Schattenseite

(Schaffhauser AZ)


Symbolbild:Annatamila/AdobeStock

 

Nora Leutert

Wie ist sie? Können Sie sie beschreiben? Das fragt man Frau B. Es sei eine Seite von ihr,ihre Schattenseite, sagt Frau B. Sie habe viele Gesichter.

Manche vergleichen sie mit einer schwarzen Wolke, die den Kopf umnebelt. Churchill nannte die Depression seinen schwarzen Hund. Eine Traurigkeit, ein Schatten, der sich hervorkehrt und über alles legt, ein schwarzer Hund, der sich einem auf der Brust breit macht: Das Sprechen über Depression ist immer noch tabuisiert in der Schweiz, aber die Bilder verbreiten längst keinen Schrecken mehr. Gerade seit die Corona-Krise begann, ist das Thema näher denn je. Der schwarze Hund ist ein Haustier geworden.

Auch Frau B. spricht über ihre Depression so vertraut und abgeklärt, als ginge es um ihr Haustier. Um etwas, das wichtig ist, wenn auch nicht das Einzige im Leben.

Die AZ ist über die Schaffhauser Selbsthilfegruppe „Depression“ mit B. in Kontakt gekommen. Die Frau Anfang 60 war gerne bereit,einen Einblick in ihren Alltag zu geben.

Es ist ein sonniger Freitagmorgen. Frau B.sitzt am Küchentisch in ihrer kleinen, geräumigen Wohnung auf dem Land, unweit der Stadt Schaffhausen. Die Vorhänge sind zugezogen,die Waschmaschine brummt vor sich hin. B.erzählt, dass sie am Vorabend eine Freundin zu Besuch gehabt habe, sie erwähnt ihre erwachsenen Kinder, die Enkel, ihre Bekannten. Und eben: dann ist da noch die Depression.

Wie ein Gefängnis

Man kann gut nachvollziehen, was Frau B.über ihre Erkrankung erzählt. Denkt, man könne mitreden. Manches glaubt man sich aus eigener Erfahrung vorstellen zu können jetzt im Lockdown, anderes hat man von Bekannten gehört, die unter der Isolation leiden.

Frau B. sagt: «Den ersten Lockdown konnte ich für mich nutzen. Zuerst fühlte ich mich durch die Kurzarbeit isoliert, habe dann aber gemerkt, dass es geschenkte Zeit war. Ich habe viel meditiert, am Morgen bin ich früh raus zum Spazieren. Ich hatte trotz allem meine Struktur. Jetzt, im zweiten Lockdown, ist es anders. Ich fühle mich nicht mehr wohl zu Hause. Meine Burg ist nicht mehr meine Burg.Die Wohnung fühlt sich eng und ekelhaft an.Eher wie ein Gefängnis.»

Voilà der Lockdown, denkt man, so ist er.Die Einsamkeit schleicht sich ins einst traute Heim oder, wenn man nicht alleine ist, in dasGezänke, den Streit mit dem Partner. Antriebslosigkeit greift um sich, das Rumhängen, das nur noch müder macht und dennoch bewirkt,dass man in der Nacht nicht schlafen kann. Laut der jüngsten Umfrage der Universität Basel im Rahmen der Swiss Corona Stress Study stieg die Häufigkeit schwerer depressiver Symptome während der zweiten Welle im November verglichen mit der Zeit des ersten Lockdowns inder Schweiz stark an: Während im April noch 9 Prozent aller Befragten angaben, unter depressiven Symptomen zu leiden, waren es im November mit 18 Prozent doppelt so viele.

Viele Menschen haben solche Zwischentöne kennengelernt. Und doch ist es für jeden anders.

Weitermachen, funktionieren

Für Frau B. ist es mehr als eine schiefe Tonlage, das zeigt sich, je länger sie spricht. Plötzlich hält sie kurz inne am Küchentisch und horcht gegen das Fenster. Die Sonne schimmert unter den Vorhängen durch, lässt den Frühlingstag zaghaft erahnen, und Frau B. sagt, sie sei eine gute Schauspielerin. «Hören Sie, wie hübsch die Vögel zwitschern?», fragt sie – und fügt an:«Sehen Sie, ich kann mit Begeisterung über Dinge sprechen. Aber in mir drin ist es leer.Ich fühle keine Freude, nichts.»

Andere Menschen können sich vielleicht aus ihren Tiefs herausziehen. Sich auf den Frühling freuen. Auf das, was nach dem Lockdown kommt. Frau B. nicht. Für sie war der Lockdown gewissermassen schon immer da,und er hört nicht auf. «Meine Depression ist ein Teil von mir», sagt sie. Sie begleitet sie, seit sie vor acht Jahren in ihrem Job als Verkäuferin ein Burnout hatte. Und wahrscheinlich schon viel länger, vermutet B., schon immer.«Als Kind schrieb ich Tagebuch, und wenn ich das heute anschaue, muss ich sagen, schon da wollte ich nicht mehr leben.»

Eine Mutter, die sie nie in den Arm nahm.Eine Familie, in der sie sich wie ein fremd angenommenes Kind fühlte. Im Erwachsenenalter Jobs im Fachhandel, deren Belastung sie nur schwer standhielt: Oft hatte B. Rückenschmerzen und Gliedertaubheit, manchmal so stark, dass sie ihre Arme nicht mehr bewegen konnte.Immer war sie müde und angeschlagen, immer hatte sie Sorgen mit dem Geld. Und trotzdem sagte sie sich: Weitermachen, funktionieren,auch wenn es keinen Sinn macht.

B. war als Alleinerziehende für ihre Kinder verantwortlich. Vielleicht habe sie genau so lange durchgehalten, bis der Jüngste alt genug war, um selbst auf sich zu schauen, sagt Frau B. heute. «Ich weiss nicht, wie ich das alles geschafft habe.» 2013 kam sie mit Burnout in die Klinik. Ihre gesundheitliche Diagnose: Depression sowie später festgestellt eine komplexe traumatische Belastungsstörung.

«Ich kann mit Begeisterung über Dinge sprechen. Aber in mir drin ist es leer.»

Seit Jahren fällt es Frau B. schwer, sich wieder ins Arbeitsleben einzugliedern. Alles ist zu viel, an gewissen Tagen schon das Aufstehen,das Duschen. Wenn es ihr einmal hundsmiserabel geht, liegen Suizidgedanken nahe. Die Sehnsucht, dass es ruhig ist, dass einen nichts mehr belastet. Es seien aber lediglich Gedanken, sagt B., und wenn sie diese habe, verheimliche sie sie nicht vor ihrer Psychiaterin.

Im vergangenen Dezember hat Frau B. ihren Job in einem Fachmarkt nach kurzer Zeit wieder aufgeben müssen. Jeden Tag kämpft sie damit, sich aufzuraffen, um Bewerbungen zu schreiben. Sonst hat sie kaum Aufgaben, die Energie verpufft in der kleinsten Bewegung.Der Lockdown macht es noch schlimmeer.

Wütend über die Massnahmen

Der Lockdown fördere depressive Symptome,sagt Bernd Krämer, Leiter der psychiatrischen Dienste der Spitäler Schaffhausen. Die meisten Menschen würden dem in der Regel mit genügend Ressourcen gegenüberstehen, eine hospitalisationsbedürftige mittelschwere bis schwere depressive Störung entwickle sich kaum einfach so aus dem Lockdown. Für verletzliche Menschen aber könnten die aktuellen Restriktionen der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringe und der eine Depression reaktiviere, sagt Bernd Krämer.Auch seien im Moment die psychiatrischen Therapiemöglichkeiten durch die Corona-Schutzmassnahmen eingeschränkt: Es ist zurzeit schwierig,bei Patienten Aktivitäten zu fördern, die sie normalerweise gerne tun und die ihnen Freude machen. Auch Belastungserprobungen, beidenen die Patienten versuchsweise in ihren normalen Alltag zurückkehren, sind durch den Lockdown gerade kaum durchführbar.

Für Frau B. fällt im Moment die Selbsthilfe-Gruppe weg: Einige Mitglieder sind in der Klinik, andere sind momentan ausgestiegen.Aber auch scheinbar kleine Einschränkungen rauben B. die Tagesstruktur, die für sie wichtig ist. Dass sie sich nirgends hinsetzen kann,wenn sie nach einer Therapiestunde in der Stadt noch eine Freundin treffen will. Dass sie von täglichen Gewohnheiten wie dem Besuch im Lädeli einer Bekannten absehen muss. Das alles kann B. nicht einfach wegstecken. Was andere als vorübergehend akzeptieren oder von sich persönlich abstrahieren, zehrt an ihren Kräften. «Mein Stresslevel ist enorm hoch»,sagt sie. «Ich lese auch fast keine News zum Thema Corona mehr.» Es macht sie wütend,dass über die Bevölkerung bestimmt wird,vor allem wenn die Regierung bei den Massnahmen dann noch einen Zickzackkurs fährt.Eine Maske im Gesicht zu haben, ist für sie unerträglich körperlich, aber auch nur schon vom Gedanken her. «Das sind fremde Bilder für uns», sagt sie und schüttelt den Kopf.

Für sie zieht die Krise nicht vorüber. Es fehlt ihr die Aussicht auf das, was danach kommt. Bleibt die Hoffnung, dass sich die Schattenseite, der schwarze Hund, wieder in eine Ecke der Wohnung verzieht, wenn draussen Normalität einkehrt.

Selbsthilfegruppe Depression

Beieiner Depression können Fachleute weiterhelfen. Aber auch der Austausch unter Betroffenen tut gut. In der Selbsthilfegruppe Schaffhausen sind neue Mitglieder sehr willkommen. Die Gruppe trifft sich, wenn drei bis vier Leute mitmachen, alle zwei Wochen am Dienstagabend um 18 Uhr im Sitzungsraum der Beratungsstellen Pro Infirmis, Krebsliga und Lungenliga an der Mühlentalstrasse 84 in Schaffhausen. Für mehr Informationen melden Sie sich beim SelbsthilfeZentrum Region Winterthur, welche die Schaffhauser Gruppe organisiert, unter: 052 21380 60 oder unter info@selbsthilfe-schaffhausen.ch

IV bezahlt neu Assistenzhunde für kranke Kinder

(parlament.ch)

Die Invalidenversicherung (IV) zahlt in Zukunft auch für Kinder und Jugendliche Beiträge für Assistenzhunde. Nach dem Ständerat hat am Mittwoch auch der Nationalrat eine Motion des Luzerner FDP-Ständerats Damian Müller oppositionslos angenommen.

Für Assistenzhunde zahlt die IV einen Pauschalbetrag von 15’500 Franken. Allerdings haben heute nur Erwachsene ein Anrecht auf die Hilfe der Tiere. Das Parlament fordert nun, dass auch für Kinder Beiträge möglich sind.

Der Einsatz von Assistenzhunden erlaubt betroffenen jungen Menschen eine Entwicklung durchzumachen, die letztlich zu einem selbstbestimmten Leben führen kann.

Der Bundesrat muss nun die rechtlichen Grundlagen dafür schaffen.

Mehr Informationen auf der Website des Parlaments

„Auch diese Menschen haben eine Meinung“

(WirEltern)

Genf hat als erster Kanton in der Schweiz Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung das kantonale Stimm- und Wahlrecht erteilt. Felicitas Huggenberger, Direktorin von Pro Infirmis, erklärt, warum dieser Schritt wichtig ist für die Betroffenen, ihre Familien. Und für die Gesellschaft.

Interview Anita Zulauf

wir eitern: Felicitas Huggenberger,was bedeutet der Entscheid der Genfer Bevölkerung für betroffene Menschen?
Felicitas Huggenberger: Die 75 Prozent Ja-Stimmen sind ein Meilenstein und eine klare Botschaft an uns alle. Auch Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung haben eine eigene Meinung und sollen politisch aktiv sein können, wenn sie das wollen.

Ein wichtiger Schritt, längst überfällig?
Ja. Nicht an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen zu können, ist diskriminierend. Denkt man an Menschen mit Beeinträchtigungen, denkt man schnell an Grenzen, an Unvermögen. Die Genfer Bevölkerung traut ihnen jedoch zu, ihre Meinung ausdrücken zu können. Ein wichtiger Schritt in Richtung einer inklusiven Gesellschaft.

Mit dem passiven Wahl-und Stimmrecht dürfen Betroffene in Genf nun auch für ein öffentliches Amt kandidieren.
Das ist in Bezug auf die Partizipation ein sehr wichtiges Signal. Wir unterstützen zusammen mit verschiedenen Organisationen Menschen, die ein politisches Amt übernehmen möchten in Form von Schulungen und finanzieller Unterstützung für den Wahlkampf. Mehr Diversität und auch mehr Menschen mit Behinderungen in politischen Ämtern wäre wünschenswert.

Wie realistisch wäre eine solche Kandidatur?
Da bisher diese Bürger*innen vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen waren, stellten sich die Fragen nicht, welche Voraussetzungen für Kandidaturen notwendig sind. Es wird also Aufgabe der Gesellschaft und der Politik sein, die bisherigen Hürden zu beseitigen und die notwendigen Entwicklungen einzuleiten, um die Kandidaturen zu ermöglichen. Kandidierende und Gewählte in ihren Funktionen müssten etwa auf Assistenzleistungen zählen können.


«Nicht am politischen Leben teilhaben zu können, ist diskriminierend»

 

Zum Beispiel?
Je nach Behinderungsart braucht es spezielle Unterstützung. Für Blinde oder Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen müssten die Unterlagen entsprechend aufbereitet sein.Eine Person im Rollstuhl dagegen müsste barrierefrei ans Rednerpult gelangen können, sie bräuchte andere Assistenzleistungen.

In allen anderen Kantonen sind Menschen mit «geistiger oder psychischer Beeinträchtigung und umfassender Beistandschaft» von diesem politischen Recht ausgeschlossen.
Was heisst das genau?

Das heisst, dass der betroffenen Person die Handlungs- und Urteilsfähigkeit in ihren Rechtsgeschäften fehlt und sie in eigenem Interesse auf Unterstützung eines Beistandes angewiesen ist. Das könnte zum Beispiel einen Menschen mit Trisomie 21 betreffen.Die Schlussfolgerung, deshalb auch politisch nicht partizipieren zu können, ist diskriminierend, da hier nicht dieselben Voraussetzungen eine Rolle spielen.

Was bedeutet die «psychische Beeinträchtigung»?
Das sind Personen, die über lange Zeit erhebliche, psychische Probleme haben und aufgrund dessen in ihrer Urteils- und Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind. Werden hier umfassende Beistandschaften errichtet, wird ihnen das Wahl- und Stimmrecht aberkannt. Sie bekommen keine Unterlagen mehr.

Früher waren es Frauen, sozial Schwache,Zwangsversorgte und Trinker, die vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen wurden. 2021 gibt es in der Schweiz aktuell noch rund 14500 Menschen, denen man keine eigene Meinung zutraut. Man verweigert oder entzieht ihnen das demokratischste Recht überhaupt. Ein Affront?
Ganz klar. Man schliesst sie aus einem wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens aus, was die Integration erheblich erschwert.Die Kopplung der Beistandschaft und der politischen Rechte müssen getrennt werden.

Nun hat Genf einen ersten Schritt gemacht.Aber: Werden die Betroffenen überhaupt verstehen können, worum es bei Wahlen und Abstimmungen geht?
Die Abstimmungsvorlagen sind oft schwerver ständlich. Es braucht Unterlagen in einfacher Sprache. Das ist auch eine der Forderungen der Behindertenorganisationen anden Bund. Und was für Betroffene natürlich auch wichtig ist, sind der Austausch und die Diskussionen mit Menschen ihres Vertrauens, die ihnen beim Ausfüllen der Unterlagen helfen können.

Wer soll diese Hilfe gewähren?
Das ist individuell, die Betroffenen müssen das selbst entscheiden dürfen. Das kann auch in jedem Fall wieder jemand anders sein.

Gegner der Initiative befürchten Beeinflussung und Wahlbetrug.
Natürlich können Diskussionen die Meinungsbildung beeinflussen. Aber das geht uns ja allen so, nicht wahr? Auch gesunde Menschen haben oft nicht detaillierte Kenntnisse über den Inhalt einer Initiative oder können nicht in jedem Fall eine rationale Meinung bilden. Sie gehen trotzdem an die Urne.

Das ist das normale Risiko einer demokratischen Gesellschaft.
Genau.

Wie ist die gesellschaftliche Stellung vonMenschen mit Beeinträchtigungen in derSchweiz?
Auch heute noch erleben sie im Alltag Benachteiligungen und Diskriminierungen.Allerdings darf auch gesagt werden, dass die Sensibilisierung für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen zugenommen hat. Der Genfer Entscheid ist bestes Beispiel dafür.

Welche Bedeutung haben solche Entwicklungen für Familien mit beeinträchtigten Kindern?
Die politischen Rechte für alle sind Teil des Mindsets, Teil des Umdenkens und der Haltung der Gesellschaft. Ich bin überzeugt,dass Offenheit einen wichtigen Einfluss hatauf Familien. Ihre Kinder werden als Teilder sozialen Gemeinschaft mit allen Rechten und Pflichten wahrgenommen. Genfer Kinder können nun am Tisch über Politik mitdiskutieren und wissen, dass sie dereinst werden mitbestimmen können. Ein gutes Gefühl für die ganze Familie, Eltern und Kinder werden klar gestärkt.

Wie reagiert die Gesellschaft heute auf Eltern, die auf pränatale Tests verzichtenoder ein Kind trotz Behinderung bekommen wollen?
Der Druck ist gewachsen. Die Frage «Habt ihr das nicht vorher gewusst?» hören manche Eltern immer noch, wenn sie ein Baby mit Beeinträchtigung bekommen haben. Es gibt aber auch Eltern mit guten Erfahrungen, die ein offenes Umfeld und keine Diskriminierung erleben. Mit welchen Schwierigkeiten sie jeweils zu kämpfen haben, ist von Familie zu Familie sehr individull.

Welche Ängste haben Eltern, die ein Kind mit einer entsprechenden Diagnose erwarten?
Auch hier ist das sehr individuell, darauf müssten die betroffenen Eltern antworten. Ängste können vielschichtig sein und viele Fragen auslösen, gesundheitliche, gesellschaftliche, versicherungsrechtliche, organisatorische. Andere Eltern wieder können es eher pragmatisch nehmen, warten mal ab, bis das Kind da ist, und schauen dann, was auf sie zukommt.


Felidtas Huggenberger (1970)ist Anwältin. Seit 2017 ist sie Direktorin von Pro Infirmis. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen im Kanton Zürich.

 

Wie sieht die Situation in Schweizer Kitas, Kindergärten und Schulen aus? Gibt es Angebote für diese Kinder?
Integrative und inklusive Kindergärten und Schulen sind Sache der Kantone und Gemeinden. Darum sind die Unterschiede in der Schweiz unfassbar gross. In einzelnen Kantonen ist die inklusive Schule Realität und es wird viel dafür gemacht, in anderen sind wir weit davon entfernt. Wichtig ist,dass genügend finanzielle Mittel eingesetzt werden. Es geht nicht, dass ein politischer Entscheid gefällt wird, ohne dass Lehrpersonen und Schulen genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

«Die politischen Rechte für alle sind Teil des Umdenkensund der Haltung der Gesellschaft.»

Gibt es das Recht auf schulische Integration?
Das gibt es. Die Schweiz hat 2014 die UNO-Behindertenrechtskonventionen ratifiziert. Diese verlangt in Art. 29 das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben und in Art. 24 das Recht aufBildung. Menschen mit Beeinträchtigun-gen dürfen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden.

Kritiker monieren, dass gesunde Kinder im integrativen Schulsystem beim Lernen behindert würden.
Im Gegenteil. Es braucht ein differenziertes Bildungssystem, das allen Kindern die Möglichkeit gibt, ihre Stärken zu fördern.Ich bin überzeugt, dass alle profitieren könnten. Die selbstverständliche Teilhabe am Alltag von klein auf ist enorm wichtig.Je kleiner die Kinder sind, umso eher lernen sie einen unverkrampften Umgang miteinander. Die inklusive Gesellschaft wird für sie zum normalen Alltagsbild gehören. Platziert man betroffene Kinder in Sonderschulen, bleiben sie Sonderfälle.

Was aber, wenn die Kinder mit Beeinträchtigungen in der Schule irgendwann nicht mehr mithalten können?
Auf Oberstufen-Niveau kann es schwierig werden. Die Grundschulung aber ist machbar. Doch dazu braucht es entsprechende Ressourcen, Lehrpersonen können nicht zwölf Kindern auf unterschiedlichsten Niveaus gerecht werden. Und da sind wir wieder beim Geld. Es braucht den politischen Willen, aber es braucht auch den Willen der Schulen, der Pädagogen, der Eltern von anderen Schülern. Auch hier hat es viel mit der Haltung der Gesellschaft zu tun. Finden wir es erstrebenswert, wenn die Kinder von der Mitschülerin profitieren, die zwar nicht im Millionenraum rechnen kann, aber die ein grosses Herz hat und sehr sozial und kreativ ist? Oder zählt allein die Leistung? Auch gesunde Kinder können nicht alle studieren. Jedes Kind sollte einen Platz im System bekommen können mit den Fähigkeiten, die es hat.

Könnte der Genfer Entscheid eine Signalwirkung haben auf andere Kantone?
Da bin ich sicher. In den Westschweizer Kantonen ist man progressiver. Im Wallis,in Neuenburg, der Waadt, aber auch im Tessin laufen bereits ähnliche Vorstösse.In der Deutschschweiz gibt es auch entsprechende Signale.

Wie sieht die inklusive, politische Teilhabe in anderen Ländern Europas aus?
Schlecht. Nur gerade in acht Ländern können Betroffene ihre politischen Rechte ausüben.

Wo ist die inklusive Gesellschaft bereitsRealität?
Bei diesem Thema sind wir in Skandinavien, wo die gesellschaftliche Haltung in sozialen Bereichen bekannterweise fortschrittlicher ist. Wohnheime für Behinderte wurden etwa abgeschafft, weil man die Ghettoisierung nicht mehr wollte. Die Menschen leben in Wohngemeinschaften oder Kleingruppen in Wohnblocks, mitten unter Arbeitern, Familien und Studierenden. Mitten in der Gesellschaft und mitten im Leben. An solchen Modellen sollten auch wir arbeiten.

KITAplus-ein Erfolgsmodell erobert die Schweiz

(Forum / Mitgliedermagazin des BVF)

Theresia Marbach , Peter Hruza

Die Inklusion von Kindern mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung in Kitas ist für alle ein Gewinn. Studien belegen, dass die Kinder mit einer Behinderung sowie die Kinder ohne Behinderung gleichermassen profitieren. Zudem werden die Eltern entlastet – und auch volkswirtschaftlich macht es Sinn.

 

Was ist KITAplus?

KITAplus ist ein Programm, welches Rahmenbedingungen schafft, damit auch Kinder mitbesonderen Bedürfnissen die regulären Kindertagesstätten besuchen können. Dabei werden sie bestmöglich in den normalen Kita-Alltag integriert. Eltern und Kitas werden von speziell geschulten Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherziehern begleitet.Diese verfügen über ein fundiertes Fach- und Erfahrungswissen über die erfolgreiche Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Kindertagesstätten. Die verschiedenen Bedürfnisse der Kinder und Eltern werden ebenso berücksichtigt wie die Bedürfnisse der Kindertagesstätten. An den Gesprächen mit den Eltern, den Kita-Mitarbeitenden und den begleitenden Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherziehern werden Fachwissen aufgebaut und unterstützende Massnahmen festgelegt. In der Kita selbst wird weder durch das Kita-Personal noch durch den Heilpädagogischen Früherziehungsdienst eine spezielle Förderung im therapeutischen Sinne angeboten. Das Erleben der Gruppe und des Kita-Alltags sind für betroffene Kinder bereits Förderung und Gefordert-Werden genug. Die Einzelförderung des Kindes findet daher in der Regel weiterhin zu Hause durch die begleitende Heilpädagogische Früherzieherin oder den Früherzieher statt.

Medizinische Indikation

Für die Teilnahme eines Kindes an KITAplus muss eine medizinische Indikation vorliegen.Damit wird ein «besonderes Bedürfnis» ausgewiesen und die professionelle Fachbegleitung durch den Heilpädagogischen Früherziehungsdienst sichergestellt. Die Teilnahme an KITAplus ist für Eltern und Kitas freiwillig. Es besteht weder eine Verpflichtung noch ein Anspruch.

Ein Erfolgsmodell erobert die Schweiz

KITAplus ist eine Initiative der Stiftung Kifa Schweiz und wurde im Jahr 2012 im Rahmen eines Pilotprojekts als gemeinsames Projekt mit kibesuisse Verband Kinderbetreuung Schweiz in der Stadt Luzern gestartet. Inzwischen wurde das Programm auf den ganzen Kanton Luzern ausgeweitet. Aktuell besuchen im Kanton Luzern 30 Kinder mit besonderen Bedürfnissen eine reguläre Kindertagesstätte im Rahmen des Programms KITAplus.

Durch die standortunabhängige Projektanlage verfügt KITAplus Luzern über Modellcharakter und ist auf andere Kantone, Städte und Gemeinden übertragbar. Aktuell laufen in denKantonen Basel-Landschaft, Nidwalden und der Stadt Bern Pilotprojekte. Im Kanton St. Gallen wurde KITAplus vom Amt für Soziales und Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell in Zusammenarbeit mit Fachstellen initiiert.Nach einer 2-jährigen Pilotphase wurde KITAplus im Kanton Uri im Jahr 2020 definitiv eingeführt. «Kita inklusiv», wie das Programm im Kanton Solothurn genannt wird, wird seit 2019 umgesetzt. In Kürze startet KITAplus als Pilotprojekt in Winterthur und Umgebung. Weitere Deutschschweizer Kantone interessieren sich für KITAplus.

Besondere Ehre

Jedes Jahr vergibt die Albert-Köchlin-Stiftung einen Anerkennungspreis. Dieser wird an weitsichtige Menschen und Organisationen verliehen, die sich in den unterschiedlichsten Bereichen zugunsten der Gesellschaft engagieren. Im Jahr 2015 wurde das Projekt KITAplus mit dem Anerkennungspreis der Albert-Köchlin-Stiftung ausgezeichnet.

KITAplus ist ein Gewinn für alle

Die Pädagogische Hochschule Luzern (PHLuzern) untersuchte im Auftrag der Stiftung Kifa Schweiz, welchen Nutzen das Projekt KITAplus für die Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die Kinder ohne Beeinträchtigungen, die Eltern sowie die Kindertagesstätten hat. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass das Angebot KITAplus ein Gewinn für alle Beteiligten ist. Als Grundlage dieses Forschungsergebnisses dienen die Evaluation des Pilotprojekts im Kanton Luzern (2012 bis 2014)sowie die definitive Einführungsphase im Schuljahr 2014/2015.

Alle Kinder profitieren

Die PH Luzern kommt in ihrem Abschlussbericht zum Ergebnis, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen vom sozialen Miteinander in einer gleichaltrigen Gruppe profitieren. Die Kinder ohne Beeinträchtigung lernen, dass nicht alle gleich sind und dennoch Teil der Gesellschaft sind. Die Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen gelingt gut. Die KITAplus-Kinder wurden von den anderen Kindern akzeptiert und die grosse Mehrheit war fähig, soziale Kontakte zu anderen Kindern aufzubauen. Mit dem Angebot KITAplus steigt die Chance, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen den Schritt in die reguläre Schule schaffen, anstatt in einer Sonderschule eingeschult zu werden.


Das Angebot KITAplus ermöglicht Kindernmit besonderen Bedürfnissen den Besucheiner regulären Kita. Davon profitieren die Kinder mit einer Behinderung gleichermassen wie die Kinder ohne Behinderung.(Archivbild)

 


KITAplus grafisch dargestellt

 

Grosse Entlastung für die Eltern

Weiter hält die Studie der PH Luzern fest, dasses für die Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen eine grosse Entlastung im Alltag bedeutet. Das KITAplus-Angebot wurde von ausnahmslos allen KITAplus-Eltern sehr geschätzt. So berichteten die Eltern über die sozialen und emotionalen Fortschritte ihrer Kinder. Über 90 Prozent der Eltern von Kindern ohne Beeinträchtigung betrachten es als selbstverständlich, dass auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu Kindertagesstätten haben sollten. Als weiteren Punkt
hebt die Studie hervor, dass sich die Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit dem Angebot KITAplus verbessert haben.

Kompetenzerweiterung der Kitas ist ein Gewinn

Die Kita-Leiterinnen betrachten gemäss Studie die Sensibilisierung und die Kompetenzerweiterung des Betreuungspersonals durch das Angebot KITAplus als Gewinn. Das aufgebaute Fach- und Handlungswissen vermittelt den Kita-Mitarbeitenden Sicherheit im Alltag, unterstützt den weiteren Aufbau von Fachwissen und wirkt sich positiv auf alle Kita-Kinder aus.Zudem wird die Hemmschwelle gegenüber Kindern mit besonderen Bedürfnissen abgebaut.

Pflegende Angehörige – anerkennen und entlasten

(Physioactive.ch/de)

RICHARD ZÜSLI

Ungefähr 600 000 Personen in der Schweiz betreuenund/oder pflegen Angehörige. Wie Angehörige unterstützt und entlastet werden können, dazu gibt es verschiedene Initiativen. Was bis anhin jedoch fehlt, ist eine nationale Strategie

Betreuung geschieht oft im Stillen und Verborgenen. Doch es sind sehr viele Personen, die in irgendeiner Form für ihre Angehörigen sorgen: Gemäss einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit von 2019 befindet sich in der Schweiz jede 13. Person in dieser Rolle, also nahezu 600 000 Personen . Sogar eine beträchtliche Anzahl Kinder und Jugendliche kümmert sich bereits um ihre Eltern, Grosseltern oder eine andere Person. Am meisten involviert sind Angehörige zwischen 50 und 60 Jahren. Über alle Altersklassen hinweg entfallen am meisten Betreuungsleistungen auf die eigene Mutter und den eigenen Vater, während die über 80-Jährigen am häufigsten für den Partner oder die Partnerin sorgen.

Hilfe im Alltag, Administration, Körperpflege…

Die Betreuenden sind für ihre Angehörigen da, beobachten ihr Wohlergehen, übernehmen finanzielle und administrative Aufgaben oder andere Hilfestellungen im Alltag. Ein grosser Teil von ihnen unterstützt die Angehörigen auch bei der Behandlung oder übernimmt Aufgaben bei der Körperpflege (Definitionen zu pflegenden Angehörigen siehe Kasten). Wie die Umfrage weiter zeigen konnte, setzen betreuende Angehörige viel Zeit für diese Aufgaben ein. Die Mehrheit – zwei Drittel von ihnen – leistet bis zu 10 Stunden pro Woche. Mehr als 20 Stunden oder gar rund um die Uhr pflegt und betreut jede und jeder Zehnte.

Aktionsplan und Förderprogramm des Bundes

Um gezielt Lücken im Bereich pflegende und betreuende An-gehörige zu schliessen, verabschiedete der Bundesrat 2014 einen Aktionsplan. Das Ziel war es, die Bedingungen für betreuende Angehörige zu verbessern.


Die meisten Betreuungsleistungen entfallen auf die eigene Mutter oder den eigenen Vater.

 


Definition Betreuende Angehörig
Wer ist eigentlich ein/e betreuende/r Angehörige/r? Es gibt ver-schiedenen Definitionen. In einigen Ländern ist auch von Carer oder Caregiver die Rede.«Betreuende und pflegende Angehörige sind Personen aller Al-tersgruppen, die einen Menschen, dem sie sich verbunden füh-len und/oder verpflichtet fühlen, über längere Zeit und in we-sentlichem Ausmass in der Bewältigung und/oder Gestaltung des Alltags unterstützen, sofern er dies aus gesundheitlichen Gründen nicht alleine kann.»Hannah Wepf, Heidi Kaspar, Ulrich Otto, Iren Bischofberger, Agnes Leu: Pflegerecht, Ausgabe 3/17 [2]«Ein betreuender Angehöriger oder eine betreuende Angehörige ist eine Person, die ihre persönliche Zeit regelmässig einsetzt zur Unterstützung einer ihr nahestehenden Person jeden Alters, die in ihrer Gesundheit und/oder Autonomie eingeschränkt ist. Damit leistet der/die betreuende Angehörige sogenannte Care-Arbeit.»Andreas Bircher, Schweizerisches Rotes Kreuz «Betreuung ist eine Unterstützungsform. Sie unterstützt Men-schen dabei, trotz Einschränkungen den Alltag selbstständig zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.»In Anlehnung an «Wegweiser für gute Betreuung im Alter», Paul Schiller-Stiftung 2020


Als grössten Mangel konnte das Fehlen von aktuellen Daten identifiziert werden. Eine Fülle an fundierten neuen Erkenntnissen erbrachte das vierjährige Förderprogramm «Entlastungsangebote für be-treuende Angehörige 2017–2020» des Bundesamts für Ge-sundheit BAG. Es konnte im Herbst 2020 erfolgreich abge-schlossen werden.

Die Eltern kranker Kinder – zehn Prozent aller betreuenden Angehörigen – können aufatmen. Für sie gibt es bald eine handfeste Massnahme: den ab Juli 2021 geltenden bezahlten Betreuungsurlaub von 14 Wochen. Schon ab Januar 2021 ist die kurzzeitige Arbeitsabwesenheit für Familienmitglieder geregelt. Seit Längerem können Menschen mit einer Behinderung bei der Invalidenversicherung Assistenzentschädigungen beantragen und so betreuende Personen entlöhnen. Und in gewissen Fällen erhalten Angehörige eine Betreuungsgutschrift von der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Diese Anspruchsberechtigung soll ausgeweitet werden.

Strategie für betreuende Angehörige gefordert

Was im Bereich Demenz und Palliative Care selbstverständlich ist – eine nationale Strategie – fehlt für betreuende Angehörige vollständig. Vor allem in der deutschsprachigen Schweiz gibt es keinen systematischen gemeinsamen Bezug der Akteure. Keine explizite Strategie, aber bemerkenswerte gemeinsame Aktionen und Kooperationen existieren seit einigen Jahren in der Westschweiz und im Tessin.


Rund die Hälfte der betreuenden Angehörigen findet kein passendes Entlastungsangebot.

 

An der letztjährigen «Swiss Public Health Conference» schlug Patrick Hofer, Vorstandsmitglied von «Pro Aidants», in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit und Gesundheitsförderung Schweiz deshalb vor, sich schweizweit gemeinsam auf eine «Strategie zur Unterstützung und Förderung betreuender Angehöriger» zu einigen. Das Rad braucht hierzu nicht neu erfunden zu werden. «Eurocarers», die Dachorganisation der europäischen Betreuenden-Organisationen, hat schon viel und gute Vorarbeit geleistet .

Ins gleiche Horn stiess am Abschlussanlass des oben erwähnten BAG-Förderprogramms Adrian Wüthrich, alt Nationalrat, Präsident und Geschäftsführer von «Travail.Suisse» und ehemaliger Präsident der IGAB, der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung. Er forderte ebenfalls eine nationale Strategie für betreuende Angehörige.

Einen konkreten Vorschlag für eine mögliche Carer-Strate-gie für die Schweiz brachte der Verein «Pro Aidants» 2020 auf seiner Homepage und im Jahresbericht ins Spiel.

10 Schritte für eine carer-freundliche Schweiz

Der Vorschlag von «Pro Aidants» für eine Schweizer Strategie für pflegende Angehörige, in

Anlehnung an Eurocarers, im Wortlaut:

  • Carer definieren und wertschätzen. Warum? Weil am Anfang von Entscheidungen zuungunsten von Carern oft ein fehlendes Verständnis steht, was Carer überhaupt tun.
  • Carer identifizieren. Warum? Weil Carer ihre Arbeit im Stillen leisten und man sie zuerst kennen muss, bevor man sie gezielt ansprechen kann.

Angehörige wünschen sich von den Fachpersonen, dass sie in ihrer Rolle unterstützt und als kompetente Partner wahrgenommen werden

 

  • Den Bedarf und die Bedürfnisse von Carern erheben.Warum? Was Carer brauchen, ist sehr individuell. Nur wenn zusammen mit Carern ermittelt wird, was sie genau benötigen, können sie wirksam unterstützt werden.
  • Unterstützung eines partnerschaftlichen Miteinanders bei der integrierten und gemeindenahen Pflege und Betreuung. Warum? Die Integration der unterschiedlichsten professionellen und informellen Akteure ist eine Voraussetzung für eine angemessene Pflege und Betreuung. Carer spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
  • Erleichtern des Zugangs zu Informationen über An-gehörigenbetreuung und Care-Life-Balance. Warum? Carer wird man in der Regel schleichend oder ohne lange Planung von einem Tag auf den anderen. In beiden Fällen werden grundlegende Informationen benötigt, die fundiert und leicht verfügbar sind.
  • Auf die Gesundheit der Carer achten und negative gesundheitliche Folgen verhindern. Warum? Als Resultat des Einsatzes für andere überlastet sich ein Teil der Carer und wird selber pflegebedürftig.
  • Carern eine Pause gönnen. Warum? Dass vorübergehend jemand anders die Pflege- und Betreuungsaufgaben übernimmt (Entlastungspflege), wird von Carern oft als die wichtigste Form der Unterstützung zur Linderung von Pflegebelastung und Stress wahrgenommen.
  • Carern den Zugang zu Schulungen ermöglichen und Anerkennung ihrer Fähigkeiten. Warum? Gut informierte und gut unterstützte Carer handeln vorbeugend und sind in der Lage, länger und unter besseren Bedingungen zu sich selbst zu schauen und für die von ihnen betreute Person eine qualitativ bessere Pflege zu leisten.
  • Armut der Carer verhindern und ihnen ein aktives Berufsleben/Bildung ermöglichen. Warum? Pflegende, die studieren oder arbeiten wollen und können, sollten dazu befähigt und nicht diskriminiert werden. Sie sollten in der Schule/an der Universität und am Arbeitsplatz unter-stützt werden, um ihren Beschäftigungsstatus zu erhalten
  • Die Perspektive der Carer in alle relevanten Politikbereiche einbeziehen. Warum? Initiativen zugunsten pflegender und betreuender Angehöriger sind verknüpft mit einem breiten Spektrum von gesundheits- und sozialpolitischen Massnahmen.

  • Neue Anlaufstelle für Angehörige und App
    Betreuende Angehörige finden auf der Internet-Plattform wis-sen.weplus.care/de Wissensartikel mit ersten Antworten auf Fragen zur Angehörigenbetreuung. Das Angebot wird sukzessi-ve weiterentwickelt anhand der Fragen, die dem Team über die Anlaufstelle proaidants.ch/de-ch/anlaufstelle zugespielt werden.Mit der «We+Care App» wird die Koordination der Betreuung und Pflege im engen Umfeld erleichtert, das heisst: Ein tragfähi-ges Auffangnetz einrichten, Tagespläne organisieren, Anfragen an die Gruppe schicken oder die Übergabe zwischen verschiede-nen Betreuerinnen und Fachpersonen zu koordinieren. All das kann einfach über die App organisiert werden. Die App ist für Familien kostenlos. Die Betaversion ist erhältlich unter: www.weplus.care/test


    Was sich Angehörige von Fachpersonen wünschen

    Das erwähnte Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» des BAG hält den Organisationen den Spiegel vor und zeigt auch, was betreuende Angehörige wirklich benötigen. Die Studien zeigen, dass rund die Hälfte der betreuenden Angehörigen kein passendes Entlastungs- oder Unterstützungsangebot findet. Das Ergebnis erstaunt angesichts der Angebotsfülle und muss vertieft analysiert werden.

    Betreuende Angehörige wünschen sich von Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, dass sie, sie in ihrer Rolle unterstützen und als kompetente Partner wahrnehmen: Die Expertise der Angehörigen ist eine zu wenig genutzte Ressource. Das widerspiegelt sich auch in den zu wenig partnerschaftlichen Formen der Zusammenarbeit zwischen betreuenden Angehörigen und Fachpersonen. Am häufigsten übernehmen Angehörige die Koordination und den Informationsaustausch zwischen Hausarztmedizin oder Pflege und Expertinnen und Experten wie etwa aus der Physiotherapie. Diese Aufgabe ist wertvoll, weil eine gute Koordination über das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten im Alltag entscheidet. Sie ist aber auch zeitintensiv und betreuende Angehörige müssen dafür oft viel Energie aufwenden. Dies kann als Belastung empfunden werden – insbesondere, wenn das Zeitbudget knapp ist oder Angehö-rige sich von Fachpersonen nicht anerkannt fühlen.

Seltene Krankheiten: Bundesrat veröffentlicht Bericht

(admin.ch)

In der Schweiz leiden mehr als 500 000 Menschen an einer seltenen Krankheit. Der Bundesrat hat einen Bericht erstellt, in dem er aufzeigt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine angemessene Gesundheitsversorgung dieser Menschen sicherzustellen. Der Bundesrat hat den Bericht an seiner Sitzung vom 17. Februar 2021 verabschiedet.

Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie höchstens fünf von 10 000 Menschen betrifft und lebensbedrohlich oder chronisch einschränkend ist. Die Versorgung und Integration von Menschen mit seltenen Krankheiten stellt das Schweizer Gesundheits- und Sozialversicherungssystem vor besondere Herausforderungen.

Der vom Bundesrat verabschiedete Bericht, der auf ein Postulat der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-N) zurückgeht, prüft die erforderlichen gesetzlichen Anpassungen und finanziellen Rahmenbedingungen, um die Versorgung im Bereich der seltenen Krankheiten zu verbessern.

Besonders wichtig sind die Versorgung und eine angemessene Information von Menschen mit seltenen Krankheiten und Gesundheitsfachpersonen. Der Bundesrat erachtet die Schaffung spezialisierter Strukturen für die angemessene Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten als notwendig. Er begrüsst die bisher geleistete Arbeit der Nationalen Koordination seltene Krankheiten (kosek) und der zuständigen Leistungserbringer. Die kosek hat im Jahr 2020 eine erste Liste mit anerkannten, krankheitsübergreifenden Diagnosezentren publiziert. Referenzzentren mit angeschlossenen Netzwerken werden hinzukommen. Am Anerkennungsprozess, der von der kosek koordiniert wird, sind die Leistungserbringer und Kantone beteiligt. Es wird sich herausstellen, ob der auf Freiwilligkeit beruhende Prozess gelingt. Falls nicht, muss geprüft werden, ob es einer gesetzlichen Grundlage auf Bundesebene bedarf.

Informationen für betroffene Menschen: Finanzierung sichern

Menschen mit seltenen Krankheiten und Gesundheitsfachpersonen sind auf medizinische, aber auch rechtliche, administrative, soziale, schulische und berufliche Informationen angewiesen. Der Bericht stellt fest, dass es beispielsweise den Patientenorganisationen an den finanziellen Mitteln fehlt, um die Informationen aufzubereiten und zu verbreiten. Der Bundesrat schlägt vor zu prüfen, ob und wie eine rechtliche Grundlage für die Finanzierung der Beratungs- und Informationstätigkeit von Patientenorganisationen geschaffen werden soll.


Adresse für Rückfragen

Bundesamt für Gesundheit, Kommunikation, +41 58 462 95 05, media@bag.admin.ch


Links
Nationales Konzept Seltene Krankheiten
Zahlreiche Seltene Krankheiten und viele betroffene Menschen

MaRaVal – maladies rares valaisseltene krankheiten wallis


Kurzen Sätzen und einfachen Wörtern sei Dank

(St. Galler Nachrichten)

St.Gallerinnen leisten Pionierarbeit für barrierefreie Informationen: Internet-Plattform in Leichter Sprache.


Die beiden Pionierinnen der Leichten Sprache und Betreiberinnen der Plattform«Infoeasy»: Andrea Sterchi (links) und Anne-Marie Weder (rechts). z.Vg.

 

Die Verwaltung des Kantons St.Gallen hat bei der Einführung der Leichten Sprache Pionierarbeit geleistet und als erste Schweizer Behörde einen Text in Leichte Sprache übersetzen lassen. Jetzt wurde sogar eine Internet-Plattform in Leichter Sprache gestaltet.

Verständlichkeit Die Leichte Sprache richtet sich an Menschen, die nicht gut lesen können, die nicht gut Deutsch können oder an Menschen mitLernschwierigkeiten. Rund 800’000 Menschen in der Schweiz gehören der einen oder anderen Gruppe an. Informationen in Leichter Sprache werden in einer grossen Schrift mit einfachen Wörtern und kurzen Sätzen präsentiert. Doch sind oft zusätzliche Erklärungen nötig, um eine Aussage verständlich zu machen. Begonnen hat der Kanton St. Gallen mit dem Angebot der Leichten Sprache 2015, als er den «Wirkungsbericht Behindertenpolitik» von Andrea Sterchi, die in Andwil ein Büro für Übersetzungen in die Leichte Sprache betreibt, übersetzen liess. Die Schrift «Hilfe zur Selbsthilfe» legt der Kanton beispielsweise in Einfacher Sprache auf:«Der Kanton St.Gallen will Menschen mit Behinderung unterstützen. Damit sie so viel wie möglich selbstständig tun, mehr selber bestimmen und ihre Interessen und Rechte selber vertreten können.»

Einfache Sprache wird wichtiger

Wie Thomas Weber, Fachspezialist für Soziales im Departement des Innern, im «Pfalzbrief» darlegt, verändern Kurznachrichten in den sozialen Medien die Sprachkompetenz vor allem der jungen Generation.Daher sei zu befürchten, dass immer mehr Menschen zunehmend Schwierigkeiten bekommen, komplexe Texte zu verstehen. Der Kanton St. Gallen hat eben eine neue digitale Plattform mit dem Porträt des Kantons in Leichter Sprache veröffentlicht. Zur Bevölkerung heisst es hier: «Fast eine halbe Million Menschen leben im Kanton St.Gallen.Damit ist der Kanton St.Gallen der fünftgrösste Kanton in der Schweiz.Nur in vier anderen Kantonen leben noch mehr Menschen. Heute gibt es im Kanton 77 Gemeinden. Zu den Gemeinden gehören alle Städte und Dörfer.» Auch die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St.Gallen(SVA) hat ihr Merkblatt über Ergänzungsleistungen in leichter Sprache veröffentlicht. Das Naturmuseumhat einen Internet-Auftritt in Leichter Sprache gestaltet. Hier steht beispielsweise: «Im Naturmuseum sehen Sie Sachen aus der Natur. Sie sehen zum Beispiel ausgestopfte Tiere.Ausgestopft bedeutet: Die Tiere haben ein echtes Fell. Aber die Tiere sind innen aus Plastik.» Für weitere Informationen in Leichter Sprache haben auch die Pro Infirmis St.Gallen, das Naturmuseum und das Museum im Lagerhaus gesorgt.

Entwicklung von «Infoeasy»

Die Redaktion von «Infoeasy», die seit einigen Monaten von «PassePartout – Agentur für barrierefreie Kommunikation» von den Journalistinnen und Übersetzerinnen Andrea Sterchi, Andwil, und Anne-Marie Weder, St.Gallen, geführt wird,überträgt Beiträge aus verschiedenen Quellen. Ein Link am Ende jedes Beitrags verweist jeweils auf den Originalbeitrag in der Standardsprache. Wichtige Ausdrücke werden typografisch hervorgehoben, wie es in Texten der Einfachen Sprache allgemein üblich ist. Aktuell werde emsig an der Weiterentwicklung von «infoeasy» gearbeitet, erklärt Andrea Sterchi: «Wir wollen mehr und neue Formate bieten. Mit einer Geschichten-Rubrik sind wir bereits gestartet. Es sollen bald weitere, auch multimediale Formate hinzukommen. Überdies soll Raum für Dialog geschaffen werden.» Erfreulich sei, dass sich immer mehr Freiwillige für die Übersetzungsdienste zur Verfügung stellten: «Sie leisten einen sehr wertvollen Beitrag», betont Sterchi. Eine grosse Aufgabe ist die längerfristige Sicherstellung der Finanzierung, trotzdem will «infoeasy» gratis und werbefrei bleiben. Dazu werden bei Stiftungen, Institutionen und Behörden Fördergelder beantragt. Geplant sind ein Crowdfunding und ein Gönner-Abo. «Wir wollen auch einen Medienservice für Behörden,Verwaltungen und Verbände anbieten und einen weiteren Service für Schulen einrichten. Lehrkräfte sollen auch ,individuelle‘ Texte zu bestimmten Themen bestellen können.» Ein weiteres Anliegen ist ihr die vermehrte Nutzung von «infoeasy»: «Es ist eine grosse Herausforderung, die Zielgruppen tatsächlich zu erreichen. Wir sind noch jung, unser Angebot muss noch bekannter werden. Nicht alle haben einen Internetzugang.» Gross sei das Interesse der Fachwelt: «Wir haben sehr viel positives Feedback erhalten, auch von Behindertenverbänden und Schulen», so Sterchi.we

Pflegende Angehörige

(Inclusion Handicap)

Seit dem 1. Januar 2021 gelten die neuen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die «Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege». Am 1. Januar 2021 sind folgende Massnahmen in Kraft getreten:

Entschädigung für kurzzeitige Arbeitsabwesenheiten zur Betreuung kranker oder verunfallter Familienmitglieder oder Lebenspartner*innen

Bisher waren Arbeitgeber verpflichtet, bezahlte Absenzen zu gewähren, wenn ein Angestellter sein oder eine Angestellte ihr krankes oder verunfalltes Kind betreuen musste. Diesen Kurzurlaub müssen sie künftig neu auch gewähren, wenn ein anderes Familienmitglied oder der Lebenspartner bzw. die Lebenspartnerin erkrankt oder verunfallt und gepflegt werden muss. Dies während drei Tagen pro Ereignis und für maximal zehn Tage pro Jahr.

Anpassungen des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung (HE) und Intensivpflegezuschlag (IPZ) für Kinder

Die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag der IV werden neu auch dann ausbezahlt, wenn das Kind im Spital ist. Dauert der Spitalaufenthalt länger als einen Monat und ist die Anwesenheit der Eltern im Spital nachgewiesenermassen weiterhin notwendig, werden die Leistungen auch darüber hinaus ausgerichtet.

Erweiterung des Anspruchs auf Betreuungsgutschriften der AHV

Der Anspruch auf Betreuungsgutschriften in der AHV wird ausgeweitet, damit mehr pflegebedürftige Personen selbstständig bei sich zuhause leben können. Mit dem neuen Gesetz erhalten betreuende Angehörige diese Gutschrift auch, wenn die pflegebedürftige Person eine Hilflosenentschädigung leichten Grades bezieht. Zudem wird neu auch die Betreuung eines Lebenspartners oder einer Lebenspartnerin berücksichtigt.

Per 1. Juli 2021 wird in einem zweiten Schritt der bezahlte 14-wöchige Urlaub für die Betreuung von schwer erkrankten oder verunfallten Kindern in Kraft gesetzt. Die Betreuungsentschädigung wird über die Erwerbsersatzordnung geregelt und muss innert 18 Monaten bezogen werden. Während dem Betreuungsurlaub wird eine Erwerbsausfallentschädigung in der Höhe von 80% des durchschnittlichen Erwerbseinkommens bzw. maximal 196 Franken pro Tag ausgerichtet.

Diese Verbesserungen sind erfreulich, jedoch für Betroffene nicht befriedigend und nur begrenzt entlastend. Inclusion Handicap fordert, dass der Betreuungsurlaub auch für Personen gilt, die z.B. ihren Ehepartner oder ihre Eltern betreuen. Des Weiteren sind die drei Tage Kurzurlaub bei akuten Erkrankungen oder einem Unfall nicht genügend: Um Vorkehrungen für eine längerdauernde Betreuung und Pflege zu treffen, reichen drei Tage oft nicht aus.

Der Winter sperrt sie ein

(Schweiz am Wochenende / St. Galler Tagblatt)

Die einen feiern den Schnee, anderen erschwert er den Alltag: Die weisse Pracht isoliert Ältere oder Blinde zusätzlich.

Diana Hagmann-Bula

Es hat geschneit, viel geschneit.Und nun ist der getaktete Alltaggerade etwas durcheinander.Man kann das als Chaos sehen.Oder als Chance. Endlich mal mit dem Schlitten zur Arbeit fahren! Eine Viertelstunde zu spät am Termin? Nicht so schlimm,geht gerade fast allen so. So gesehen gibt es wenig Gründe, sich über die mächtige weisse Pracht aufzuregen. Und dennoch gibt es Menschen, die es gerade richtig schwer haben.

Für ältere Personen, die nicht mehr gut zu Fuss sind, für Menschen im Rollstuhl undMenschen mit Sehbehinderung ist jeder Ausflug vor die Haustüre und in den tiefen Winter eine Herausforderung. Manchmal sogar eine Mutprobe. Virgil Desax aus Abtwil liebt Schnee und dennoch geht er nur raus, wenn nötig. «Mir fehlt die Orientierung. Randsteine, Mauern, Bänke, all diese Anhaltspunkte sind unter dem Schnee begraben»,sagt der 33-jährige Blinde.

Sein Blindenstock bleibt im Schnee stecken, Unebenheiten spürt er damit kaum noch, auch um die Blindenampel an Kreuzungen türmt sich oft Schnee.Auf dem Weg an seinen Arbeitsplatz in der Stadt hat er gestern deshalb dreimal Hilfe angenommen. Er, der sonst am liebsten selbstständig unterwegs ist. Ein Winterspaziergang nur so zum Spass? «Definitiv nicht», sagt Desax. Wohl ist ihm erst wieder,wenn die Trottoirs frei sind.

Der Schnee schwächt Kontraste ab

Schnee blendet, auch Menschen mit Sehbehinderung. Sie schützen sich mit Brille und Schiebermütze dagegen, dennoch bleiben die Kontraste, an denen sie sich sonst orientieren können,schwach. «Wenn alles nur noch hell und weiss ist, fällt dieses Hilfsmittel weg», sagt Nina Hug vom Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen(SZBlind) mit Sitz in St. Gallen. Blinde Menschen benutzen meist dieselben Wege. Sie haben sie mit einem Fachmann trainiert, finden so alleine durch den Alltag. «Sind diese Wege mit Schnee versperrt, fühlen sich blinde Menschen hilflos»,sagt Hug. Hilfe holen, in Zeiten von Corona – nicht so einfach wie sonst. «Natürlich wird der Mindestabstand nicht eingehalten, wenn man jemanden am Arm führt. Mit Maske darf man sehbehinderten Menschen aber helfen», sagt Hug. Der SZBlind gibt Menschen mit Sehbehinderung für schneereiche Tage Tipps, die auch an ältere Personen gerichtet sind: gute Schuhe anziehen, sie mit Spezialsohlen ausrüsten, nur raus, wenn nötig.Von der Stadt wünscht sich der SZBlind, dass sie Trottoirs so rasch wie möglich freiräumen lässt, auch die Leitlinien. Blinde Menschen folgen ihnen mit dem Stock. Immerhin ein Gutes habe der Schnee auch für Menschen mit Sehbehinderung, sagt Hug:«Man kann ihn nicht nur sehen,sondern auch spüren.» Wie weich er in den Händen liegt,wie sanft die Flocken das Gesicht streifen.

Zugeschaufelte Rollstuhlparkplätze

«Man muss improvisieren»,antwortet Roland Dürr auf die Frage, wie er durch die Schneestadt St. Gallen kommt. Er sitzt nach einem Badeunfall seit 33 Jahren im Rollstuhl, seit Anfang Jahr leitet er die Geschäftsstelle Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell. Mit dem öffentlichen Verkehr sei es momentan schwierig.Menschen im Rollstuhl würden es nicht einmal zur Bushaltestelle schaffen, auf dem Schnee sofort spulen. «Spikes gibt es für uns leider noch nicht.»

Dürr nimmt das Auto, um von Amriswil nach St. Gallen zu gelangen. Unangenehm nur,wenn der Rollstuhlparkplatz mit Schnee zugeschaufelt ist. Erhabe sich gewagt, das Auto vor dem Ladenfenster einer Apotheke abzustellen. «Verständlicherweise lag ein Reklamationszettel unter dem Scheibenwischer, als ich zurückgekehrt bin.Immerhin war der Inhaber besänftigt, als er gesehen hat, dass
ich auf den Rollstuhl angewiesen bin.» Wintertage wie diese verlangen viel von ihm ab. «Ich muss noch mehr Zeit einberechnen, noch besser planen.»

Der Winterdienst sei arg gefordert. Er habe Verständnis dafür, dass bei diesen Mengen auch mal Schnee liegen bleibe.«Aber nur ein paar Tage lang.Dann dürfen Rollstuhlparkplätze nicht mehr als Schneelager dienen. Und auch die Zugänge zu ihnen müssen frei sein.» Warum parkiert er nicht in einer Tiefgarage? Zu lange Wege, sagt Dürr. Er freue sich über den Schnee, verliere die Lust daran aber auch rasch wieder. «Weil er mein Leben zusätzlich verkompliziert.»

Die Natur ist für Ältere nicht mehr zugänglich

In den vergangenen Tagen waren Beweglichkeit, Geschick,fast schon Akrobatik gefragt. An manchen Orten gelangte man nur mit einem Spagatsprung über eine Schneemauer auf den Fussgängerstreifen, andernorts schaffte man es nur so aus dem Bus. Nichts für ältere Personen,die nicht mehr so trittsicher sind. «Wir raten unseren Klienten, daheim zu bleiben, jetzt erst recht», sagt Michael Zellweger,Leiter der Spitex St. Gallen. Seit Monaten seien sie isoliert wegen Covid-19. Auf einem kurzen Spaziergang frische Luft schnappen, immerhin das konnten sie noch tun ohne Risiko. «Die Natur, das einzige, was sie noch hatten, haben sie nun auch nicht mehr», sagt Zellweger.

Deshalb setzen er und sein Team alles daran, es trotzdem zu den Pensionären zu schaffen.Egal, wie viele vereiste Strassen und Schneehaufen zwischen ihnen liegen. Nette Worte sind nun fast Medizin. Der Winter, er verzaubert die einen. Die anderen sperrt er ein.


Die Spitex rät ihren Klientinnen und Klienten von Spaziergängen ab. Bild: Arthur Gamsa

 

Selbstvertretung ich führe Regie in meinem Leben

(Werdenberger & Obertoggenburger)

Ein Paar, beide mit Lernbehinderung, erzählte diese Anekdote: «Wir wollten heiraten. Die Beiständin war damit nicht einverstanden und die Pfarrerin verweigerte die kirchliche Trauung. Sie stellten zur Bedingung,dass wir zuerst ein halbes Jahr einen Ehevorbereitungskurs besuchen müssen und erst dann würden sie entscheiden. Also buchten wir eine Reise nach Las Vegas und heirateten dort in einer Kapelle.»

Viele Menschen mit einer Behinderung machen diese Erfahrungen: Es werden Regeln aufgestellt, welche für nicht behinderte Menschen nicht gelten.Sie müssen für Alltägliches um Erlaubnis fragen: Darf ich ein Bier trinken? Darf ich einen Fernseher im Zimmer haben?
Darf ich alleine in einer Wohnung leben? Mit wem zusammen darf ich eine WG gründen? Darf ich die Regelschule besuchen? Darf mein Freund mit mir duschen?

Übertrieben? Nein, das ist Realität. Wir sind uns oft nicht bewusst, wie sehr nicht behinderte Menschen in die Privat-sphäre von Betroffenen eingreifen und ihnen die Wahlfreiheit nehmen. Dabei ist dies nicht mehr rechtens. Wir haben mit dem Behindertengleichstel-lungsgesetz und der UNO -Behindertenrechtskonvention Grundlagen geschaffen, damit auch Menschen mit einer Behinderung ihr Leben so gestalten können, wie es aus ihrer Sicht richtig ist.

Viele Betroffene haben begonnen, sich selbst aktiv für ihre Rechte einzusetzen. Das ist auch gut so. Wer denn sonst, wenn nicht sie? Sie wollen sich nicht mehr als Bittsteller verstanden wissen, sondern als Mitbürger mit gleichen Rechten und Pflichten. Sie beginnen sich selbst zu vertreten. Das gibt auch Konflikte. Ihre Erwartungen entsprechen in vielen Punkten nicht mehr der Welt, die nicht behinderte Menschen für sie ausgedacht haben.

In der Ostschweiz gibt es seit März 2016 die «Augenhöhe! Fachstelle zur Förderung von Selbstvertretung» mit Sitz in St. Gallen. Sie unterstützt Betroffene, Angehörige, Politiker, Arbeitgeber, Heime und Fachleute dabei, die Selbstvertretung zu fördern, und bietet Schulungen an.

Gemäss Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz 1213 000 Menschen mit einer Behinderung. 4 Prozent davon haben eine angeborene Behinderung, alle anderen werden erst im Laufe des Lebens erworben. Es kann also gut sein, dass auch wir selbst einmal zu dieser grössten Minderheit in der Schweiz gehören. Gut wenn wir diese Selbstvertretung bereits jetzt positiv unterstützen, damit wir vielleicht später einmal Wahlmöglichkeiten statt Fremdbestimmung erleben dürfen.

Stefan Kühnis Kant.
Geschäftsleiter der Pro Infirmis Glarus