Genf setzt einstarkes Zeichen

(Neue Zürcher Zeitung)

Behinderte Menschen dürfen aufkantonaler Ebene künftig wählen

mri. Im Kanton Genf dürfen Menschen mit einer intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigung künftig wäh-len. Die Stimmbevölkerung hiess eine entsprechende Verfassungsänderung am Sonntag mit einer grossen Mehrheit von 74,8 Prozent gut.

Mehr als 1200 Personen erlangen damit ihre politischen Rechte auf kantonaler und kommunaler Ebene, das sind 0,5 Prozent der Wählerschaft. Als erster Kanton setzt Genf damit eine Bestimmung der Behindertenrechtskonvention der Uno um.

Nach Meinung der Kantonsregierung hat dies eine symbolische Bedeutung für Genfals europäischen Uno-Sitz. Behindertenorganisationen hoffen, dass andere Kantone und der Bund nach dem deutlichen Ja aus Genf rasch nachziehen.

Ähnliche Vorstösse planen bereits die KantoneWaadt, Wallis und Neuenburg.

Die Vorlage wurde nur von SVP und Jungfreisinnigen abgelehnt. Sie befürchteten Wahlfälschungen, indem Angehörige anstelle von Menschen mit geistiger Behinderung abstimmen könnten.

Damit das Kind etwas vom Erbe hat

(Tages-Anzeiger)

Begünstigung für Behinderte
Wer Sozialleistungen bezieht, darf kaum eigenes Vermögen besitzen. Das verlangt von Eltern behinderter Kinder eine sorgfältige Planung des Nachlasses, damit das Kind sein Erbe nicht nur für den Lebensunterhalt einsetzen muss.


Kinder mit Behinderung, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, können nur beschränkt von der Erbschaft der Eltern profitieren. Foto: Plainpicture

 

Andrea Fischer

Vor dem Erbrecht sind alle Nachkommen gleich. Geschwister haben je den gleichen Anspruch aufden Nachlass ihrer Eltern. Die Eltern können einen Sprössling gegenüber andern begünstigen,solange der gesetzliche Pflichtteil aller eingehalten ist. Ist eines der Kinder behindert, stellt das die Eltern vor ’spezielle Herausforderungen. Was ist vorzukehren, damit das Kind bestmöglich von seinem Erbanteil profitiert? Eine pauschale Antwort gibt es nicht. Vielmehr hängt sie von den.konkreten Umständen ab, vonder Behinderung, der Familienkonstellation sowie vom vorhandenen Vermögen. Nachfolgenddie zentralen Aspekte, die bei der Nachlassplanung für Nachkommen mit Behinderung zu beachten sind.

Ist Begünstigung sinnvoll?

Eltern hätten oft den Wunsch, ein behindertes Kind gegenüber den Geschwistern zu begünstigen,sagt Martin Boltshauser, Leiter Rechtsberatung bei der Behindertenorganisation Procap. Dahinter stehe die Absicht, dem Kind die nötigen Mittel zu geben für die Unterstützung, die es benötige.

Eine Begünstigung ist laut Boltshauser aber nur von Vorteil,wenn das erwachsene Kind trotz Behinderung seinen Lebensunterhalt selbst erwirtschaften kann. Ist -das Kind aber nebst einer IV-Rente auch auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen, kann eine Begünstigung finanziell kontraproduktiv sein.Denn das eigene Vermögen wird,abgesehen von einem Freibetrag von 30’000 Franken (ab 2021),bei den EL angerechnet. Das kann dazu führen, dass die Leistungen gekürzt oder eingestellt werden.

Nur den Pflichtteil geben

Um zu verhindern, dass ein behindertes Kind sein Erbe voll zur Existenzsicherung einsetzen müsse und nichts davon habe,sei es ratsam, dem Kind nur den Pflichtteil zukommen zu lassen,rät Martin Boltshauser. Das sei rechtlich nicht stossend und müsse gegenüber den EL-Behörden auch nicht begründet werden. «Bei Procap raten wir den Eltern schon frühzeitig, nicht zu viel Geld für ihr Kind auf die Seite zu legen, wenn absehbar ist dass es später auf EL angewiesen sein wird.»

Verzichtet ein Kind freiwillig oder unfreiwillig auf seine Erbansprüche,so hat das Folgen.

Lebt das Kind in einem Heim,muss es eigenes Vermögen auch für die Heimkosten aufwenden.Eine Erbschaft ist so schnell aufgebraucht. Deshalb plädiert auchdie Juristin Janine Camenzind,wissenschaftliche Assistentin ander Universität Luzern, dafür, behinderte Kinder erbrechtlich zurückzustellen. Nur bei sehr hohen Erbschaften, die ein gutes Leben ohne Sozialleistungen erlauben, erübrige es sich, Nachkommen mit Behinderung auf den Pflichtteil zu setzen.

Spezialfall Wohneigentum

Eine Ausnahme gibt es: Besitzen die Eltern ein Haus oder eine Wohnung, kann es sich lohnen,dies dem behinderten Kind zu vererben, selbst wenn das Kind EL bezieht. Vorausgesetzt, das Kind sei in der Lage, allein oder mithilfe von Dritten zu leben,profitiere es bei selbst bewohntem Wohneigentum von einem deutlich höheren Vermögensfreibetrag, sagt Martin Boltshauser.Zudem sollte das Wohneigentum mit Hypotheken so belastet sein,damit dem Nachkommen nicht doch noch Vermögen angerechnet werde.

Gibt es zudem Geschwister,sind auch deren Erbansprüche zu berücksichtigen – was nur geht, wenn nebst dem Wohneigentum genug Vermögen vorhanden ist oder die Geschwister auf ihren Anteil verzichten. Der Pflichtteil ist auch bei der Nachlassplanung für Kinder mit Unterstützungsbedarf auf jeden Fall zu beachten. Verzichtet ein Kind freiwillig auf seine Erbansprüche, so hat das Folgen. Das Vermögen, auf das verzichtet wurde, wird bei den EL trotzdem angerechnet. Das gilt auch, wenn,der Verzicht unfreiwillig erfolgt.Deshalb ist laut Martin Boltshauser davon abzuraten, dass Eltern mit einem Erbvertrag den Erbteil des behinderten Kindes auf den überlebenden Partner übertragen. Das könne dazu führen,dass das Kind oder dessen Beistand den Erbvertrag anfechten und seinen Pflichtteil einfordern müsse.

Zu bedenken ist auch, dass eine Erbschaft bei den EL ab dem Todeszeitpunkt des Erblassers angerechnet wird und nicht erst,wenn die Erbteilung abgeschlossen ist. «Für Menschen mit Behinderung kann das zum Problem werden, wenn die Behörde die Ergänzungsleistungen kürzt,bevor die Erbschaft für die behinderte Person verfügbar ist»,sagt Juristin Camenzind. Das lasse sich verhindern, indem die Eltern im Testament festlegen,dass der Pflichtteil für das behinderte Kind als Vermächtnis auszurichten sei. Ein Vermächtnis ist auszurichten, sobald die Erben feststehen, in der Regel bereits einige Wochen nach dem Todesfall.

Lebensqualität verbessern

Solange die Eltern leben, profitieren Kinder oft von deren Unterstützung. Mit entsprechenden Anordnungen im Testament können Eltern dafür sorgen, die Lebensqualität eines Nachkommen mit Behinderung zu erhalten. Die Lösung, welche die Juristin Janine Camenzind vorschlägt, heisst: Zuwendung an Dritte mit Auflage. Das geht so:Das Kind wird auf den Pflichtteil gesetzt, über den verbleibenden Erbanteil können die Eltern frei verfügen. «Sie können diesen als Zuwendung einer anderen Person zukommen lassen, mit der Auflage, dem behinderten Kind gewisse Leistungen zu gewähren.» Laut Camenzind könnte die beauftragte Person dem Kind etwa die Ferien oder den Coiffeur bezahlen, einen neuen Lap-top kaufen oder die Kosten einer Therapie übernehmen, die von der Grundversicherung und damit auch von den EL nicht bezahlt werden.

Die Zuwendungen seien zwingend als freiwillige Leistung zu gestalten. Die beauftragte Person solle diese nach eigenem Ermessen und nach Bedarf des Kindes ausrichten können, betont Camenzind. Das Kind darf keinen Anspruch auf die Leistungen haben, weil sie sonst bei den EL angerechnet werden. Voraussetzung ist schliesslich auch, dass die Eltern eine Person mit der Aufgabe betrauen, der sie voll vertrauen können.

Mitten im Leben

Die Möglichkeiten, um die Lebensqualität von behinderten Kindern mit EL zu verbessern,seien letztlich aber sehr beschränkt, so Camenzind. Die Juristin, die im Rahmen eines Nationalfondsprojekts zur Nachlassplanung bei Nachkommen mit Behinderung forscht, sieht den Grund darin, dass die’EL-Regeln für Einkommen und Vermögen keinen Unterschied machen zwischen bedürftigen Altersrentnern und Bezügerinnen einer IV-Rente. Dabei seien vor allem IV-Rentner auf EL angewiesen, darunter sehr viele, die seit Geburt behindert seien. Diese stünden mitten im Leben und brauchten mehr Mittel als Menschen im hohen Alter, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sagt Camenzind. «Wenn die Eltern aber keine Möglichkeit haben,mit einer Erbschaft den Lebensstandard ihrer Kinder über das Existenzminimum der EL anzuheben, dann ist dies problematisch.» Die betroffenen Kinder selbst seien nicht in der Lage,ihre Situation zu verbessern -ausser sie erbten so viel, dass es sie langfristig von den EL befreit.

Assistenzbeitrag

(Inclusion-Handicap.ch)

Der Assistenzbeitrag der IV erleichtert ein selbstbestimmtes Leben, fördert die gesellschaftliche Teilhabe und entlastet die Angehörigen. Dies zeigt der abschliessende Bericht, der das BSV 2020 publiziert hat. Der Assistenzbeitrag ist ein wichtiges Instrument, um die Vorgabe aus der UNO-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen, wonach Menschen mit Behinderungen ihre Wohnform selber wählen können. Aber es bestehen noch einige Hürden, bis die Vorgabe vollständig umgesetzt wird. Die administrativen

Zugangshürden sind gross, die Beiträge decken die Kosten zu häufig nicht.In der Schlussevaluation über den Assistenzbeitrag gab die grosse Mehrheit der Assistenzbeziehenden an, dass sich ihre Lebenssituation dank der neuen IV-Leistung verbessert hat. Der Assistenzbeitrag erlaubt vor allem Menschen mit einer schweren Behinderung eine selbständigere Lebensgestaltung und eine Erleichterung der gesellschaftlichen Kontakte (Mehr zum Thema selbstbestimmtes Leben und Wohnen).

Im beobachteten Zeitrahmen zwischen 2012 und 2019 nahm die Anzahl der Personen, die Assistenzbeitrag bezogen, konstant zu. Die Bilanz ist positiv: 81 Prozent der Assistenzbezügerinnen und –bezüger sind mit der Leistung «zufrieden» oder «sehr zufrieden». Drei Viertel der Betroffenen gaben an, dass sich dank des Assistenzbeitrags ihre Lebensqualität und ihr Grad an Selbstbestimmung gesteigert hat.

Zu viele und zu hohe Zugangshürden

Trotz dieses positiven Zuspruchs gemäss der Evaluation ist die Zahl der Versicherten, die einen Assistenzbeitrag beziehen und damit eine Assistenzperson anstellen, verbesserungswürdig.

  • Es ist nach wie vor nicht möglich, direkte Angehörige (Eltern, Kinder, Grosseltern und Lebenspartner) als Assistenzpersonen anzustellen. Und dies, obschon in der alltäglichen Betreuungssituation die Hilfe durch Angehörige noch immer der naheliegende und effizienteste Weg ist. Die Evaluation zeigt dann auch: Viele Betroffene haben Mühe, genügend Assistenzpersonen zu finden.
  • Der administrative Aufwand ist für viele Betroffene nur schwer zu bewältigen. Er schreckt etliche potentielle Anspruchsberechtigte vor einer Anmeldung ab. Insbesondere ihre Rolle als Arbeitgeber ist für viele Assistenz-Beziehende eine grosse Belastung. Es braucht weitere Verbesserungen, um den Ablauf zu vereinfachen.
  • Die Höhe des Assistenzbeitrages deckt nicht immer den tatsächlichen Bedarf der Menschen mit Behinderungen. Insbesondere bei Menschen mit schweren Beeinträchtigungen ist der Assistenzbeitrag nicht kostendeckend. Sie haben faktisch keine Wahlfreiheit, wo sie leben
  • Die Kürzungen des Assistenzbeitrages für jene Menschen, die tagsüber im zweiten Arbeitsmarkt («geschützte Werkstatt») arbeiten, sind viel zu hoch.

Weiterführende Informationen

Städte und Gemeinden fordern mehr IV-Renten

(SonntagsBlick)

Städte und Gemeinden fordern mehr IV-Renten

Jetzt ist es offiziell: Die IV saniertsich-jedenfalls zum Teil-auf Kostender Sozialhilfe. Die Kommunen drängendaher nun verstärkt auf Abhilfe.


«IV schickt Kranke ins Elend»titelte SonntagsBlickam 11. August 2019

 

THOMAS SCHLITTLER

Die SonntagsBlick-Titelzeile:«IV schickt Kranke ins Elend», vom August 2019 hatte ihren Grund: Während die Zahl der IV-Bezüger zwischen 2005 und 2018 um rund 34 000 abgenommen hatte, stieg jene der Sozialhilfeempfänger um 41 000 an.

Ärzte, Anwälte und Sozialpolitiker beteuerten zu jener Zeit, viele ehemalige IV-Rentner seien auf den Sozialämtern gelandet – die Invalidenversicherung saniere ihre Bilanzen auf Kosten der Sozialhilfe.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen(BSV)allerdings stritt dies ab.

Die geringere Zahl der IV-Rentner sei darauf zurückzuführen, dass die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt besser gelinge als früher. Dass sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger gegenläufig entwickle, sage nichts über einen kausalen Zusammenhang aus.

Diese Woche nun wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt,dass der Bund mit dieser Einschätzung danebenlag.

Die Untersuchung des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) im Auftrag des BSV stellt fest:«Die Zahl der bei der IV neu angemeldeten Personen, die vier Jahrenach Anmeldung Sozialhilfe beziehen, hat zwischen 2006 und 2013 sowohl relativ als auch absolut zugenommen.» Dieser Anstieg sei weder mit derZusammensetzung der IV-Anmeldungen noch mit der Entwicklung der kantonalen Arbeitslosenquote erklärbar. Also doch: Die IV hat sich auf Kosten der Sozialhilfe saniert-zumindest teilweise.

Im Gegensatz zu den staatlichen IV-Renten belastet die Sozialhilfedas Budget von Städten und Gemeinden. Die nehmen daher das neue Untersuchungsergebnis mit grossem Interesse auf: «Wir habenimmer gesagt, dass eine IV-Revision nicht auf Kosten der Sozialhilfe passieren darf.


Christoph Niederberger, Direktor des Gemeindeverbands.

 

Die aktuellen Studienergebnisse zeigen nun ebendies auf – und das ist keine gute Entwicklung», so Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV).In der aktuell schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und angesichts des zu erwartenden Anstiegs der Sozialhilfekosten durch die Corona-Pandemie seien weitere Verlagerungen von der IV in die Sozialhilfe unbedingt zu vermeiden.«Gegen diese Tendenz muss nun von behördlicher Seite als Erstes auf Ebene Vollzug möglichst Gegensteuer gegeben werden.Nützt dies nichts, dann muss in einem nächsten Schritt die Politik einschreiten», fordert Niederberger.

Die Städte sehen das genauso:Raphael Golta zum Beispiel, Sozialvorsteher der Stadt Zürich, fordert von der IV anzuerkennen, dass ich ein Teil ihrer Bezügerinnen und Bezüger nicht mehr in den Arbeitsmarkt eingliedern lasse.
«Dieses Risikomuss die IV selbertragen.Sie darf die Verantwortung für die Betroffenen nicht auf die Sozialhilfe abwälzen», so Golta.Zudem müsse die IV einen grösseren Teil der heute nicht mehr arbeitsfähigen Sozialhilfebeziehenden wieder übernehmen.

Beim BSV stossendiese Forderungen auf taube Ohren.

«Eine grosszügigere Ausgestaltung der Anspruchsbedingungen in der IV müsste politisch entschieden,vom Parlament verabschiedet und allenfalls in einer Volksabstimmung bestätigt werden», teilt ein Sprecher mit.

Die Behörde sieht ohnehin kaum Handlungsbedarf: «Der Forschungsbericht zeigt,dass die Fokussierung der Invalidenversicherung auf die Eingliederung von Menschen mit gesundheitlicher Erwerbseinschränkung klar erfolgreich ist.»
Die Zahl Betroffener, die mit Unterstützung der IV nach den Eingliederungsmassnahmen ein existenzsicherndes Einkommen erzielten, ohne eine Rente zu benötigen, sei mit den letzten Revisionen deutlich angestiegen


«Die IV muss wieder einen grösseren Teil der Sozialhilfebeziehenden übernehmen» Raphael Golta, Sozialvorsteher Stadt Zürich“

 

Um das Abrutschen von der IV in die Sozialhilfe künftig zu verhindern, sodas BSV, sollten die Unterstützungs-und Eingliederungsangebote in Zukunft deshalb «noch besser ausgestaltet und gezielter eingesetzt» werden.


Nicolas Galladé Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik

 

Nicolas Galladé, Sozialvorsteher von Winterthur ZH und Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik, hält davon wenig. Zwar spreche nichts gegen gezieltere Eingliederungsmassnahmen. Die Studie belege aber eben auch, dass eine existenzsichernde Erwerbsarbeit für viele Betroffene «illusorisch» sei.

«Die Reaktion des BSV zeigteinen verengten Blick auf die IV statt auf das Gesamtsystem der sozialen Sicherung», so Galladé. Statt der weiteren Optimierung von Eingliederungsmassnahmen, die häufig nichts bringen, wäre eine IV-Rente in vielen Fällen ehrlicher, effizienter und menschenwürdiger


Auf dem Buckel der Schwächsten:Immer mehr Menschen, die keine IV-Rente erhalten,landen in der Sozialhilfe.

 

Die Maske behindert Behinderte gleich doppelt

(suedostschweiz.ch)

Menschen mit einer Behinderung leiden stärker unter den Covid-19-Schutzmassnahmen als viele andere. Dies zeigen Erfahrungen einer Bündner Betroffenen und eines Beraters.
Philipp Wys


Für Menschen mit einer Behinderung ist der ohnehin schon schwierige Alltag durch die Maskenpflicht zusätzlich erschwert worden.
OLIVIA OLIVIA AEBLI-ITEM

 

«Mit der Maskenpflicht im ÖV und später auch in den Läden sowie mit der Einführung des Homeoffice mache ich als Mutter eines erwachsenen, leicht behinderten Sohnes, diverse Beobachtungen, die mich aufhorchen lassen und traurig stimmen.» Das schreibt Denise Gerber aus Scuol in einem Leserbrief.

Konkret geht es darum, dass Gerbers Sohn aufgrund der Behinderung keine Maske tragen kann – und deswegen des Öfteren böse angeschaut oder gar beschimpft wird. Auch zu Handgreiflichkeiten sei es schon gekommen. Trotz eines Attests.

Jeden Tag Thema

Das ist ein Problem, bestätigt Robert Nutt. Er ist Beratungsleiter bei Pro Infirmis Graubünden. Die Zweigniederlassung in Chur ist regelmässig mit dieser «schwierigen Problematik» konfrontiert, wie Nutt auf Anfrage sagt. Letztlich sei es ein Interessenskonflikt; es gehe um den eigenen und um den Schutz der Öffentlichkeit. «Wir haben schon mehrfach gehört, dass wer im Bus keine Maske trägt, angesprochen oder als Corona-Kritiker abgestempelt wird.» Die Schutzmaskenpflicht im öffentlichen Raum ist laut Nutt für Menschen mit einer Behinderung teils ein grosses Problem.

Aber auch im Büro von Pro Infirmis in Chur stellt sich die Problematik, erzählt Nutt: «Wir haben im Team eine Frau mit einer Hörbehinderung. Sie ist darauf angewiesen, von Lippen lesen zu können. Dazu müssen jene Leute, die mit ihr sprechen, die Maske ablegen. Und diese Gegebenheit macht es für seine Mitarbeiterin und auch für das Gegenüber oftmals schwierig», so Nutt.

Insbesondere Menschen, die geistig und körperlich behindert sind, sind seit der Maskenpflicht nicht mehr in der Lage, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, ist Nutt überzeugt.

Es gelte daher, jedes Mal eine Interessensabwägung zu tätigen. Denn eine Lösung gebe es keine. «Nur eine Ausgrenzung der Betroffenen», so Nutt.

Von der chinesischen Stadt Wuhan aus hat das Virus Covid-19, Coronavirus genannt, sich zunächst in China,inzwischen über weite Teile der Welt verbreitet. Auch in der Schweiz und im Kanton Graubünden sind Fälle voninfizierten Personen bestätigt. Hier findet Ihr die Berichterstattung der Südostschweiz-Medien zum Thema.

Nicht verstanden und ausgegrenzt

Corona wirkt laut Nutt der Integration und Inklusion in allen Bereichen entgegen. «Es ist ein Dilemma.» Menschen mit einer Behinderung werden durch die Massnahmen, die Covid-19 mit sich bringt, noch stärker als bis anhin ausgegrenzt. Davon betroffen sind laut Nutt auch ältere Leute, Wohnheime, Werkstätten oder Pro Senectute, das im Bildungs- und Kurswesen Angebote zurückfahren musste.

Situation hat sich verschlimmert

Zurück zur Familie Gerber nach Scuol. Der leichtbehinderte Sohn arbeitet inzwischen im Homeoffice. Seither stellt seine Mutter fest, dass er beim Sprechen viel mehr Mühe hat, weil er über den Tag viel weniger redet. «Menschen mit einer Einschränkung sind ja oft nicht verstanden und immer noch ausgegrenzt, weil sie nicht ins Schema unserer perfekten Gesellschaft passen. Mit Covid-19 hat sich diese Situation massiv verschlimmert», schreibt Gerber.

Menschen mit Behinderungen aus intensivmedizinischen Behandlungen ausgeschlossen

(Pro Infirmis)

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat die Triage-Kriterien für den Fall der Ressourcenknappheit in der Intensivmedizin verschärft. Dabei stützt sie sich für Menschen ab 65 Jahre auf eine «Fragilitätsskala», die bereits im Ausland stark kritisiert worden ist: Ihre Anwendung führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich häufig von einer intensivmedizinischen Behandlung ausgeschlossen werden. Inclusion Handicap und Agile.ch fordert die SAMW auf, die Kriterien anzupassen.

Dies ist eine Medienmitteilung von Inclusion Handicap, unserem politischen Dachverband. Pro Infirmis ist im Vorstand vertreten.

Die COVID-19-Pandemie könnte bald zur Folge haben, dass die Ressourcen der Intensivmedizin nicht für Alle reichen, die auf eine entsprechende Behandlung angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund hat die SAMW am 4. November 2020 die Kriterien verschärft, nach denen in einem solchen Fall entschieden würde, wer auf die Intensivstation eingewiesen wird.

Neu kommt bei Menschen ab 65 Jahre eine „Klinische Fragilitätsskala“ zur Anwendung, welche in Deutschland, Grossbritannien, Kanada sowie auf internationaler Ebene wegen ihrer diskriminierenden Wirkung auf Menschen mit Behinderungen von Menschenrechtsinstitutionen und Behindertenorganisationen stark kritisiert worden ist: Weil die „Klinische Fragilitätsskala“ auf die Abhängigkeit einer Person von der Hilfe Dritter abstellt, führt sie dazu, dass Menschen mit Behinderungen weit überdurchschnittlich häufig von einer intensivmedizinischen Behandlung ausgeschlossen würden. Dies, obschon diese Abhängigkeit weder auf eine schlechtere Prognose, noch einen erhöhten Pflegebedarf während der Intensivpflegebehandlung schliessen lässt. «Die Kriterien für die Triage der SAMW benachteiligen Menschen mit Behinderungen. Sie verletzen das Verbot der Diskriminierung von in der UNO-Behindertenrechtskonvention und in der Bundesverfassung. Inclusion Handicap hat sich gestern in einem Schreiben an die SAMW gewandt und sie aufgefordert, die Triage-Kriterien zu überarbeiten», so Maya Graf, Ständerätin und Co-Präsidentin von Inclusion Handicap.

Es darf für die Frage der Aufnahme auf die Intensivstation bei Menschen mit Behinderungen nicht pauschal auf die „Klinische Fragilitätsskala“ abgestellt werden. Die Dachverbände Inclusion Handicap und Agile.ch verlangen von der SAMW, dass sie, zusammen mit dem Eidgenössichen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, bei der Überarbeitung der Kriterien miteinbezogen werden.


Auskunft

Caroline Hess-Klein, Dr. iur., Inclusion Handicap, Leiterin Abteilung Gleichstellung
076 379 94 72
caroline.hessklein@inclusion-handicap.ch

«Barrieren und Berührungsängste gemeinsam abbauen!»

(oltnerwoche.ch)

Pro Infirmis feiert ihren grossen runden Geburtstag Corona bedingt im nächsten Jahr mit einem Grossevent auf dem Bundesplatz. Der Verein hat in den letzten 100 Jahren viel bewerkstelligt, allerdings ist das Ziel, einer inklusiven Gesellschaft näher zu kommen, noch lange nicht erreicht. Felicitas Huggenberger, Direktorin Pro Infirmis, über den neuen Ausschuss «Partizipation und Inklusion» von Menschen mit einer Behinderung, über die wichtigsten Dienstleistungen des Vereins sowie über den positiven Auftritt in den sozialen Medien.


(Bild: zVg/ Pro Infirmis
Felicitas) Huggenberger: «Für eine inklusive Gesellschaft braucht es alle: Menschen mit und ohne Behinderung.»

 

Pro Infirmis feiert dieses Jahr ihr 100jähriges Bestehen. Wenn Sie Bilanz ziehen, was sind die wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der Organisation?

Felicitas Huggenberger: In 100 Jahren hat sich Pro Infirmis zur grössten schweizerischen Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen entwickelt. Gegründet wurde Pro Infirmis 1920 als Schweizerische Vereinigung für Anormale. Der Begriff «anormal» fiel erst 1945 aus dem Namen. Darin zeigt sich schon, wie stark sich die Organisation in ihrer langen Geschichte gewandelt hat – aber auch, wie langwierig dieser Prozess war. Angetrieben wurde der Wandel von einer immer selbstbewussteren und selbstbestimmteren Haltung der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, die Schritt für Schritt auch in die Gesellschaft und Politik durchgedrungen ist. Seit 2001 wird diese Haltung auch in den Kampagnen von Pro Infirmis deutlich sichtbar. Am Ziel sind wir aber noch nicht: Mit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz im Jahr 2014 sind die Ansprüche an die Inklusion nochmals gestiegen und klar festgehalten worden. Ein wichtiger Meilenstein für die Zukunft wird sein, diese Entwicklung weiterhin erfolgreich in die Gesellschaft und in unsere eigene Organisation zu tragen.

Das Jubiläumsmotto lautet «Die Zukunft kennt kein Hindernis». Was steckt dahinter?

Pro Infirmis zeigt damit Wege in eine inklusive Zukunft auf, die uns alle betrifft. Unser Jubiläumsprogramm wurde in engem Austausch mit Menschen mit Behinderungen erarbeitet. Viele von ihnen sind als Protagonist/innen, als Moderator/innen, als Künstler/innen oder als Inklusionsexpert/innen aktiv beteiligt. Denn für eine inklusive Gesellschaft braucht es alle: Menschen mit und ohne Behinderung. Damit diese Gleichberechtigung auch Realität wird, muss die Teilhabe von Menschen mit Behinderung gezielt gefördert werden. Barrieren und Berührungsängste werden so gemeinsam abgebaut und die gemeinsame Zukunft tritt in den Vordergrund. Darauf bezieht sich unser Motto.

Apropos Hindernis: Das Jubiläumsjahr fällt ins Corona-Jahr: Hat die Pandemie die Feierlichkeiten tangiert oder beeinträchtigt?

Corona hat unser Jubiläumsjahr ziemlich auf den Kopf gestellt. Während wir am eigentlichen Geburtstag, dem 31. Januar, noch gemeinsam in allen Regionen Geburtstagstorten anschneiden konnten, war bald klar, dass weitere Anlässe nicht wie geplant stattfinden konnten. So mussten wir zum Beispiel unseren politischen Gross¬event auf dem Bundesplatz verschieben – aber nicht absagen: 2021 werden wir zum 101. Geburtstag diesen und weitere Anlässe nachholen.


(Bild: Dominique Meienberg / Pro Infirmis) Inklusion geht uns alle an: Pro Infirmis setzt sich dafür ein – denn die Gesellschaft ist in vielen Bereichen noch nicht bereit für ein diskriminierungsfreies Zusammenleben.

 

Wie ist das Jubiläumsjahr bis jetzt gelaufen?

Im Jubiläumsjahr 2020 konnten wir mit der Jubiläumsbriefmarke und unserer Kampagne trotz Pandemie präsent sein und für unsere Themen sensibilisieren. Digital konnten wir das Jubiläum nutzen, um neue Wege zu gehen; so haben wir beispielsweise einen Vlog in mehreren Sprachen produziert, der viele spannende Menschen mit Behinderungen ins Zentrum rückt und Einblick in ihr Leben gibt. Und wir sind – wie sich das beim Älterwerden gehört – auch in uns gekehrt und haben beschlossen, dass Veränderungen bei Pro Infirmis anstehen: zu unserem 100-jährigen Bestehen haben wir die Partizipation von Menschen mit Behinderungen in der Organisation in den Statuten verankert und möchten diese weiter stärken.

Sie möchten die Partizipation von Menschen mit Behinderung bei Pro Infirmis stärken – Sollte das nicht eine Selbstverständlichkeit sein?

Aus heutiger Sicht ist es eine Selbstverständlichkeit. Aber wie gesagt, blickt Pro Infirmis auf eine lange Geschichte zurück. Der Wandel von einer 100-jährigen Institution der Unterstützung hin zu einer inklusiven und partizipativen Organisation geschieht nicht über Nacht. Natürlich sind Menschen mit Behinderungen bei Pro Infirmis bereits heute beispielsweise im Vorstand, als Mitarbeitende und in Kommissionen vertreten. Es geht nun aber darum, diese Teilhabe systematisch in der Organisation zu verankern und zu stärken. Dazu schaffen wir den Ausschuss «Partizipation und Inklusion», der voraussichtlich im März 2021 sein Amt aufnehmen soll: Der Ausschuss soll sich aus zwei Vorstandsmitgliedern und maximal sechs weiteren Personen, welche selber mit Behinderungen leben, zusammensetzen, und hat zur Aufgabe, den aktiven Einbezug von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen bei Pro Infirmis voranzutreiben. Wir freuen uns auf die Herausforderungen, die er an uns stellen wird.

Was sind die wichtigsten Dienstleistungen?

Unsere wichtigste Dienstleistung ist die Sozialberatung. Diese kostenlose Beratung und Begleitung in den verschiedenen Lebensbereichen trägt dazu bei, herausfordernde Lebenssituationen zu bewältigen und Perspektiven zu entwickeln. Wir vermitteln Informationen, insbesondere zu den Sozialversicherungen, und helfen bei finanziellen Engpässen. Konkrete Dienstleistungen wie etwa das begleitete Wohnen oder der Entlastungsdienst unterstützen die Menschen darüber hinaus, ihren eigenen Weg möglichst selbstbestimmt zu gehen.

Wie hat sich das Leben der Menschen mit Behinderungen in den letzten Jahren verändert?

Das müssten Sie Menschen mit Behinderungen selbst fragen. Aus unserer Sicht hat sich der Zugang zu den Infrastrukturen und dem öffentlichen Verkehr für Menschen mit Behinderungen zumindest verbessert, wenn auch noch viel Handlungsbedarf besteht. Auch in der digitalen Welt sind mit barrierefreien Webseiten positive Veränderungen im Gange, die es zu nutzen und zu stärken gilt. Verstärkte Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung der IV-Bezüger/innen haben auf Seite der Behörden auch zu Verbesserungen beigetragen.

Wie geht die Gesellschaft mit Menschen mit einer Behinderung um und wo gibt es noch Verbesserungspotenzial?

In der Gesellschaft wurden einige, insbesondere physische Barrieren abgebaut, aber nicht zuletzt die psychischen Hürden für eine wirklich inklusive Gesellschaft bestehen nach wie vor. Psychische Behinderungen sind im Gegensatz zu kognitiven und körperlichen Behinderungen wenig akzeptiert. Insgesamt ist die Gesellschaft in vielen Bereichen noch nicht bereit für ein wirklich inklusives Zusammenleben. Man denke hier beispielsweise an inklusive Schulklassen. Diese bedingen, dass Mitschüler und ihre Eltern oder Kolleginnen und Kollegen diesen Ansätzen mit Wertschätzung und ohne Berührungsängste begegnen. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns.

Was sind die grössten Herausforderungen für Menschen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft?

Dass in allen Lebensbereichen noch immer physische und psychische Barrieren bestehen, sodass Menschen mit Behinderungen nicht vollständig und diskriminierungsfrei am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben teilhaben können.

Pro Infirmis ist auch auf den Sozialen Medien präsent. Wie sieht die diesjährige Plakat- und Social-Media-Kampagne aus?

Bei der diesjährigen Plakat- und Social-Media-Kampagne griffen Menschen mit Behinderungen einen beliebten Internet-Trend auf: Sie stellten ihre alten Kinderfotos nach. Mit dieser Sensibilisierungskampagne wollten wir das Leben zelebrieren. Dazu gehören schöne Momente, aber auch weniger schöne – und alle Momente dazwischen. Auch wenn in den Jahren zwischen damals und heute für die Protagonist/innen viel Positives geschehen ist, erleben sie nach wie vor Hürden im Alltag. Und auch auf diese machen wir aufmerksam.
Parallel zur Plakatkampagne lancierten wir eine Solidarisierungskampagne auf Social Media: Mit dem Hashtag #WieDuUndIch konnten Leute ihr Facebook- und Instagram-Profilbild verschönern und sich so mit Menschen mit Behinderungen solidarisieren. Denn Inklusion geht uns alle an.

Welches Echo haben Sie auf diese Kampagnen bekommen?

Ein durchaus positives: Die Kampagnensujets sind aufgefallen, da sie beim Plakataushang mit ihrer Authentizität aus dem klassischen Gesamtbild der Hochglanzwerbung ausgebrochen sind. Wir haben auch sehr liebe E-Mails erhalten von Leuten, die uns geschrieben haben, dass sie die Plakate sehr berührt haben. Die Social-Media-Kampagne stiess auf grosses Echo. Gerade auf Facebook haben wir eine sehr hohe Reichweite erzielt und die Kampagne aufgrund des grossen Erfolgs auf den digitalen Kanälen verlängert.

Was wünschen Sie sich für Pro Infirmis für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass Pro Infirmis auch in Zukunft wesentlich dazu beiträgt, dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft näher zu kommen und dazu mit gutem Beispiel vorangeht.
Interview: Corinne Remund


Pro Infirmis führt in der ganzen Schweiz Beratungsstellen und unterstützt Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen. Als gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich ist Pro Infirmis politisch unabhängig und konfessionell neutral. Pro Infirmis fördert mit ihren Dienstleistungen das selbstständige und selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderungen. Pro Infirmis setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen aktiv am sozialen Leben teilnehmen können und nicht benachteiligt werden. Dieses Ziel will Pro Infirmis gemeinsam mit den Betroffenen erreichen.

Stärkt Menschen mit Behinderungen während der Corona-Pandemie

(Pro Infirmis)

Mitten im Herbst trifft uns die zweite Corona-Welle um einiges heftiger als die erste: Schon die erste Welle hat die Menschen und erst recht Menschen mit Behinderungen sowie ihre pflegenden und betreuenden Angehörigen an den Anschlag gebracht. Die Zeit der Entspannung war nur kurz und mit dem Winter spitzt sich die Situation nun doppelt zu: „Die aktuelle Situation ist extrem herausfordernd, weil sie neue Benachteiligungen nach sich zieht. Wir brauchen zwingend gemeinsam abgestimmte Konzepte von Bund und Kantonen, wie die Mitmenschen mit Behinderungen in dieser schwierigen Zeit gezielt unterstützt werden können“, fordert Christian Lohr, Nationalrat und Vizepräsident von Pro Infirmis.

Gerade für Menschen, die auf eine Assistenz und Unterstützung angewiesen sind oder die etwa Schwierigkeiten haben, die Corona-Regeln überhaupt zu verstehen, ist diese Corona-Krise eine fast nicht zu bewältigende Herausforderung. Menschen, denen die neue Realität mit Abstandhalten, Unsicherheit auf allen Ebenen und fragiler werdenden Unterstützungssystemen zu viel wird, wissen nicht mehr weiter. Sie verzweifeln und ziehen sich zurück. Die Verlagerung wesentlicher Teile des Lebens ins Digitale entlastet nicht nur, sondern ist für einige Menschen mit Behinderungen eine zusätzliche Heraus- oder Überforderung. Und den sozialen Kontakt ersetzen Computer nicht.

Pro Infirmis ruft die Öffentlichkeit auf, mit Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen solidarisch zu sein. Das heisst, Betroffene mit dem Stempel Risikogruppe nicht gut gemeint plötzlich in Coronas Namen zu bevormunden oder von allem auszuschliessen. Das ist diskriminierend, verunsichert und treibt die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft in die Einsamkeit. Dies bestätigt auch Christian Lohr: „Die Sensibilität für die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen muss gerade während der Corona-Pandemie stärker werden.“ Deshalb rufen wir dazu auf, in den nächsten Monaten nicht gleichgültig zu werden, sondern mit der nötigen Empathie hinzuschauen. Denn Solidarität heisst auch, Regeln und Ausnahmen mit Augenmass sowie mittragen, dass nicht alle Menschen gleich mit der neuen Situation umgehen.

Ängste, Isolation oder Vereinsamung und Verunsicherung sind existentiell: Betroffene können sich jederzeit an die Pro Infirmis Beratungsstellen in ihrem Kanton wenden, wenn Sie nicht mehr weiter wissen. Wir sind mit unserer Sozialberatung und weiteren Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen auch in dieser Krise da. Nur gemeinsam schaffen wir es, gut über den Winter zu kommen. Schauen sie zueinander, bleiben Sie gesund.


Pressekontakt:

Für Interviewanfragen sowie weitere Informationen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
Susanne Stahel, Mitglied Geschäftsleitung und Leitung Kommunikation und Mittelbeschaffung susanne.stahel@proinfirmis.ch, 058 775 26 77, 079 416 83 85

Neuer Ärger mit IV-Gutachter

(Schaffhauser Nachrichten)

Der grösste Schweizer IV-Gutachter ABI steht einmal mehr in der Kritik – immerhin schreibt niemand so viele IV-Gutachtenwie die Basler Abklärungsstelle. Nun gehts um ihren Umgang mit hartnäckigen Anwälten.
Lucien Fluri.


Niemand schreibt so viele IV-Gutachten wie die Basler Abklärungsstelle ABI.BILD KEY

 

A-B-I: Für die einen sind dies nur drei Buchstaben. Für Schweizer Anwälte istdas ABI – kurz für: Ärztliches Begutachtungs-Institut Basel – durchaus ein Reizwort: Niemand schreibt so viele IV-Gutachten wie die Basler Abklärungsstelle. Ob jemand eine IV-Rente erhält oder nicht, hängt oft von der Einschätzung der Firma ab, die eine Marktmacht ist: Es gab Jahre, da schrieb sie mehr als jedes vierte komplexe Gutachten in der Schweiz. Das Problem: Die Firma steht seit Jahren in der Kritik. Denn Zahlen zeigen: Die Chance, dass das ABI eine Rente spricht, liegt tiefer als bei anderen Experten. Anwälte versuchten deshalb oft, das ABI als Gutachtenstelle abzulehnen.

Vergabe im Losverfahren

Nicht nur deshalb stand das ABI in den Schlagzeilen: 2018 änderte sich der Gutachtenmarkt fundamental,neue Anbieter drängten in den Markt: Das ABI verlor auf einen Schlag 50 Prozent der Einnahmen – und griff zu einem umstrittenen Trick, um Arbeit und Aufträge für die Gutachter sicherzustellen:Ein Vertrauter von ABI-Gründer Simon Lauper kaufte zwei Gutachterfirmen in der Innerschweiz, für die nun ganze Basler Gutachterteams ebenfalls arbeiteten. Indem diese Teams für drei Firmen tätig waren, blieb ihre Chance grösser, an Aufträge zu kommen Denn diese werden vom Bund im Losverfahren vergeben. Schliesslich unterband das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) diese Praxis, weil damit das gesetzlich vorgesehene Zufallsprinzip ausgehebelt werde.

Weitere aufsichtsrechtliche Folgen hatte dies für das ABI nicht. Es blieb nur Gerücht, dass ABI-Gründer Lauper an den Firmen seines Kollegen beteiligt gewesen war, um sich so selbst Einnahmen zu sichern. Allerdings sah sich das ABI in der Folge mit Ausstandsbegehren von Anwälten konfrontiert, da die Regeln verletzt worden waren.

Nun dürfte sich die angespannte Lage zwischen dem ABI und den Anwälten nochmals verschärfen. Dieser Zeitung liegt ein Dokument vor, in dem das Basler Gutachateninstitut von der Aargauer IV-Stelle einen Risikozuschlag verlangte, weil das Gutachten nicht nur umfangreich ausfalle, sondern auch der Anwalt des Versicherten «stark negativ eingestellt» sei. Ein Risikozuschlag bei kritischem Anwalt: Dies wäre in der Schweizer Gutachtenlandschaft etwas Neues. De facto hiesse dies: Haben Klienten einen hartnäckigen Anwalt,würde das ABI fast automatisch mehr verdienen.

Im Schreiben nennt das ABI keinen Betrag, führt aber aus, was es unter «stark negativ eingestelltem Anwalt» versteht: Es gebe «Verzögerungen, Diskreditierungen, schlechte Kooperation» sowie «Diffamierung vor und nach der Begutachtung.».



Mehr als 25 Prozent aller komplexen IV-Gutachten in der Schweiz schrieb die Basler Firma ABI zeitweise.


Entdeckt haben diese Passage Mitarbeitende der Oltner Kanzlei Zenari Thomann. Für Anwalt Roger Zenari ist eine solche Aussage stossend. Einerseits sei es Aufgabe der Anwälte, im Interesse ihrer Mandanten Kritik am Gutachter institut oder an Gutachtern zu äussern, wenn diese nicht hinreichend objektiv erscheinen. «Dies ist Teil der Verfahrensrechte des Versicherten. Hier für ist eine Gutachterstelle nicht zusätzlich zu entschädigen. Sie hat dadurch ja auch nicht einen grösseren Aufwand». Andererseits,so Zenari,seien solche Aussagen auch für das weitere Verfahren problematisch: «Wenn Animositäten gegenüber einer Kanzlei geäussert werden, kann man sich berechtigterweise fragen, ob nicht die Gutachterstelle befangen ist», sagt der Oltner Anwalt.

Bund: «Risikozuschläge» unzulässig

Klar ist auch die Meinung des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Solche Risikozuschläge wären unzulässig,weil sie einer neutralen und unabhängigen Begutachtung widersprechen würden, hält das Amt auf Anfrage fest. Bisher habe man keine Kenntnisse von einer solchen Praxis, würde ansonsten aber aufsichtsrechtliche Massnahmen in Betracht ziehen. Mit gutem Grund,denn: «Sofern ein solcher Risikozuschlag vereinbart worden und aktenkundig wäre, ist offenkundig davon auszugehen, dass er zu einem Ausstandsbegehren führen wird.» Verfahren würden sich so in die Länge ziehen. «Es ist für uns deshalb kaum vorstellbar,dass eine IV-Stelle einem solchen Risikozuschlag überhaupt zustimmen würde», hält das BSV fest. – Auch wennes im Aargau nun so geschehen ist.

«Eine absolute Ausnahme»

Eigentlich sind die Tarife für IV-Gutachten geregelt, meist sind Pauschalen festgesetzt. Bei gewissen Arten von Gutachten jedoch kann, auf der Basis von Richtwerten, eine Abgeltung verhandelt werden, gerade wenn die Fälle aufwendiger sind, etwa wenn ein Fall bereits mehrere Jahre dauert und Hunderte Seiten Akten vorliegen. Höhere Entschädigungen seien gerechtfertigt «bezogen auf den Aufwand, aber sicher nicht personenbezogen auf einen Anwalt», sagt BSV-Mann Ralf Kocher.

Will das ABI mit einem «Risikozuschlag» missliebige Anwälte brandmarken oder einfach für unangenehme Kritik zusätzlich entschädigt werden? Nein, sagt Geschäftsführer und Gründer Simon Lauper. Das Wort «Risikozuschlag» sei eine absolute Ausnahme.Unter Tausenden Mails sei das Wort nur einmal vorgekommen. Lauper spricht von einer «unbeholfenen» und «nicht korrekten Wortwahl einer administrativen Mitarbeiterin». Zudem könne man Abgeltungsforderungen, begründet mit dem erhöhten Aufwand durch Anwälte,an einer Hand abzuzählen.

Der ABI-Chef verweist überdies auf Erklärungen,die aufsichtsrechtlich konformer sein dürften: Zwar sei mit grösseren Erschwernissen und Aufwänden zu rechnen, wenn Anwälte gegen eine Gutachterstelle negativ eingestellt seien. Grundsätzlich würden aber weniger die Anwälte als die Rechtsverfahren an und für sich für zusätzliche Aufwände sorgen. So entstünden durch Einsprachen teils monatelange Verzögerungen, es gebe Nachfragen, Kritik und Klienten würden Gutachtentermine überdurchschnittlich oft absagen – ohne Entschädigung für die Gutachter. Und nicht zuletzt sei das ABI auch «Diffamierungen» und einem Reputationsschaden ausgesetzt.

Soziale Kontakte sind sehr wichtig

(Sarganserländer)

Pro Senectute Kanton St.Gallen sowie Pro Infirmis und Procap St.Gallen-Appenzell setzen sich öffentlich dafür ein,dass sie ihre Freizeitangebote für ältere und behinderte Menschen trotz Corona weiter durchführen können.


Nicht nur Bildung: Bei den Kursen von Pro Senectute, Pro Infirmis und Procap geht es stark um den sozialen Kontakt.Pressebild

 

von Michael Walther

Covid-19 wird uns noch lange beschäftigen – nicht Monate, sondern Jahre», sagt Thomas Diener, Vorsitzender der Geschäftsleitung von Pro Senectute Kanton St.Gallen.«Deshalb ist es wichtig, dass soziale Kontakte für die ältere Bevölkerung weiterhin möglich bleiben. Sonst werden mit der Zeit die Schäden vor allem im psychischen Bereich einfach zu gross.»

«Die ältere Bevölkerung hat sowieso weniger Kontakte als jüngere Menschen im Arbeitsleben», so Diener.Unter eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten litten die älteren Menschen nun schon lange. Und es könne auch noch lange dauern. Was Diener meint,sind die weit über tausend Kurse und Freizeitangebote im Jahr von Pro Senectute Kanton St.Gallen, die rund 20 000 Personen besuchen. Sie haben das Ziel, dass ältere Menschen weiter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. «Bei einem Sprachkurs von uns geht es weniger um den Inhalt- dies schon auch -, als um die soziale Teilhabe.» Deshalb müssten die Kursund Freizeitangebote weiterhin möglich sein. «Wir sind keine Bildungsinstitution», so Diener.

Pro Infirmis und Procap auf der gleichen Linie

Dass Kurse und Freizeitangebote nach wie vor durchgeführt werden können,dafür will sich Diener nun öffentlich einsetzen. Und er ist nicht allein: Die beiden grossen kantonalen Behindertenorganisationen – Pro Infirmis und Procap St.Gallen-Appenzell – sind auf der gleichen Linie. Pro Infirmis bietet mit dem Bildungsklub ebenfalls zahlreiche Kurse und Freizeitangebote für Personen mit Handicap im ganzen Kanton an. Mit dem gleichen Ziel wie Pro Senectute: «Wir setzen uns für die soziale Teilhabe der Bevölkerungsgruppe ein, die wir vertreten», sagt Pro-Infirmis-Geschäftsleiterin Therese Wengen Und auch Procap St.Gallen-Appenzell führt in allen Regionen des Sektionsgebiets Freizeitveranstaltungen und Höcks für die Mitglieder durch.

Sie finden wie Pro Senectute: Diese Angebote müssen weiterhin möglich bleiben. «Menschen mit Handicap haben viel gemeinsam mit der älteren Bevölkerung», sagt Procap-Geschäftsleiter Hansueli Salzmann. «Ihre Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind reduziert.» Gleich wie bei den älteren Menschen sei auch,dass viele, wenngleich nicht alle Personen mit Handicap, nicht die finanziellen Mittel besässen, ein Alternativangebot zu bezahlen: «Sie sind auf unsere günstigen Angebote angewiesen.»

Für die drei Organisationen ist deshalb klar: Ihre Freizeit- und Kursangebote müssen in der anspruchsvollen Zeit weiterlaufen können. Alle bieten noch andere Dienste an. Bei der Pro Senectute sind es unter anderem Hilfe im Haushalt, administrative Dienste, der Mahlzeitendienst und Information und Beratung. Auch Pro Infirmis und Procap haben je ein grosses Beratungsangebot. Diese Dienstleistungen werden sowieso weitergeführt. «Sie konnten auch während des Lockdowns aufrechterhalten werden», sagt etwa Thomas Diener


«Psychologen raten inzwischen dringend dazu, vulnerable Bevölkerungsgruppen vermehrt im Auge zu behalten.»
Thomas Diener
Pro Senectute St. Gallen


Mangel an Sozialkontakten führt zu Krankheit

Das Anliegen, auch die Freizeitangebote trotz Covid weiterlaufen zu lassen,wird für die drei Sozialorganisationen von der Wissenschaft untermauert.«Psychologen raten inzwischen dringend dazu, vulnerable Bevölkerungsgruppen vermehrt im Auge zu behalten. Dazu zählen insbesondere Menschen höheren Alters», sagt Diener.

Vom Sars-Ausbruch 2003 ist bekannt, dass die Suizidalität unter Seniorinnen und Senioren während der Epidemie zunahm. Soziale Kontakte gelten als Bollwerk gegen Schwermut und andere emotionale Störungen.Heute wird vermutet, dass sie auch vor Demenz schützen.

Therese Wenger: «Somit ist es unverzichtbar, dass Aussenkontakte unserer Kundinnen und Kunden möglich bleiben. Die gesundheitlichen Folgen für Menschen mit Behinderung und die ältere Bevölkerung wären sonst schlicht zu gross.»

Schutzmassnahmen und Schutz des Gesundheitswesens

Für die drei Organisationen ist es selbstverständlich, dass sie bei der Durchführung ihrer Freizeitangebote alle Schutzmassnahmen einhalten. «Wir haben seit dem Sommer bei allen Dienstleistungen Schutzkonzepte eingeführt und eingeübt», sagt etwa Thomas Diener. Kurse in Innenräumen finden bei allen Organisationen mit Maske statt, ausgenommen davon sind Bewegungsangebote ingrossen Hallen. Weitere Freizeitangebote versuchen die Organisationen wenn immer möglich ins Freie zu verlegen.

«Wir sind uns unserer Verantwortung sehr bewusst. Mit den Schutzmassnahmen verfolgen wir selbstverständlich auch das Ziel, das Gesundheitswesen auf keinen Fall zu belasten», sagt Therese Wenger. Zusätzlichen Publikumsverkehr verursachten ihre Freizeitangebote nicht, betonen die Organisationen: «Wir wissen, dass unsere Kundinnen und Kunden den Kursbesuch meist mit weiteren Besorgungen verbinden», so Thomas Diener.

Unterstützung durch die Regierung

In ihrer Position sehen sich die drei Sozialorganisationen auch im Einklang mit der St.Galler Regierung, die ebenfalls den Kurs verfolgt, das öffentliche Leben nicht wieder ganz herunterzufahren. «Die Haltung insbesondere der Regierung freut uns», sagt Thomas Diener. Die Aktivitäten der berufstätigen Bevölkerung würden nicht hinterfragt.«Dasselbe muss für die Kontakte der älteren Bevölkerung und für die Personen gelten, die durch Behinderung in ihrer Mobilität ohnehin eingeschränkt sind.»