüberwindbaren Hindernis.

Prof. Dr. Monika Wicki von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik hat im Rahmen ihrer neuen Studie «Gesundheitsversorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen» 134 Personen zwischen 50 und 65 Jahren, die selbstständig leben und eine IV-Rente beziehen, zu ihrem Gesundheitszustand und ihrer Gesundheitsversor-gung befragt: 16 Prozent beurteilen ihren Gesundheitszustand als schlecht, 30 Prozent fühlen sich im Alltag stark eingeschränkt und sind auf Unterstützung angewiesen, 69 Prozent haben starke Beschwerden wie Fieber, Schmerzen, Migräne, Bluthochdruck, Depressionen und Arthrose.

Ihr Gesundheitszustand wirkt sich direkt auf die Möglichkeit eines selbstständigen Lebens aus. Pro Infirmis setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und autonom leben können und fordert deshalb, dass Gesundheitsinformationen, Präventions- und Gesundheitsprogramme sowie Einrichtungen des Gesundheitswesens barrierefrei zugänglich sind.


Weitere Informationen unter:
www.proinfirmis.ch/gesundheit

«Hardrock vielleicht im Keller»

(Der Bund)

Inklusion
Jonathan Schweyer und Tino Kölliker leben mit einer Behinderung. Selbstständig wohnen möchten sie trotzdem. Nun ist der Spatenstich für ihre Wohnung in Bern erfolgt

von Brigitte Walser

Jonathan Schweyer und Tino Kölliker kennen sich seit der 7. Klasse. Nun wollen die 24-Jährigengemeinsam eine Wohngemeinschaft in Bern gründen. Der Spatenstich ist zwar eben erst erfolgt, doch Tino Kölliker weiss bereits, welches Sofa für die Terrasse infrage kommt. Der Flyer, mit dem sie weitere WG-Mitglieder suchen, ist auch schon geschrieben.

Für die jungen Männer ist der Einzug in eine WG ein grosser Schritt. Beide haben eine geistige Behinderung, Jonathan Schweyer lebt mit Autismus, Tino Kölliker mit einem Downsyndrom. Ihre Familien haben die Wohnpläne gemeinsam mit Insieme Kanton Bern in Angriff genommen. Der Verein engagiert sich für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. «Die WG soll im Sommer 2023 starten», bestätigt Käthi Rubin, die das Projekt leitet und die Geschäftsstelle von Insieme Kanton Bern führt.

Inklusive Sechser-WG

Ab sofort suchen die zwei Kollegen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner: junge Erwachsenemit Behinderung oder ohne -also Normal-Behinderte, wie Jonathan Schweyer sie nennt. Ihr Ziel ist eine bunt durchmischte inklusive Sechser-WG, in derman sich gegenseitig hilft, abends zusammen kocht undauch an den Wochenenden etwas gemeinsam unternimmt -nur am Sonntagabend werde er nicht zur Verfügung stehen, hält Tino Kölliker fest. Dieser Abend sei für das Nachtessen bei seinen Eltern reserviert.

Menschen mit Behinderung sollen selber bestimmen können, wo und mit wem sie leben, und nicht zu besonderen Wohnformen verpflichtet werden: So verlangt es die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 in Kraft gesetzt hat. Nach und nach setzen die Kantone diese Forderung um. Der Kanton Bern etwa startete ein Pilotprojekt, das als Berner Modell bekannt wurde: Er finanziertnicht länger Heime und Heimplätze, sondern klärt bei allen Betroffenen ab, wie viel Betreuung sie benötigen und was diese kostet.

«Ich wohne lieber mit anderen zusammen als allein.»
Jonathan Schweyer

Den entsprechenden Betrag können sie dann in einen Heimplatz investieren oder in Assistenzpersonen, die sie in den eigenen vier Wänden unterstützen. Inzwischen ist das Berner Modell in einen Gesetzesentwurf geflossen, der demnächst im Kantonsparlament beraten wird, 2023 soll das Gesetz in Kraft treten. Dann kann auch die WG starten.

Die künftigen WG-Bewohner leben bei ihren Eltern in Kehrsatz und Köniz. Sie haben miterlebt, wie ihre Geschwister von zu Hause ausgezogen sind, bei Jonathan Schweyer war es die Schwester, bei Tino Kölliker der Bruder, «der grösser ist, aber jünger». Seither möchten auch sie ausziehen. Jonathan Schweyer ist überzeugt, dass eine WG das Richtige ist: «Ich wohne lieber mit anderen zusammen als allein.» Sein Kollege könnte sich vieles vorstellen: «Im Moment will ich mit Kollegen wohnen, später dann mit dem Schatz.»

Die jungen Männer benötigen Hilfe im Alltag. Ist das neue Gesetz in Kraft, werden sie nach der individuellen Abklärung eine Kostengutsprache erhalten und diese für Assistenzpersonen nutzen. Theoretisch könnten sie ihre Mitbewohner anstellen. Doch das wollen sie nicht. Die Menschen, die ihnen helfen, sollen von extern kommen. Gemäss Projektleiterin Käthi Rubin hat das auch praktische Gründe: Vielleicht seien die anderen WG-Mitglieder im Studium und stünden während Semesterferien nicht zur Verfügung, oder es sei eine professionelle Assistenz nötig, eine Art Wohncoach. Mit diesem könnten sie etwa Wochenpläne erarbeiten oder Haushaltarbeiten üben.

Das ist auch der Grund, weshalb die zwei schon jetzt nach Mitbewohnern Ausschau halten. «So können wir im nächsten Jahr eine Bedarfsplanung machen undklären, wie sich die WG-Mitglieder einbringen und welche externe Assistenz nötig ist», erklärt die Projektleiterin. Ob sich interessierte junge Frauen oder Männer tatsächlich so früh im Voraus melden, muss sich zeigen. «Wir machen es zum ersten Mal und sind lieber rechtzeitig unterwegs», so Käthi Rubin. Schliesslich benötige auch die Kennenlern- und Auswahlphase Zeit.«Vielleicht sind zu Beginn nicht alle Zimmer besetzt, vielleicht ergeben sich Wartelisten, wir wissen es nicht.»

Auch wenn erst der Aushub geschafft ist: Die WG-Gründer haben die Baupläne schon genau im Kopf. Die Wohnung ist Teil der neuen Überbauung an der Reichenbachstrasse 118. Insieme Kanton Bern wird sie von der stadt Bern mieten und Untermietverträgr abschliessen.

«Später will ich dann mit dem Schatz wohnen.»
Tino Kölliker

Die zwei WG-Gründer seien in alle Prozesse einbezogen worden und bei Sitzungen mit den Architekten dabei gewesen, erzählt Käthi Rubin. Alle sechs Zimmer werden über ein eigenes Bad verfügen, Küche, Wohnzimmer und Balkon teilen sich die Bewohner. Die Miete soll 750 bis 850 Franken ro Person betragen.

Eine Wohngemeinschaft kann sich durch viele Aus- und Einzüge auszeichnen. Erträgt eine inklusive WG ein Kommen und Gehen? «Diese Freiheit sollen alle WG-Mitglieder haben, ob mitoder ohne Behinderung», sagt die Projektleiterin. Aber natürlich sei man an einer gewissen Konstanz interessiert. Die zwei Kollegen treffen sich regelmässig zu einer Videokonferenz mit Nuria van der Kooy von der Wohnschule der Pro Infirmis Zürich und Tobias Studer von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Gemeinsam gehen sie so die jeweils nächsten Schritte an. Die Fachleute begleiten die Wohnpläne und sind während der Projektphase Assistenzpersonen der 24-Jährigen.

Das Projekt startete bereitsvor drei Jahren und ist aussergewöhnlich. Dass Menschen mit einer geistigen Behinderung selber bestimmen, wo und mit wem sie wohnen und wer ihnen assistiert, war bisher kaum vorgesehen – man habe es ihnen garnicht zugetraut, sagt Käthi Rubin. Da wolle Insieme Kanton Bern ein Zeichen setzen. Der Verein hat das Projekt initiiert,möchte sich aber später daraus zurückziehen. Vorher jedoch soll ein Leitfaden für selbstbestimmtes Wohnen erstellt und das Projekt nach dem ersten Jahr evaluiert werden.

Stress mögen sie nicht

Jonathan Schweyer arbeitet inder technischen Montage im Blinden- und Behindertenzentrum in Köniz, sein Kollege in der Gärtnerei von Bernaville in Schwarzenburg, Zur Arbeit fahren beide selbstständig mit dem ÖV. In der WG werden sie gern mitanpacken. Tino Kölliker sagt, er übe jeden Mittwoch mit seiner Mutter haushalten, «im Badputzen bin ich Profi».

Jonathan Schweyer ist vonbeiden der ruhigere, er kennt sich mit Zahlen aus, liest gern undzählt Gamen und Bausätze zuseinen Hobbys. Nach einem Arbeitstag kann er sich vorstellen,in seinem Zimmer die Ruhe zu geniessen. Tino Kölliker ist der extrovertiertere, er tanzt und singt gern, hört mit Vorliebe Hardrock – «vielleicht dann im Keller», lachen die zwei – und mag Velofahren und Fussball.

In einem sind sie sich sehr einig: Stress mögen sie nicht. Und beide haben die gleiche Vorstellung: Wenn sie in der WG leben, möchten sie an Weihnachtenihre Familien einladen. Dann soll Fondue chinoise aufgetischt werden.


Jonathan Schweyer und Tino Kölliker planen in Bern eine Wohngemeinschaft.
Foto: Adrian Moser

 

Alltagshürden aus dem Weg schaffen

(Büwo/Bündner Woche)

Pro Infirmis sucht Lösungsvorschläge

Alltagshürden aus dem Weg schaffen das ist das Ziel der diesjährigen Kristallverleihung zum Thema «Wir lassen uns nicht behindern». Menschen mit einer Behinderung, Angehörige und Bezugspersonen haben bis Ende Juni die Möglichkeit genutzt, auf ihre Alltagshürden aufmerksam zu machen und Hindernisse in ihrem Alltag einzureichen. Bis am 14. September können auf der Internetseite www.alltagshuerden.ch Lösungsvorschläge für diese Alltagshürden eingereicht werden. Die Gewinnerin oder der Gewinner der besten Lösungsvorschläge wird durch Betroffene und eine Jury ermittelt.

Pro Infirmis setzt sich für die Inklusion und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen ein. Zum 15. Mal vergibt Pro Infirmis Graubünden den Pro-Infirmis- Kristall. Beim aktuellen Projekt setzt sich Pro Infirmis -gemeinsam mit Betroffenen – das Ziel, die Öffentlichkeit und Politik auf Hindernisse im täglichen Leben aufmerksam zu machen und Lösungsvorschläge zu präsentieren.

«Wir lassen uns nicht behindern»

Viele Personen kennen und erleben in ihrem Alltag Hindernisse, diesie einschränken oder beeinträchtigen. Mit dem diesjährigen Kristall sollen Betroffene und Bezugspersonen die Möglichkeit erhalten, auf ihre Alltagshürden aufmerksam zu machen. Betroffene, Angehörige und Bezugspersonen haben rund 50 Beiträge auf www.alltagshuerden.ch gestellt und öffentlich gemacht. Die Vielfalt der Beiträge zeigt auf, dass es in allen Lebensbereichen Hürden gibt, die eine autonome, selbstbestimmte und selbstständige Lebensweise erschweren oder gar verunmöglichen. Nun ist die Bevölkerung – im Rahmen einer Ideenbörse und eines Wettbewerbs – aufgerufen, für diese Alltagshürden Lösungsvorschläge einzureichen. Die Vorschläge werden von einer Jury bewertet. Einsitz in der Jury haben Betroffene, Fachpersonen und Personen aus Politik und Wirtschaft.

Die Kampagne «Alltagshürden keine Chance geben» ist ein breit abgestütztes, kantonales Projekt für einen guten Zweck


Behindert: Viele Menschen mit einer Behinderung begegnen in ihrem Alltag Hindernissen, die sie einschränken oder beeinträchtigen. Pressebild

 

PREISVERLEIHUNG

Die Rangierung der Lösungsvorschläge und die öffentliche Preisverleihung finden am 22. November im Titthof in Chur statt.
Die Pro Infirmis erhofft sich durch das Projekt eine grosse Breitenwirkung. Alle sind aufgerufen mitzumachen. Nebst öffentlicher Anerkennung winken der Gewinn des diesjährigen Pro-Infirmis-Kristalls und attraktive Geldpreise.

Winterthur: Behindertenrechtskonvention im Legislaturprogamm

(Nau.ch)

Die Behindertenrechtskonvention der UNO soll im Legislaturprogramm 2022–2026 aufgenommen werden.


Die Stadt Winterthur ZH. – Pix aba y

 

Die Behindertenrechtskonvention soll im neuen Legislaturprogamm aufgenommen werden. Damit antwortet der Stadtrat auf ein im vergangenen Jahr eingereichtes Postulat. Ein Aktionsplan soll die thematischen Prioritäten sowie Ziele und Massnahmen festlegen.

Die Ziele der Behindertenrechtskonvention der UNO (UNO-BRK) sind, den vollen und gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben von Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Dem Stadtrat sind diese Ziele der UNO-BRK ein wichtiges Anliegen.

In Anknüpfung an eine Selbsteinschätzung der Stadt und zur Integration einer Aussensicht wurde eine Studie zur Umsetzung der UNO-BRK in Auftrag gegeben. Die Studie gibt unter anderem einen Überblick über den Handlungsbedarf in der Stadt Winterthur. Dabei wurden auch Vertretende von Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen konsultiert. Handlungsbedarf besteht gemäss der Studie etwa im Bereich Information und Kommunikation. So fehlen in der Stadtverwaltung regulatorische und organisatorische Vorkehren, die gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten, barrierefreien Zugang zur städtischen Information und Kommunikation haben. Als weiteres Beispiel eines Handlungsbedarfs stellt die Studie mit Blick auf private Kultur- und anderweitige Freizeitangebote einen Nachholbedarf fest, dem durch staatliche Förderung auf der Basis entsprechender gesetzlicher Grundlagen und mittels Einführung von Pflichten und Anreizen im Rahmen von Leistungsverträgen begegnet werden könnte.

Zwar verfügt die Stadt schon heute über verschiedene Vorschriften zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Deren Bedürfnissen kann jedoch laut Stadtrat noch besser Rechnung getragen werden. Dementsprechend sieht er vor, dass die Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung als strategisches Thema in die nächste Legislaturplanung aufgenommen werden soll. Der Stadtrat wird im Rahmen der Budgetierung für das kommende Jahr prüfen, inwieweit für diese neuen, zusätzlichen Aufgaben, allem voran zur Erarbeitung des Aktionsplans, bei der Fachstelle Diversity Management ein Personalaufbau erforderlich ist.