Wenn das Lesen schwerfällt

(Zürichsee-Zeitung / Bezirk Meilen)

Ausgegrenzt durch die Sprache

Die leichte Sprache hilft Menschen mit sprachlichen Defiziten, sich im Alltag zurechtzufinden.Profitieren aber können wir alle, sagt Gloria Schmidt vom Büro für Leichte Sprache.

von Fabienne Sennhauser

Schätzungsweise 800’000 Menschen haben hierzulande Mühemit dem Lesen und Schreiben. Das können Personen miteiner kognitiven Beeinträchtigung sein – etwa mit einer Lernschwäche, einer Hirnverletzung oder mit Demenz. Aberauch für Personen mit Migrationshintergrund und einer anderen Muttersprache als Deutsch sind umständlich geschriebene Texte schlecht oder gar nicht verständlich. Für sie ist die Leichte Sprache entwickelt worden. Dabei handelt es sich um ein Sprachkonzept, das die deutsche Schriftsprache stark vereinfacht.

Ein Recht auf Zugang zu Information

Das klingt dann etwa so: «Es gibt eine neue Krankheit. Die Krankheit kommt vom Corona-Virus. Bei der Krankheit haben die Menschen zum Beispiel Husten oder Fieber. Manche Menschen sterben an der Krankheit. Besonders alte und schon kranke Menschen können sterben.»

Entwickelt wurde die LeichteSprache in den 1970er-Jahren in Amerika. Im deutschen Sprachraum breitete sich das Konzept vor gut 30 Jahren aus. Während Ministerien und Parteien in Deutschland ihre Programme bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in die Leichte Sprache übersetzen, nahm das Thema inder Schweiz erst in den letztenJahren Fahrt auf. Der Grundstein lieferte die UNO-Behindertenrechtskonvention, welche hierzulande 2014 in Kraft trat. So definiert Artikel 21 der Konvention etwa das Recht auf Zugang zu Informationen.

Hier setzt Pro Infirmis, nationale Dachorganisation für Menschen mit Beeinträchtigungen, mit ihrem Büro für Leichte Sprache an. An den drei Standorten Zürich, Bellinzona und Freiburg werden Texte wie Verträge, Formulare, Websites oder Broschüren für verschiedene Auftraggeber in eine einfachere Sprache übersetzt.


Gloria Schmidt, Fachverantwortliche des Zürcher Büros für Leichte Sprache. Foto: PD

 

«Verstehen heisst selbstbestimmt leben»

Gloria Schmidt ist seit Ende 2020 Fachverantwortliche des Zürcher Büros. Die gebürtige Österreicherin zeigt sich überzeugt, dass längst nicht nur Menschen mit einer Leseschwäche von der Leichten Sprache profitieren können. «Heutzutage sind viele Informationen in einer schwer lesbaren Verwaltungs- oder Fachsprache verfasst. Man denke nur an Texte wie AGB, Datenschutzbestimmungen und so weiter.» Diese seien praktisch für jeden Menschen schwer zu erfassen.

Wenn alle Menschen den gleichen Zugang zu Informationen hätten, stärke das auch unsere Gesellschaft, sagt Schmidt. «Wer Texte und Zusammenhänge versteht, der kann sich da durch eine eigene Meinung bilden und damit auch ein selbstbestimmtes Leben führen.»

«Die Fachsprache nicht ausrotten»

War das Büro für Leichte Sprache zu Beginn hauptsächlich für soziale Institutionen tätig, habe sich die Nachfrage inzwischen «immens» gesteigert. Und auch das Kundenportfolio präsentiere sich heute sehr viel facettenreicher, sagt Schmidt. Von öffentlichen Ämtern über Veranstalter bis hin zu privaten Unternehmern sei alles dabei.

Nachholbedarf sieht die ausgebildete Übersetzerin vor allem in den Bereichen Politik und Gesundheitswesen. «Abstimmungsunterlagen oder Patienten-Arzt-Gespräche sind heute oftmals viel zu komplex.»Schmidt hält dennoch fest: «Die Leichte Sprache will die Fachsprache nicht ausrotten, sondern ergänzen.»

Jeder Text wird von Textprüfern gegengelesen

Die grösste Herausforderung beim Übersetzen in die Leichte Sprache sei die Auswahl der Informationen und deren Anordnung im Text. «Obschon gefiltert, müssen die Informationen immer noch stimmen und möglichst vollständig sein», erklärt Gloria Schmidt. Und wie stellt das Büro für Leichte Sprache sicher, dass die Texte von den Zielgruppen auch wirklich verstanden werden? «Jeder Text wird von sogenannten Textprüfern gegengelesen»,erklärt Schmidt. Bei den Textprüfern handelt es sich um Klienten von Pro Infirmis Schweiz, die selber über eine Leseschwäche verfügen und gegen ein Entgelt die Texte von Schmidt und ihren Kollegen auf deren Verständlichkeit prüfen.


Die wichtigsten Regeln der Leichten Sprache

  • kurze Wörter und Sätze
  • einfache, gebräuchliche Begriffeverwenden, Synonyme,Metaphern, Fremd- und Fachwörter vermeiden («erlauben»ist besser als «genehmigen»)
  • keine Passivkonstruktionen
  • keine Sonderzeichen
  • zusammengesetzte Wörter durcheinen Bindestrich trennen
  • Layout des Textes strukturieren(kurze Absätze). (fse)

Eine «bunte Filmcrew» schafft bald neue Kurzfilme

(aargauerzeitung.ch)

Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung sollen ab August in Aarau gemeinsam in einer Filmwerkstatt arbeiten.

 

von Cynthia Mira

Die bunte Filmcrew: So heisst ein neuer in Aarau gegründeter Verein, der sich der Filmproduktion für Jugendliche verschrieben hat. Das Besondere: Das Angebot richtet sich sowohl an junge Menschen mit wie auch ohne psychische respektive körperliche Beeinträchtigung.


Sozialpädagogin Marianne Ritter, Initiantin des Projekts Die bunte Filmcrew in Aarau. zvg

 

Über einen Zeitraum von sechs Monaten entstehen maximal zehnminütige Kurzfilme. Die Crew trifft sich hierfür ab August jeden Mittwochnachmittag für zwei Stunden. «Im bestehenden Freizeitangebot in der Region schliesst dieses Angebot eine Lücke», sagt Initiantin und Sozialpädagogin Marianne Ritter. Sie wird die Nachmittage leiten. Sie sagt:

«Jugendliche können Erfahrungen in der Filmproduktion sammeln und das Projekt schliesst Menschen mit Beeinträchtigungen mit ein. So lernen sich auch Jugendliche kennen, die in sonstigen Freizeitangeboten nur wenige bis gar keine Berührungspunkte haben.»

Marianne Ritter begann im Herbst mit Freunden, die Vorbereitungen für das Projekt zu treffen. Dazu gehörten die Gründung des Vereins, die Erstellung der Website und die Einreichung des Projekts für einen finanziellen Beitrag beim Swisslos Fonds Aargau – mit Erfolg. Auch von Pro Infirmis erhält der Verein eine Spende.

Bis Ende Juni können sich nun sechs Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren anmelden (diebuntefilmcrew.ch). Vier Plätze sind noch frei. Der Ort steht noch nicht fest, zwei Räumlichkeiten in Aarau stehen aber zur Verfügung. «Wir müssen zuerst wissen, ob wir einen rollstuhlgängigen Raum benötigen oder nicht», so Ritter.

Die Drehtage finden immer mittwochs von 14 bis 16 Uhr statt. Die Teilnahme kostet 10 Franken pro Nachmittag, wobei Ritter betont: «Falls es sich eine Familie nicht leisten kann, übernimmt der Verein die Kosten.» Das Geld solle kein Hindernis darstellen.
Filmwerkstatt ab August, Vorführung im Februar

Für die 38-Jährige ist die Vereinstätigkeit ein erweitertes Hobby, wie sie sagt: «Ich habe in meiner Arbeit schon zahlreiche Kurzfilme mit Jugendlichen gedreht und es macht enorm Spass.» Sie ist in der Tagessonderschule und Wocheninternat «etuna st. johann» in Klingnau tätig und dort als Autismusfachperson angestellt. Seit vier Jahren wohnt sie in der Region.

Ab August gehört jeder Mittwochnachmittag der jungen Filmcrew. Sie können Ideen, Fähigkeiten und Wünsche einbringen, um das bunte Filmprojekt umzusetzen. Die Kurzfilme werden im Februar 2022 öffentlich präsentiert und – wenn es Corona zulässt – mit einer Feier zelebriert.

Die Behindertenkonferenz hat jetzt eine Mitarbeiterin

(Schaffhauser Nachrichten)


Andi Kunz (von links), Thomas Bräm, Barbara Grauwiler und Cornelia Fischer im Atrium der Stahlgiesserei, wo sich die neue Geschäftsstelle befindet.BILD Jeannette Vogel

 

von Regula Lienin

Menschen mit Behinderung können im Kanton Schaffhausen künftig ihre Anliegen besser einbringen. Seit dem 1. April hat die Behindertenkonferenz eine eigene Geschäftsstelle.

Für die einen mag es eine reine Vollzugsmeldung sein. Für die anderen hingegen, und dazu zählt Andi Kunz, handelt es sich um «einen wichtigen Meilenstein». Mit diesen Worten umschrieb der Leiter des kantonalen Sozialamts gestern an einem Medienanlass die neu geschaffene Geschäftsstelle der Behindertenkonferenz. Deren Leiterin, Cornelia Fischer, war ebenfalls zugegen, genauso Thomas Bräm, Präsident der Behindertenkonferenz Schaffhausen (BKSH), sowie Barbara Grauwiler, Leiterin der kantonalen Fachstelle Behinderung.

Den Aufbau der Geschäftsstelle ermöglicht eine seit dem 1. April gültige Leistungsvereinbarung zwischen dem Kantonundder BKSH. Finanziell beteiligt sich der Kanton mit jährlich 18 000 Franken. Der Regierungsrat kam mit der Vereinbarung den Forderungen einer Petition von 2018 nach. In dieser wurde der Kanton aufgefordert, den «dringenden Handlungsbedarf» bei der Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes anzuerkennen und entsprechende Massnahmen zu ergreifen.Denn bislang war der Handlungsspielraum der als Verein organisierten BKSH begrenzt. Das ändert sich nun mit der professionell betriebenen Geschäftsstelle,die wie die Pro Infirmis ihre Niederlassung in der Stahlgiesserei hat.

Interne Interessenskonflikte

Der Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung habe bei der Schaffhauser Kantonsregierung,im Parlament und in der kantonalen Verwaltung einen grossen Stellenwert,betonte Kunz. Dabei gehe es auch um die Förderung ihrer selbstbestimmten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.Sowohl in der Kantonsverfassung wie auch im Gesetz der öffentlichen Sozialhilfe und sozialen Einrichtungen hat sich der Kanton verpflichtet, alle Formen von Benachteiligungen zu beseitigen. Im konkreten Fall kann es auch einmal zu internen Interessenkonflikten kommen. «Ein Rollstuhlfahrer hat andere Bedürfnisse an den öffentlichen Raum als jemand mit einer Sehbehinderung», sagte Bräm. Unter dem Dach der BKHS sind rund 15 Organisationen vertreten, von der Alzheimervereinigung bis zur Initiative Psychiatrieerfahrene.Die Koordination zwischen den verschiedenen Institutionen und Organisationen nannte der Vereinspräsident als eine der künftigen Aufgaben. Weitere sind die Funktion als Informationsdrehscheibe, Anliegen und Forderungen gegenüber der Öffentlichkeit zu vertreten sowie Vorschläge in politische Diskussionen einzubringen.

Geprägt durch Schicksalsschlag

Barbara Grauwiler nannte die Covid-Kampagne des Bundesamts für Gesundheit als gelungenes Beispiel, mit Piktogrammen schwierige Sachverhalte für alle verständlich zu machen. Eigentlich gehe es um etwas Einfaches: um die Teilhabe an allem, was wichtig sei. Die Umsetzung sei aber alles andere als einfach, so Gauweiler. «Wer sitzt mit wemzusammen, worüberund wie reden wir-und was soll dabei herausschauen?»

Mit solchen Fragen wird sich Cornelia Fischer noch intensiv auseinandersetzen. Die Neunkircherin ist noch dabei,sich einzuarbeiten und die neu gegründete Geschäftsstelle aufzubauen. Ihre Ausbildungen als Kauffrau und Pflegefachfrau Psychiatrie bilden ihre berufliche Grundlage. Ihre Lebenserfahrung die andere. Geprägt habe sie der frühe schwere Hirnschlag ihrer Mutter, aber auch ihre eigene Rolle als Mutter zweier Kinder, von denen eines mit einer Behinderung zur Welt gekommen ist.

Altern mit Behinderung: zwischen Stuhl und Bank

(Schweizer Gemeinde)

Die Lebenserwartung in der Schweiz ist gestiegen, insbesondere die Zahl der Menschen mit Behinderung im AHV-Rentenalter wird sich in den nächsten zehn Jahren mehr als verdoppeln. Eine Herausforderung für die Versorgung.

 

In der Schweiz leben schätzungsweise1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung, ein Drittel von ihnen sind über 65 Jahre alt, so das Bundesamt für Statistik. Betroffene, Angehörige, Institutionen, Fachstellen und -organisationen stellen daher zunehmend Fragen zu Zuständigkeit, Pflege und Hilfsmitteln sowie deren Finanzierung. Entsprechend dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes von 2004 sowie der internationalen Behindertenrechtskonvention,UNO-BRK, die hierzulande seit 2014 in Kraft ist, müssen kantonale und kommunale Alterskonzepte den individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderung berücksichtigen. Dabei geht es nicht darum, Sonderrechte für diese einzufordern, sondern zu ermöglichen, dass Menschen mit Behinderung ihre Grundrechte wahrnehmen können.

Zeit und Energie erforderlich

Zu ihnen gehört auch Michel Schütz.Der 56-Jährige lebt seit seiner Geburt mit Trisomie 21, ist hör-, seh- und mobilitätsbehindert und hat fast keine Sprache. Aufgrund seiner Behinderungaltert er sehr stark vorzeitig. Dementsprechend ist dieses Thema für seine Schwester Marianne Schütz, die seit dem Tod der Eltern die Beistandschaft für ihren Bruder übernommen hat, bereits heute sehr präsent. «Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen sollten sich frühzeitig mit dem Übergang vom IV- ins AHV-Alter auseinandersetzen und sich von Fachstellen oder der Selbsthilfe beraten lassen»,betont die 57-jährige Bernerin. «Es lohnt sich, den Bedarf an notwendigen Hilfsmitteln deutlich vor dem Erreichen des ordentlichen AHV-Alters abzuklären und diese bei der Invalidenversicherung zu beantragen, damit danach möglichst der Besitzstand gewahrt werden kann. Denn wem nicht bereits während des IV-Alters elektrische Hilfsmittel oder Hörgeräte zuerkannt wurden, der erhält hierzu später keinen oder bloss einen reduzierten Beitrag seitens der AHV», erklärt Marianne Schütz.

Nicht mehr behindert, sondern alt

Mit dem Erreichen des AHV-Rentenalters wechselt für Menschen mit Behinderung die Zuständigkeit von der IV zur AHV, obwohl ihre Behinderung natürlich weiterbesteht. Mehr noch, je nach
deren Ausprägung beginnt der Alterungsprozess bei ihnen sogar früher,verläuft rascher und ist mit einem höheren Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen verbunden: Menschen mit einem Down-Syndrom etwa sind signifikant häufiger von demenziellen Erkrankungen betroffen. Hinzu kommt, dass der Verlust von vertrauten Personen und dem damit häufig verbundenen Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderung im Alter eine besondere Belastung bedeutet.Dennoch werden ihnen IV-Leistungen wie Hilflosenentschädigung, Assistenzbeitrag und Hilfsmittel ab dem AHV-Rentenalter nur noch maximal im bisherigen Umfang gewährt. «Abgesehen davon, dass die Anspruchsbedingungen für diese Leistungen sowie deren finanzielle Höhe häufig zu eng bemessen sind», betont Rahel Jakovina,Projektleiterin bei Curaviva.Auch die finanziellen Leistungen für Menschen mit Behinderung (FLB), einvon Pro Infirmis verwalteter Bundesfond, gelten nur bis zum Erreichen des AHV-Alters. Wer danach situationsbedingte Hilfeleistungen benötigt, etwa für einen Spezialschuh, Duschumbau oder Treppenlift, die weder durch private Mittel noch durch die Sozialversicherungen bezahlt werden können, hat die Möglichkeit, sich an Pro Senectute zu wenden, die im Auftrag des Bundes AHV-Gelder aus der Individuellen Finanzhilfe (IF) zur Verfügung stellt. Doch besteht bei der IF kein «Behindertenbonus». Viele Menschen mit Behinderung,die zuvor selbstständig gewohnt haben,sehen sich daher im AHV-Rentenalter aus Kostengründen gezwungen, in eine Institution einzutreten.Dies widerspricht jedoch der selbstbestimmten Lebensführung gemäss UNO-BRK, zu der auch ausreichend finanzielle Mittel sowie die Wahlmöglichkeit bei ambulanten, intermediären und stationären Angeboten gehören.

Diskriminierungsverbot

Zudem unterscheidet sich aktuell der Übergang ins AHV-Alter von Menschen mit Behinderung, die selbstständig wohnen, von denjenigen, die bereits in einer Institution leben. Denn erstere haben bisher kein Anrecht, nach dem Erreichen des AHV-Rentenalters noch in eine Behinderteninstitution aufgenommen zu werden. Ein Verwaltungsgerichtsurteil des Kantons Basel Stadtim April 2020 stellte jedoch fest, dass eine solche Auslegung der kantonalen Gesetzgebung dem Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung widerspricht: Das heisst, wer bereits vor dem AHV-Alter eine IV-Rente bezogen hat,sollte auch danach noch Leistungen der Behindertenhilfe beantragen können.Damit ist dieses Urteil zum Präjudiz für ähnlich gelagerte Fälle in anderen Kantonen geworden. Der Kanton Aargau beispielsweise hat diese Regelung im Rahmen der Revision seines Betreuungsgesetztes bereits angepasst.

Bedarfsgerechte Unterstützung

«Bei behinderten Menschen im AHV-Rentenalter zu sparen, ist zu kurz gedacht. Die Höhe der Entschädigung für behinderungsbedingte Mehraufwände sollte sich auch im Alter an dem sich verändernden, individuellen Unterstützungsbedarf ausrichten. Nur so können gesundheitliche Folgekosten vermieden werden», erklärt John Steggerda,Geschäftsleiter von Pro Infirmis Aargau und Solothurn. Um die Vorgaben der UNO-BRK umzusetzen und das Wachstum im stationären Bereich zu bremsen,gibt es zunehmend auch kantonale Finanzierunghilfen für ambulante Angebote respektive selbständiges Wohnen von Menschen mit Behinderung. Im neuen Betreuungsgesetz des Kantons Aargau etwa, das 2022 in Kraft tritt, sollen Menschen mit Behinderung, bei denen die Gefahr besteht, dass sie aus einem ambulanten Setting in eine Institution wechseln müssten, vom Kantonfinanziell unterstützt werden. Der Kanton Thurgau wiederum etwa ergänzt den Assistenzbeitrag der IV des Bundes(AB-IV) um ein kantonales Assistenzbudget (ABTG), dessen Zielgruppe und Leistungsumfang gegenüber dem AB-IV ausgeweitet wurde. Voraussetzung ist, dass das Leben zu Hause mit Assistenz einem Menschen mit Behinderung besser gerecht wird und nicht teurer als in einer Behinderteneinrichtung mit Leistungsvertrag ist. Zudem bietet das Sozialamt des Kantons TG -in Ergänzung zu den vom Bundesamt für Sozialversicherungen finanzierten Leitungen für «Begleitetes Wohnen» -die Übernahme einer Restfinanzierung an den Aufwänden der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder an jenen von Pro Infirmis Thurgau und Schaffhausen an. «Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass für das Behindertenwesen der Kanton zuständig ist, für den Altersbereich sind es vielfach aber die Gemeinden», so Steggerda.

Angehörige entlasten

Aber auch auf kommunaler Ebene sind kleine Schritte möglich: Die Gemeinde Wohlen (BE) etwa bietet Menschenmit Beeinträchtigungen und Altersbeschwerden, die der untersten Einkommensklasse gemäss dem Tarif des Entlastungsdienstes Schweiz-Kanton Bern angehören, bis zu zehn verbilligte Betreuungsstunden pro Woche beim kantonalen Entlastungsdienst an. «Im Rahmen eines von der Gemeinde genehmigten Leistungsauftrages mit einem Budget von jährlich 40000 Franken sollen so betreuende und pflegende Angehörige entlastet werden», erzählt Stephan Stadler, Präsident des Seniorenvereins Wohlen. Wichtig für die Angehörigen seien auch kurzfristig verfügbare,temporäre betreuteWohnangebote, erklärt Petra Kern, Leiterin Abteilung Sozialversicherungen Inclusion Handicap. «Zudem sollten ambulante und teilambulante Unterstützungsleistungen wie etwa unabhängige Beratungsangebote, Tagesstätten, Treuhand-, Fahr-, Besuchs- und Mahlzeitendienste, die die Gemeinden häufig mitfinanzieren, den Bedürfnissen von Seniorinnen und Senioren mit Behinderung Rechnung tragen.»
Damit Menschen mit Behinderung trotz erhöhtem Unterstützungsbedarf im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können, bieten einige Institutionen wie etwa die Lh (Stiftung Lebenshilfe)im oberen Wynental (AG) ein modular aufgebautes Angebot von begleitetem Wohnen mittels Coaching über betreutes Wohnen in Wohngruppen – inklusive Wohnen im Alter -bis hin zu Wohnen mit Intensivbetreuung an.

Damit Menschen mit Behinderung trotz erhöhtem Unterstützungsbedarf im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können,bieten einige Institutionen wie etwa die Stiftung Lebenshilfe im oberen Wynental (AG)ein modular aufgebautes Angebot an. So können Menschen mit Behinderung auch im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Bilder: zvg.

 

«Auf diese Weise kann den individuellen Ressourcen der Bewohnerinnen und Bewohner und dem Wandel ihres spezifischen Unterstützungs- und Pflegebedarfs im Laufe des Lebens Rechnung getragen werden»,erklärt Samuel Häberli, Leiter Bereich Lebensgestaltung von INSOS Schweiz. «Zugleich ist so das spezifische Fachwissen für die professionelle Begleitung und Unterstützung (Agogik) von Menschen mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung sichergestellt, was in einem Pflegeheim heute in der Regel nicht der Fall ist.» Da sich die kleinen Wohngruppen über die Standortgemeinden verteilen,können sich ihre Bewohnerinnen und Bewohner zudem leichter in die Quartiergemeinschaften integrieren.
Andere individuelle Institutionen – wie etwa der Buechehof in Lostorf (SO) -bieten eine Wohngruppe für ältere Bewohnerinnen und Bewohner mit kognitiven Beeinträchtigungen an, sodass diese in den Betrieb und die Alltagsstruktur eingebunden bleiben.Die VESO Wohngemeinschaft Gutschick in Winterthur (ZH) wiederum hält für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung ab 55 Jahren zusätzlich eine Tagesstätte bereit, um einer möglichen Vereinsamung entgegenzuwirken.Manche Institutionen haben eigene Pflegegruppen mit entsprechendem medizinischem Personal eingerichtet,oder pflegerische Massnahmen werden von einer externen oder eigenen Spitex übernommen. «Diese Institutionen stehen oft vor der Herausforderung, ob und wie sie ihre Pflegeleistungen über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abrechnen können, ohne dass Mehrkosten für die Bewohnerinnen und Bewohner entstehen», erläutert Rahel Jakovina, Projektleiterin Curaviva.

Jüngere in Pflegeheimen

Behinderte Menschen mit sehr hohem Pflegebedarf müssen häufig bereits vor dem Erreichen des AHV-Rentenalters in ein Seniorenheim wechseln. Das Regionale Pflegezentrum Baden etwa hat daher eine Abteilung für jüngere Langzeitpflegebedürftige mit Beeinträchtigungen aufgebaut. Deren Bewohnerinnen und Bewohner erhalten ausser der professionellen Pflege in einer Tagesstruktur auch agogische Angebote. Für die Betreuung wird neben den pflegerischen Kompetenzen zusätzlich auf das Know-how von Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Fachpersonen Betreuung gesetzt. Dieses Pilotprojekt wurde im Rahmen der Revision des Betreuungsgesetzes im Kanton Aargau gestartet. «Eine grosse Herausforderung war es, neben dem Abrechnungssystem für den pflegerischen Bereich die Finanzierung nach dem Betreuungsgesetz für den agogischen Bereich zu erarbeiten», betont Markus Simon, Leiter Betreuung des Pflegezentrums.«Spannend wird es, wie aus zwei unterschiedlichen Disziplinen beispielsweise Haltung, Zielsetzung, Zeitraster und Finanzierung zusammenwachsen.»Eventuell lassen sich Erkenntnisse aus diesem Projekt auf die Langzeitpflege übertragen, sodass auch Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderung im AHV-Rentenalter davon profitieren können. Denn bisher erhalten diese in Pflegeheimen – wie andere Seniorinnenund Senioren auch -nur im Rahmen der normalen Pflegefinanzierung Betreuungsleistungen.

Gemeindenetzwerke

Gemeinden sind nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderung. «Sie sollten ein Netzwerk von relevanten Akteuren aufbauen und Synergien untereinander nutzen», betont Rahel Jakovina. Der Kanton Zürich hatdaher 2020 einen Impulstag zur Umsetzung der UNO-BRK für alle Gemeinden durchgeführt und eine «Spurgruppe» eingesetzt, die sie dabei unterstützt.Zudem hat er seit April 2019 eine Koordinationsstelle für Behindertenrechte eingerichtet, die bei Fragen der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in jedem Lebensalter zwischenAmt, Kanton und Gemeinden vermittelt. Auch auf kommunaler Ebene gibt es bereits Initiativen: Um ortsbezogen die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu verbessern, hat etwa die Gemeinde Uster 2017 eine Sozialraumanalyse durchgeführt. Zu deren abgeleiteten Handlungsfeldern zählt beispielsweise der gleichberechtigte Zugang zu Informationen. Daher baut die Stadtverwaltung derzeit eine optisch und technisch barrierefreie Zusatzwebsite auf, die zudem Texte in einfacher Sprache anbietet. Hiervon profitieren nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Seniorinnen und Senioren sowie Menschen mit Migrationshintergrund. «Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungmuss als Querschnittsaufgabe in allen Lebensbereichen mitgedacht werden.Dazu gehört beispielsweise auch ein Willkommensbrief der Gemeinde für Neuzuzüger in Institutionen und Heimen», kommentiert Marianne Schütz.
Yvonne Kiefer-Glomme

Die VESO Wohngemeinschaft Gutschick in Winterthur (ZH) verhindert, dass ältere Bewohnerinnen und Bewohner vereinsamen. Ein ruhiges Gespräch beim Puzzeln in der Tagesstätte.Bild: Reto Schlatter

 

Forschungsprojekte zum Thema Unterstützung beim Wohnen zu Hause

(Schweizer Personalvorsorge Aktuell)

Zwei vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ausgeschriebene Forschungsprojekte sollen eine Grundlage für die Optimierung der Massnahmen und Instrumente der Invalidenversicherung zur Unterstützung des Wohnens von Menschen mit Behinderungen zu Hause schaffen. Das erste Projekt wird für ausgewählte Länder, die mit der Schweiz vergleichbar sind, einen Überblick über Massnahmen und Leistungen zur Unterstützung des Wohnens von Menschen mit Behinderungen zu Hause geben. Das zweite Mandat wird die in der Schweiz verfügbaren Instrumente zur Ermittlung des Hilfebedarfs für die Unterstützung des Wohnens zu Hause, deren wichtigste Unterschiede, Stärken und Schwächen analysieren und damit Wege zur Optimierung und Harmonisierung dieser Instrumente aufzeigen. Es ist möglich, zwei Offerten einzugeben, eine für jedes Projekt.Die Frist für die Einreichung von Offerten ist der 25. Juni 2021 für das erste Projektund der 15. August 2021 für das zweite.

Es fehlt an personellen und finanziellen Ressourcen für eine inklusivere Kultur

(freiburger-nachrichten.ch)

Jean-Michel Wirtz

Kulturinstitutionen wollen vermehrt Projekte mit Bezug zum Thema Behinderung umsetzen. Doch fehlt es ihnen anpersonellen und finanziellen Ressourcen sowie an Wissen über das Thema.

Die Grossrätin Giovanna Garghentini Python (SP, Freiburg) forderte den Staatsrat via Anfrage auf, einen Bericht überdie im Kanton Freiburg bestehenden inklusiven Kulturangebote zu erstellen. Zudem sollten Massnahmen geprüftwerden, um einen Aktionsplan für die Entwicklung solcher Angebote umzusetzen. Im von der Schweiz ratifizierten UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie im Freiburger Gesetz über Menschen mit Behinderungen werde die Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen und damit gleichberechtigte Teilhabe gefordert, wie die Grossrätin in Erinnerung rief.

In seinem Bericht schreibt der Staatsrat, dass die kulturellen Institutionen des Staats laut Gesetz den Auftraghätten, einem möglichst breiten Publikum kulturelle Dienstleistungen anzubieten. Jedoch verfüge er über kein Verzeichnis von bestehenden inklusiven Kulturangeboten. Der Staatsrat weist auf Verzeichnisse von ProcapSchweiz und vom Verband der Museen Schweiz sowie auf ein Label von Pro Infirmis hin.

Fragebogen verschickt

Aufgrund der Anfrage der Grossrätin habe das Amt für Kultur Anfang Jahr einen Fragebogen an Bibliotheken,kantonale Kulturinstitutionen, Museen sowie die wichtigsten professionellen Kulturveranstalter im Kantongeschickt. Gemäss Staatsrat schlagen die Befragten in ihren Antworten vor, vermehrt gemeinsame Projekte mit spezialisierten Institutionen zu erarbeiten oder Kunstschaffende auf kreative Art und Weise für das Thema Behinderung zu sensibilisieren. Mehrere Institutionen hätten Renovierungen geplant, um den Zugang zuerleichtern.

Haupthindernisse für diese Initiativen seien der Mangel an personellen und finanziellen Ressourcen sowie das fehlende Wissen über das Thema. Zwar erklärten sich die Institutionen bereit, Menschen mit Behinderungen im Rahmen einer Umschulung aufzunehmen, jedoch benötigten sie dabei Unterstützung, und es fehle oft anausreichendem Platz. Sie wünschten sich mehr Unterstützung bei der Durchführung dieser Art von Projekten. DaMuseen oft in historischen Gebäuden untergebracht sind, hätten mehrere Befragte die Schwierigkeit erwähnt,bauliche Verbesserungen vorzunehmen.

Als Massnahme schlägt der Staatsrat unter anderem vor, dass das Amt für Kultur die Kulturinstitutionen für mögliche Verbesserungsmassnahmen sensibilisiert, damit sie zum Beispiel ihre Informationen auf Online-Plattformen zu inklusiven Angeboten regelmässiger aktualisieren oder die Unterstützung von Pro Infirmis in Anspruch nehmen bei der Erlangung des von dieser Organisation verliehenen Labels


Der Staatsrat schreibt in seinem Bericht, dass die kulturellen Institutionen des Staats den Auftrag haben, einemmöglichst breiten Publikum kulturelle Dienstleistungen anzubieten.Charles Ellena/a

 

Der Kanton Wallis macht einen Schritt zu mehr Gleichstellung

(Pro-Infirmis.ch)

Das Wallis hat als erster Kanton in der Westschweiz umfassende Rechtsgrundlagen zur Umsetzung der UNO Behindertenrechtskonvention geschaffen, welche Betroffenen und ihren Organisationen einklagbare Rechte geben.

Pro Infirmis und die Inclusion Handicap begrüssen diesen Schritt und sind zuversichtlich, dass sich weitere Kantone inspirieren lassen werden. Die Umsetzung der UNO-BRK, zu der sich die Schweiz verpflichtet hat, erfordert zahlreiche Massnahmen auch auf kantonaler Ebene. Der Grosse Rat des Kantons Wallis hat einer Änderung des Gesetztes über die Rechte und die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in einer einzigen Lesung einstimmig zugestimmt. Das Gesetz, welches ursprünglich den Fokus auf Leistungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen u.a. im Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsbereich hatte, wurde ergänzt. Es legt die Rechte von Menschen mit Behinderung neu auch unter dem Blickwinkel der Menschenrechte fest.

Es verpflichtet den Kanton, die Gemeinden, die Träger staatlicher Aufgaben sowie private Anbieter öffentlich zugänglicher Leistungen angemessene Vorkehren zu treffen, um Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu verhindern oder zu beseitigen. Über ihre Leistungen müssen sie mit Menschen mit Behinderungen barrierefrei kommunizieren und auf Verlangen die erforderlichen Hilfestellungen leisten, wie etwa Gebärdensprachendolmetscher, Unterlagen in einfacher Sprache oder mündliche Erläuterungen. Wie weit die Verpflichteten gehen müssen, konkretisiert das revidierte Gesetz in einer detaillierten Bestimmung zur Verhältnismässigkeit.

Umfassende Rechtsansprüche und neue Fachstelle

Nach Basel-Stadt ist das Wallis schweizweit der zweite Kanton, der mit dem Ziel der Inklusion Menschen mit Behinderungen auf Gesetzesebene umfassende einklagbare Rechte gibt: Wer von einer Benachteiligung betroffen wird, kann vor Gericht beantragen, dass diese beseitigt wird. Vorgesehen ist auch ein Verbandsbeschwerderecht für Schweizerische Behindertenorganisationen. Um die Durchsetzung der Rechtsansprüche zu erleichtern wird die Benachteiligung vermutet, wenn sie von einer Partei glaubhaft gemacht wird.

Neu wird auch eine Fachstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderung geschaffen, welche die Umsetzung der Rechtsgrundlagen vorantreiben und koordinieren soll. Ihre Aufgaben hat sie in regelmässigem und engem Austausch mit Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen wahrzunehmen.


Auskunft

Caroline Hess-Klein, Abteilungsleiterin Gleichstellung Inclusion Handicap
031 370 08 45
caroline.hessklein@inclusion-handicap.ch

Julie Tarchini, Kommunikationsverantwortliche Inclusion Handicap
031 370 08 41
julie.tarchini@inclusion-handicap.ch

Hostel-Wirt cancelt Sommerlager – weil Gäste geistige Behinderung haben

(20min.ch)

Nachdem er erfuhr, dass künftige Hostelgäste eine geistige Behinderung haben, zog ein Bündner Wirt seine Offerte zurück. Er wehrt sich gegen den Vorwurf der Diskriminierung.

von Daniel Krähenbühl


Darum gehts

  • Eine Stiftung, die sich für lernbehinderte und leicht geistig beeinträchtigte Menschen einsetzt, wollte eine Woche Ferien in einer Herberge reservieren.
  • Die Verantwortlichen der Pension zogen die Offerte allerdings zurück, als sie von der geistigen Beeinträchtigung der Gäste erfuhren.
  • Laut Inclusion Handicap sei die Ablehnung aufgrund diskriminierender Vorurteile erfolgt.
  • Der Wirt verteidigt sich gegen die Vorwürfe – und entschuldigt sich: «Es war niemals unsere Absicht, andere zu diskriminieren.»


Eine Woche Ferien im Bündnerland, inmitten von Dörfern, Bergen und Seen: Um zwölf jungen lernbehinderten und leicht geistig beeinträchtigten Menschen eine kurze Auszeit zu gönnen, wollte die Stiftung «Freier leben» in einem Hostel unweit von Laax einige Zimmer buchen. Zunächst lief alles nach Plan, wie der E-Mail-Verkehr, der 20 Minuten vorliegt, beweist: Die Zimmer wären frei gewesen, die Stiftung wollte eine Anzahlung für die Reservierung leisten. Doch dann vollzog die Herberge eine Kehrtwendung.

«Sorry – ich habe gerade festgestellt, dass es sich bei den ‹Gästen› um geistig behinderte Menschen handelt. Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass wir für die Unterbringung nicht geeignet sind», schreiben die Hostel-Verantwortlichen in einem Mail. Solche Bedingungen müssten im Voraus abgeklärt werden. «Mit Diskriminierung hat dies nichts zu tun.» Jedoch sei man in der Vergangenheit «immer wieder» auf den Kosten sitzen geblieben. «Dies können wir uns zu einer Zeit, in der die Gastronomie gebeutelt wird wie kein anderer Unternehmenszweig, schlichtweg nicht mehr leisten.»

Absage verstosse gegen Gleichstellungsgesetz

Der Wirt habe die Offerte aufgrund stereotyper Vorstellungen über Menschen mit Behinderungen zurückgezogen. «Aus unserer Sicht ist das klar diskriminierend und verstösst gegen das Behindertengleichstellungsgesetz», sagt Nuria Frei, Rechtsanwältin Abteilung Gleichstellung bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen. «Ihm war offensichtlich nicht klar, dass in diesem Fall die betroffenen Menschen mit einer geistigen Behinderung keine speziellen Umbauten bei der Infrastruktur benötigen.» Der Wirt hätte den Sachverhalt näher abklären müssen, statt direkt eine Absage zu erteilen.

Man kenne den konkreten Fall nicht – aber falls das Hostel Menschen mit Behinderungen bewusst ausgeschlossen habe, sei das ein Skandal, sagt auch Susanne Stahel, Leiterin Kommunikation von Pro Infirmis: «Alle Menschen haben das Recht, gleichberechtigt an der Gesellschaft und am Leben teilhaben zu können.»

«Hostel nicht behindertengerecht gebaut»

Der Verantwortliche des Hostels wehrt sich gegen die Vorwürfe. «Niemand wird von uns diskriminiert, egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder körperlicher Konstitution jemand ist.» Im Gegenteil: «Wir betreiben ein internationales Hostel und unsere Gäste kommen aus allen Herren Länder.»

Dass man die Offerte in diesem Fall zurückziehen musste, sei darauf zurückzuführen, dass man eine situationsgerechte Unterbringung nicht sicherstellen konnte: «Unser Hostel ist in keinster Weise behindertengerecht gebaut.» Das Hostel – rund 120-jährig – erstrecke sich über drei Stockwerke, die über enge Treppen miteinander verbunden seien. Weder die Zimmereinrichtungen noch die sanitären Anlagen seien auf Menschen mit Behinderungen ausgerichtet.

Wirt kassierte Drohungen

In der Vergangenheit habe man viel Geld verloren, nachdem zunächst reserviert wurde und dann im letzten Moment – als klar wurde, dass das Hostel nicht den Ansprüchen genügt – wieder storniert wurde. «Wir wollten einfach nur transparent sein», so der Wirt. Nach der Äusserung seiner Bedenken sei mit der Person, die die Buchung vornahm, ein normales Gespräch nicht mehr möglich gewesen. «Die Frau hat uns sehr emotional zu verstehen gegeben, was sie von uns hält.» Mittlerweile habe das Hostel auch auf Facebook und Google einige negative Kommentare kassiert. «Es wurden gar Drohungen gegen uns ausgesprochen.»

Für entstandene Missverständnisse wolle er sich entschuldigen. «Sollten wir bei unseren Bedenken zur Unterbringung falsche Schlüsse gezogen haben, tut uns dies sehr leid – dies war nicht unsere Absicht», so der Betreiber. «Es war niemals unsere Absicht, andere zu diskriminieren – dafür stehe ich mit meinem Wort.»

Man hätte es aber begrüsst, wenn die Frau dem Hostel vor einer Reservierung einen kurzen Besuch abgestattet und auf die besonderen Bedingungen hingewiesen hätte. «So hätte man die Situation vor Ort klären können», sagt der Wirt. «Wären dann von ihrer Seite keine Einwände zu beanstanden gewesen, wäre ein Aufenthalt natürlich kein Problem gewesen.»

Um zwölf lernbehinderten und leicht geistig beeinträchtigten Menschen eine kurze Auszeit zu gönnen, wollte dieStiftung «Freier leben» in einem Hostel in Laax einige Zimmer buchen.Tourismus Laax/Gaudenz Danuse

 

«Wahre Gleichstellung erreichen wir nur mit Selbstvertretung»

(pszeitung.ch)


Islam Alijaj Präsident des Vereins «Tatkraft»

 

In der Schweiz leben 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. In der Politik sind sie weitgehend untervertreten. Wie Islam Alijaj die Selbstvertretung und somit die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen fördern möchte, erklärt er schriftlich im Interview mit Roxane Steiger.

Islam Alijaj, Sie sind Präsident des Vereins «Tatkraft». Mit dem neu lancierten Projekt Behindertenpolitik wollen Sie mehr Möglichkeiten für politisches Engagement von Menschen mit Behinderungen schaffen. Was planen Sie konkret?

Mit dem Projekt Behindertenpolitik wollen wir verschiedene Werkzeuge für das politische Engagement von Menschen mit Behinderungen schaffen, damit sie selbstbestimmt und ohne Hürden für politische Mandate und Ämter kandidieren können. Allgemein wollen wir sie bei der politischen Partizipation und im Wettbewerb innerhalb von Parteien unterstützen. Konkret werden wir Workshops entwickeln und anbieten, wo wir Themen rund um Empowerment, politische Arbeit im Allgemeinen und Parteiarbeit im Besonderen behandeln. Auch setzen wir uns für die Sichtbarkeit von PolitikerInnen und ihre Arbeit ein und bilden dafür ein überparteiliches Komitee, für die gegenseitige Vernetzung und Stärkung. Ein MentorInnen-Programm für die Nachwuchsförderung ist ein weiteres Werkzeug. Insbesondere streben wir längerfristig auch einen Assistenz-Pool von lokalen UnterstützerInnen an, die PolitikerInnen mit Behinderungen die nötige Unterstützung bieten. Die Unterstützungsmöglichkeiten sind sehr vielfältig. Sie reichen von Flyern auf der Strasse bis hin zur Assistenz in Kommissionssitzungen. Die Aufgaben sind so vielfältig wie die Behinderungen der PolitikerInnen. Damit wir diese Werkzeuge entwickeln können, lancieren wir im Mai ein Crowdfunding.

Was wollen Sie mit diesem Projekt erreichen?

Dieses Jahr feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht. Als die ersten Frauen in den Nationalrat gewählt wurden, gab es im Bundeshaus keine Frauentoilette. Heute wissen wir, was für eine Bereicherung Frauen für die Schweizer Politik sind. Es käme niemandem in den Sinn, dass männliche Repräsentanten die Interessen von Frauen in der Politik vertreten können. Bei uns Menschen mit Behinderungen ist das anders: Unsere Organisationen werden von Nichtbehinderten geleitet, die dann mit nichtbehinderten SozialpolitikerInnen über unsere Interessen verhandeln. Wir Betroffenen dürfen idealerweise als ehrenamtliche Mitglieder in Begleitgruppen mitarbeiten. Mit dem Projekt Behindertenpolitik wollen wir die Erkenntnisse, die wir bei den Frauen gewinnen konnten, auf Menschen mit Behinderungen übertragen: Wahre Gleichstellung erreichen wir nur mit Selbstvertretung. Dafür müssen sich Menschen mit Behinderungen selber politisch engagieren können.

Sie wollen Menschen mit Behinderungen dazu motivieren, für politische Ämter zu kandidieren. Streben Sie dabei die nationalen Wahlen oder auch die kommunalen Wahlen wie zum Beispiel im Kanton Zürich nächstes Jahr an?

Genau, mit den verschiedenen Werkzeugen und vor allem dem Aufzeigen von Vorbildern möchten wir Menschen mit Behinderungen dazu motivieren, für politische Ämter zu kandidieren. Es ist wichtig, politisch interessierten Menschen mit Behinderungen die verschiedenen Möglichkeiten und Dimensionen der politischen Arbeit näherzubringen und parallel dazu die nötige Unterstützung bereitzustellen.

Der Aufbau der verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten braucht Zeit, und unser Projekt ist zeitlich eigentlich auf die nationalen Wahlen 2023 ausgelegt. Ich kann aber nicht ausschliessen, dass wir einiges schon bei den kommunalen Wahlen werden versuchen umzusetzen. Dafür sind wir mit verschiedenen möglichen PartnerInnen im Gespräch. Andererseits ist zu bedenken, dass politische Partizipation schon bei der politischen Bildung beginnt. In diesem Bereich erkennen wird aktuell noch eine Lücke. Für Menschen mit Behinderungen braucht es flächendeckend und längerfristig politische Bildung – das wiederum beansprucht viel Zeit.

Auch den kommunalen Parlamenten im Kanton Zürich würden mehr ParlamentarierInnen mit Behinderungen gut tun. Zum Beispiel hat der 125-köpfige Gemeinderat der Stadt Zürich nur ein einziges Mitglied mit Behinderungen. Das ist einfach nur inakzeptabel.

Sie beziehen sich auf Ihrer Webseite auf die UNO-Behindertenrechtskonvention. Welche Rechte sichert diese Menschen mit Behinderungen zu? Und werden diese in der Schweiz erfüllt?

Die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) formuliert die geltenden Menschenrechte in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Die Schweiz hat diese Konvention 2014 ratifiziert und sich somit verpflichtet, diese umzusetzen. Zu Beginn herrschte eine euphorische Aufbruchstimmung, um diese Menschenrechte umzusetzen. Auch ich habe mich mit sehr viel Herzblut in der Arbeitsgruppe von Inclusion Handicap, dem politischen Dachverband der Behindertenorganisationen, für die nationale Behindertenpolitik eingebracht. Es gab schöne Worte und vereinzelt auch den Willen, aber die tatsächliche Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention auf nationaler Ebene lässt noch auf sich warten. Es gibt aber verschiedene Kantone, wie Zug, Basel-Stadt und Zürich, um nur einige zu nennen, die sehr proaktiv versuchen, die Umsetzung der UNO-BRK auf Kantonsebene voranzutreiben. Jedoch zeigt sich dieser Prozess als langwierig und komplex.

Was heisst das?

Für uns ist klar, dass die Umsetzung der UNO-BRK einen grundlegenden Umbau des Behindertenwesens bedingt und die Menschen mit Behinderungen vollumfängliche Entscheidungs- und Ermächtigungskompetenzen haben müssen. Dafür müssen die Organisationen gewillt sein, ihre Machtpositionen aufzugeben, um uns das Szepter zu übergeben. Oder in einem Vergleich formuliert: Solange wir die Gleichstellung von Frau und Mann in einem patriarchalischen System erreichen wollen, wird es keine Gleichstellung geben. Das ist im Behindertenwesen nicht anders. Das heutige vorherrschende ableistische System ist nicht kompatibel mit der UNO-BRK.

Sind wir in der Schweiz eine inklusive Gesellschaft?

Das ist eine gute Frage! Eigentlich hätten wir in der Schweiz alles, was es für eine inklusive Gesellschaft braucht. Wir haben vier offizielle Landessprachen sowie ländliche und städtische Gebiete, die in einem föderalistischen System organisiert sind. Neben der Deutschschweiz und der Romandie haben wir mit dem Tessin und Graubünden vier sehr unterschiedliche Kulturen. Auch Geld haben wir mehr als genug. Und dennoch tun wir uns als Gesellschaft schwer mit vielfältigen Lebensformen und -modellen. Gerade beim Thema Behinderung ist es spannend zu beobachten, wie wir als Gesellschaft dieses Thema mit Geld aus unserem Blickfeld schaffen. Ärmere Länder sind beim Einbezug von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft viel weiter. Wie schon erwähnt, ist unser ganzes Sozialsystem nicht für eine inklusive Gesellschaft ausgelegt. Wir müssten grössere und kleinere Anpassungen machen. Die bisherigen Reformversuche zeigen uns aber, dass wir lieber am Status quo festhalten möchten, als etwas Neues zu wagen. Obschon der Status quo so festgefahren ist, dass er alle Versuche für Veränderung im Keim erstickt. Auch das Behindertenwesen blockiert durch das festgefahrene System alle Innovationsversuche.

Der Kanton Zürich hat vor kurzem ein neues «Selbstbestimmungsgesetz» erarbeitet. Es soll mehr Wahlfreiheit und Selbstbestimmung in der Lebensgestaltung von Menschen mit Behinderungen ermöglichen. Was halten Sie von diesem Gesetz? Ist es ein Schritt in die richtige Richtung?

Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz hat der Kanton Zürich einen ersten konkreten Schritt auf dem langen Weg zur Umsetzung der UNO-BRK gemacht. Das ist sehr zu begrüssen. Bei der Umsetzung des Selbstbestimmungsgesetzes wird entscheidend sein, ob der Kanton Zürich innerhalb der nächsten Jahre auch genügend Leistungsangebote ausserhalb der Institutionen aufbauen kann.

Wie sind Menschen mit Behinderungen in der Schweizer Politik vertreten? Was würde sich für sie verändern, wenn sie in der Politik besser repräsentiert wären?

Mit Christian Lohr haben wir im Moment einen einzigen Nationalrat mit Behinderungen. Somit sind wir sehr stark unterrepräsentiert, denn in der Schweiz leben 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Auf kommunaler und kantonaler Ebene gibt es vereinzelt ParlamentarierInnen mit Behinderungen. Das Feld von aktiven PolitikerInnen mit Behinderungen ist sehr überschaubar. Parteimitglieder und Politikinteressierte mit Behinderungen gibt es dafür einige. Diese möchten wir mit unserem Projekt Behindertenpolitik ansprechen und dazu motivieren, sich aktiv an der politischen Arbeit zu beteiligen. Unsere Vision ist, dass wir mit mehr aktiven selbstbewussten PolitikerInnen mit Behinderungen die nötigen Veränderungen im Behindertenwesen für die Umsetzung der UNO-BRK rascher vorantreiben können.

Was muss sich verändern, um PolitikerInnen mit Behinderungen mehr Möglichkeiten für politisches Engagement zu bieten? Was für Möglichkeiten ziehen Sie in Betracht?

Es braucht politische Bildung für junge Menschen mit Behinderungen. Bei Verwaltungen muss die Sensibilisierung vorangetrieben werden, damit auch die Wahl- und Abstimmungsunterlagen in einfacher Sprache und in Gebärdensprache vorliegen. Zudem braucht es für Menschen mit Sehbehinderungen elektronische Lösungen, um abstimmen zu können. Gerade bei Parteisekretariaten ist es dringend nötig, dass barrierefreie Kommunikation thematisiert wird. Bei der Kampagnenarbeit muss die Bereitschaft grösser werden, auch für Menschen mit Behinderungen Angebote zu schaffen, um mitzuarbeiten. Eine Person mit Sprechbehinderungen kann kaum bei Telefonkampagnen mitwirken, kann dafür aber einen politischen Kommentar für eine Lokalzeitung schreiben. Komplizierte Sachverhalte müssen in eine verständliche und zugängliche Sprache umformuliert werden. Ausserdem braucht es rollstuhlgängige Veranstaltungsräume.

Sie haben 2019 für den Nationalrat kandidiert. Was hat Sie dazu motiviert und wie war diese Erfahrung für Sie?

Die Erfahrungen, die ich in den letzten elf Jahren in der Behindertenpolitik gemacht habe, ergaben für mich nur einen einzigen Schluss: Wenn ich in der Behindertenpolitik nachhaltig etwas verändern möchte, muss ich in den Nationalrat. Nur dort kann ich das Behindertenwesen grundlegend umbauen und für die Inklusion fit machen.

Jedoch habe ich bei den letzten Gemeinderats- und Kantonsratswahlen lernen müssen, was ein Wahlkampf bedeutet und welche Hürden ich mit meiner Körper- und Sprechbehinderung überwinden muss. Mein jahrelanges Engagement für mehr Inklusion wurde von der Partei nicht als wichtig genug gewertet und ich wurde entsprechend auf den letzten Listenplatz gesetzt. Bis ich die verschiedenen Eigenheiten der Nationalratswahlen erkannt habe, bin ich etwas geschwommen. Dazu kam, dass ich unbedingt die Finanzierung für meine Verbalassistentin sichern musste, um annähernd eine Chance im Wettbewerb mit den anderen KandidatInnen zu erhalten. Schliesslich konnte ich die Finanzierung über Umwege durch eine Behindertenorganisation finden, jedoch zeitlich zu knapp. Der Druck und der damit verbundene Stress sowie das Gefühl, von der eigenen Partei alleine gelassen zu sein, waren gelinde gesagt lehrreiche Erfahrungen. Diese Erfahrungen konnte ich dann aber gut in das Projekt Behindertenpolitik einfliessen lassen. Einen solchen Höllenritt soll keine Kandidatin, kein Kandidat mit Behinderungen mehr alleine durchmachen müssen. Unsere Werkzeuge und der Massnahmenkatalog der Studie «Disabled in Politics», der diesen Spätsommer erscheinen wird, sollen von Anfang an die Rahmenbedingungen für realistische Chancen einer politischen Karriere schaffen.

Was fordern Sie von der Politik? Und was wünschen Sie sich von Ihren politischen MitstreiterInnen?

Wie die Gleichstellung von Frau und Mann betrifft auch die Inklusion uns alle. Deshalb wünsche ich mir von den Parteien und politischen MitstreiterInnen mehr Respekt und Ernsthaftigkeit, wenn wir von Unterrepräsentation sprechen. Zur Erinnerung: Wir Menschen mit Behinderungen sind im nationalen Parlament mit einem Anteil von 0,5 Prozent sehr stark unterrepräsentiert. Wir brauchen die Unterstützung unserer politischen MitstreiterInnen, indem sie ihre Energie in die Unterstützung von PolitikerInnen mit Behinderungen investieren. Nur so können reale Chancen zur politischen Partizipation von Menschen mit Behinderungen entstehen.

Zugang für alle -ein Umzug für Barrierefreiheit

(BS intern)

Text: Natalie Berger, Jutta Durs

Seit März finden Sie die Fachstelle Diversität und Integration und die Fachstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderungenan der Schneidergasse 7.

Michael Wilke, Sie leiten diese Fachstellen. Weshalb mussten Sie umziehen?

Die Fachstelle für Behindertenrechte ist neu zur Kantons- und Stadtentwicklung hinzugekommen. Wir brauchten also mehr Platz. Besonders wichtig war uns auch, dass diese Fachstelle für Menschen mit Behinderungen ohne Barrieren zugänglich ist. Das war an unserem vorherigen Standort nicht der Fall.

Wie sind Sie vorgegangen?

Immobilien Basel-Stadt hat geeignete Flächen gesucht. Zusammen mit Pro Infirmis wurde geprüft, ob die SIA-Norm zum hindernisfreien Bauen erfüllt ist. Es wurde alles angeschaut:Wie komme ich in das Gebäude rein? Hat es einen Lift? Wie breit sind die Türen? Es stellte sich auch die Frage, wie die Situation für sinnesbehinderte Menschen ist. Da ging es um visuelle Gestaltungsfragen,das Licht- und Akustikkonzept. Da habe ich viel gelernt.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit in diesem Prozess erlebt?

Ich war überrascht, wie zügig und umfassend diese Untersuchung erfolgte. Bei Barrierefreiheit denken wir ja immer zuerst an die Überwindung von Schwellen oder den Einbau von rollstuhlgerechten Toiletten.Ich war dankbar, dass Pro Infirmis als Partner im Boot war. Man denkt oft nicht an alle Formen von Behinderungen und die entsprechenden Bedürfnisse. Für Menschen mit einer Hörbehinderung kann die Kommunikation und Orientierung erschwertsein. Mit der Sehbehindertenhilfe Basel und dem Sehbehinderten- und Blindenverband haben wir eine Begehung vor Ort gemacht, die für alle Beteiligten sehr lehrreich war. Es ist wichtig, mit Menschen im Gespräch zu sein, die da Erfahrung haben oder selber betroffen sind.

«Als Kanton habenwir eine Vorbildfunktion.»

Behinderung als Querschnittthemabetrifft zahlreiche Stellen im Kanton.Was ist die Aufgabe der Fachstelle?

Wir haben eine koordinierende Rolle und eine Überwachungsfunktion.Dabei setzen wir auf Dialog und gute Kooperationen. Es geht darum, das Verständnis der Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger zu gewinnen. Wir versuchen dafür zu sensibilisieren, dass alle Menschen gleich teilhaben sollen am gesellschaftlichen Leben. Das ist ihr gutes Recht. Als Kanton haben wir hier eine Vorbildfunktion.


Die Räumlichkeiten an der Schneidergasse 7 im Umbau. Als Orientierungshilfe im Flur werden zum Abschluss die Türrahmen und -klinken dunkel markiert

 


Natalie Berger, Koordinatorin für Behindertenrechte:
«Wir alle behindern oder werden behindert. Barrieren abbauen bedeutet für mich, die eigene Perspektive zu erweitern und sich mit Normalitätsvorstellungen auseinanderzusetzen. Es geht darum, Strukturen zu erkennen,die ausschliessen.»

Jutta Durst, Koordinatorin für Behindertenrechte:
«Gesellschaftliche Vielfalt wird von Menschen mit unterschiedlichen Identitäten, Möglichkeiten und Lebensentwürfen gestaltet.Dies bringt Verschiedenheit und auch Verletzlichkeit mit sich.In der Begegnung muss ich bereit sein, meine Komfortzone zu verlassen.»

Seit 1. Januar 2021 ist das kantonale Behindertenrechtegesetz (BRG)in Kraft

Menschenmit Behinderungen sollen ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben führen und ihre Rechte in allen Lebensbereichen verwirklichen können. Das BRG nennt die Bereiche Arbeit, Bildung, Wohnen, Kommunikation, Mobilität, Gesundheit und Freizeit


Das Team der Fachstelle: Tanja Bialek(Sekretariat), Michael Wilke (Leitung), Jutta Durst(Koordinatorin) und Natalie Berger(Koordinatorin)