Einzigartigkeit durch Angebote für besondere Gäste

(Davoser Zeitung)

Barrierefreie Ferien auf einen Klick – Website «Access Unlimited» Bayos Klosters geht live

Einzigartigkeit durch Angebote für besondere Gäste

Das Thema «Barrierefreiheit» ist in der Destination nicht neu. Nun sind die Vorarbeiten abgeschlossen, und die Webseite von Davos Klosters Access Unlimited ist online. Darauf sind die barrierefreien Angebote kompakt auf einer Webseite organisiert und leicht zugänglich.Das Endziel ist, allen ein ungehindertes Ferienerlebnis zu ermöglichen.
pd/bg

Mobilitätseingeschränkte Gäste sowie ältere Menschen und Familien mit Kinderwagen haben spezifische Bedürfnisse an die touristische Servicekette.Sie möchten sich über barrierefreie Infrastrukturen und Angebote informieren,ohne Hindernisse anreisen und vor Ort ein vernetztes, barrierefreies Angebot vorfinden. Sichtbar machen und ausbauen möchte dies die Interessensgemeinschaft Davos Klosters Access Unlimited.Sie ist eine gemeinnützige Initiative unter dem Patronat von Pro Infirmis, der Region Prättigau/Davos sowie der Destination Davos Klosters.«Unser Ziel ist ein attraktives, durchgehend barrierefreies Angebot in der Destination Davos Klosters – von der Anreise, über die Unterkunft, die Erlebnisse,die Events, bis zur sicheren Heimreise»,sagt Markus Böni, Leiter Fachstelle Inklusion bei Pro Infirmis und selber im Rollstuhl.

Die Idee des One-Stop-Shop -alle Informationen auf einen Blick

In einem ersten Schritt wurde zuerst das bereits vorhandene Basisangebot erfasst.Das beinhaltet die Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehr wie auch das angebotsnahe Parkieren. Dann geht es um Unterkünfte,Restaurants,öffentliche WCs und andere Anlagen. Ein zentraler Punkt besteht darin, die Gäste bereits zu Hause abzuholen und sie im Thema Barrierefreiheit bei der Planung ihrer Ferien bis ins Hotelzimmer beziehungsweise in ihre Ferienwohnung zu begleiten und zu unterstützen. «Nicht zuletzt der demographische Wandel sorgt dafür, dass wir uns hier eine potentiell grosse zusätzliche Zielgruppe erschliessen», sagt Stefan Steiner, Leiter Regionalentwicklung der Region Prättigau/Davos auf Anfrage.Die Kapitel «Unterkunft und Gastronomie» beinhaltet Hotels, Ferienwohnungen und Restaurants, die auf ihre Hindernisfreiheit geprüft wurden. Grundlageda für ist eine von Pro Infirmis standardisierte, vorgegebene Beurteilung. Eine erfreulich hohe Zahl an Leistungsträgern hat sich für diese standardisierte Erfassung ihrer Angebote angemeldet und wurde von Testern besucht, die von Pro Infirmis ausgebildet wurden.

Barrierefreie Sommer- und Wintererlebnisse

Die schönsten barrierefreien Wanderrouten in der Destination Davos Klosters finden sich in diesem Kapitel. Dazu Zusatzinformationen, wo welche Hilfsmittel fürPersonen mit einer körperlichen Einschränkung zur Verfügung stehen (zum Beispiel Swiss Track, ein Zugfahrzeug für Rollstuhl). Auch bereits bestehende Angebote, die das Kriterium der Barrierefreiheit erfüllen, werden hier aufgelistet.In der Rubrik Winter wird das Skigebiet Madrisa vorgestellt. Neu geschaffene oder konzipierte Angebote runden dieses Kapitel ab. «Gerade sind wir dabei abzuklären, ob die Skischulen ihre Lehrer auf Langlauf-Schlitten weiterbilden wollen»,erzählt Steiner. «Das dazugehörige Material kann schnell besorgt werden.»

«Top 4- Die Pauschalangebote»

In dieser Rubrik werden den Gästen fixfertig geschnürte Angebotspakete vorgestellt. In einem ersten Schritt ein Wochenendund ein Wochenangebot für den Sommer und Winter. Die grösste Herausforderung für eine Person mit einer körperlichen Einschränkung sind die Reisevorbereitung und die Buchung von ganz unterschiedlichen Angebotselementen.Bei diesen Pauschalangeboten hat der Gast mit Davos Services einen Ansprechpartner, der sich um sämtliche Anliegen kümmert und die Reisevorbereitungen für die Person mit einem Handicap wesentlich erleichtert.

Laufender Ausbau der Freizeitangebote

In einem zweiten Schritt sollen auch die Freizeitangebote laufend ausgebaut werden. Dazu gehört die Anschaffung zum Beispiel eines geländegängigen Rollstuhls sowie die Schaffung eines Sledge-Hockey-Angebots, ein Novum in der Schweiz. Von Sponsoren schon zugesichert ist die Finanzierung einer MonoskiAusrüstung. Denn, ganz im Zeichen der Zeit, werden Ausrüstungsgegenstände eher vor Ort gemietet als kompliziert transportiert. Stimmt das restliche Angebot, steht dem sportlichen Plausch dann nichts mehr im Weg.

www.access-unlimited.ch


Pistenplausch mit dem Monoski.Bild: zVg

 

30. Oktober: Tag der betreuenden Angehörigen

(Pro-Infirmis)

Am kommenden 30. Oktober feiern wir den nationalen Tag der betreuenden Angehörigen. Dieses Jahr stand ganz im Zeichen der Covid-19-Pandemie, die unser Leben, unsere Gewohnheiten und unsere Beziehungen völlig auf den Kopf gestellt hat. Der Alltag von Menschen mit Behinderungen wurde noch stärker beeinträchtigt und ihre betreuenden Angehörigen, die auch sonst schon an vorderster Front stehen, mussten dringend neue Aufgaben übernehmen.

Um die Schliessung von Heimen, Schulen oder Betreuungsstrukturen oder den Ausfall von Assistenzpersonal zu überbrücken, mussten viele Eltern, Partnerinnen oder Partner auf ihre berufliche Tätigkeit verzichten. Glücklicherweise hat die Solidarität gut funktioniert und es wurden rasch zahlreiche Netze aufgebaut, um hilfsbedürftige Menschen und betreuende Angehörige sowohl materiell als auch psychosozial zu unterstützen.

Pro Infirmis hat dabei grosse Flexibilität und Reaktionsfähigkeit bewiesen. Die Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen hat ihre Angebote angepasst und dabei auf neue Kommunikationsmittel gesetzt, um ihren Klientinnen und Klienten auch in dieser Krisensituation zur Seite zu stehen. Zu den innovativen Massnahmen zählen etwa die telefonische Unterstützung und die Einrichtung einer Hotline für Klientinnen, Klienten und ihre betreuenden Angehörigen. Das Ziel dieser Hotline: beraten, Adressen von Freiwilligen vermitteln und über Hilfsangebote informieren, die Mobilisierung von lokalen Ressourcen unterstützen und eine Entlastung für betreuende Angehörige organisieren. Pro Infirmis hat aber auch direkt geholfen in Form von Lebensmittelgutscheinen, Unterstützung bei der Bezahlung der Miete, Mahlzeiten- und Transportdiensten sowie Begleitung bei Ausflügen, Einkäufen oder anderen Notwendigkeiten des Alltags.

Auf nationaler Ebene hat die IGAB (Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung), zu deren Gründungsmitgliedern Pro Infirmis gehört, den Bundesrat aufgefordert, rasch Massnahmen zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen in Covid-Zeiten zu beschliessen. Unter anderem sollte der Anspruch auf Corona-Erwerbsersatz auf die Eltern und andere Angehörige von Erwachsenen mit einer Behinderung ausgeweitet werden. Der grosse Einsatz der IGAB in diesem Bereich hat sich gelohnt: Am 21. September 2020 hat der Ständerat ein Postulat angenommen, das den Bundesrat auffordert, diese Frage zu prüfen. Eine weitere Forderung der IGAB – die Ausdehnung des IV-Assistenzbeitrags auf Familienangehörige, die während der Pandemie für nicht verfügbare Assistenzpersonen einspringen – wurde hingegen abgelehnt.

Der Bundesrat hat jedoch anerkannt, dass die betreuenden Angehörigen stärker unterstützt werden müssen. Eine erste legislative Etappe wurde vorgeschlagen und von beiden Kammern des Parlaments gutgeheissen. Im kommenden Jahr wird das Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung in zwei Etappen in Kraft gesetzt. Die Massnahmen betreffend kurzzeitigen Arbeitsabwesenheiten, Ausweitung des Anspruchs auf Betreuungsgutschriften der AHV und Anpassung von finanziellen Bestimmungen kommen ab dem 1. Januar 2021 zur Anwendung. Der Betreuungsurlaub für Eltern eines schwer kranken oder verunfallten Kindes wird am 1. Juli 2021 in Kraft gesetzt.

Dieses neue Bundesgesetz ist ermutigend, aber es ist nur der erste Schritt auf einem noch langen, aber zwingend notwendigen Weg. Das kommende Jahr wird zweifellos weiterhin vom Covid-19 beeinflusst sein und wir müssen unsere Koordinationsbemühungen weiter stärken, um die Angehörigen noch wirksamer zu unterstützen.

Holen wir an diesem 30. Oktober also tief Atem und danken wir allen betreuenden Angehörigen, denn dies ist ihr Tag! In den Kantonen führt Pro Infirmis, oft in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, verschiedene Aktivitäten und Aktionen durch. Weitere Informationen dazu sind auf unserer Homepage und unseren kantonalen Seiten zu finden.

Kontakt für weitere Informationen

Benoît Rey, Leiter des Bereichs Dienstleistungen Romandie und Tessin
benoit.rey@proinfirmis.ch
058 775 30 88

Leute starren oder rufen die Polizei

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Sie können keine Maske tragen Die Corona-Lage ist kritisch, die Regeln sind verschärft.Aber Menschen, denen die Befreiung von der Maskenpflicht attestiert wurde, fühlen sich nicht frei.


«Ohne Maske wirst du in der Öffentlichkeit als Gefahr betrachtet»: Manuela Meier fürchtet sich nicht vor Covid-19.Fotos: Privatarchiv

 

Alexandra Kedves
Die allgemeine Maskenpflicht: Die einen lässt sie buchstäblich aufatmen, denn angesichts der steigenden Infektionszahlen und Hospitalisationen haben sie sich schon lange einen solchen Schritt gewünscht. Andere lässt sie aufschreien.

Aber für die, welche aus medizinischen Gründen keine Maske tragen können – selbst wenn sie die Schutzmasken an und für sich befürworten würden -, ist die Situation kompliziert. Wo immer sie sich bewegen im öffentlichen (Innen-)Raum,folgen ihnen schräge Blicke,freundlich gemeinte Masken-Angebote oder weniger freundliche Bemerkungen. Wir haben mit Betroffenen gesprochen.

Die Mitfühlende:Gabriele S., 72

Vor 20 Jahren verlor sie den Gebrauch ihrer rechten Hand bei einem Arbeitsunfall als Krankenschwester. Es folgte eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus,die nicht ausheilte und bei ihr mit einem ausgeprägten Erschöpfungssyndrom -der chronischen immun-neurologischen ME/CFS-Erkrankung -einhergeht. Alles keine gute Ausgangslage in einer Pandemie, die besonders ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen betrifft.

So hat Gabriele S. es zu Beginn zweimal mit einer Maske probiert. Atemnot und eine langanhaltende allergische Hautreaktion stellten sich ein, der Hausarzt stellte ihr das Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht aus. Doch die Durchsagen im Zürcher Tram, die recht energisch zum Maskentragen aufforderten, hätten sie ziemlich belastet und in den Wagen Spannung erzeugt, erzählt Gabriele S.

«Leute starrten zu mir hin;Kinder wurden eilig weggezerrt.Einmal schriee in Passagier wegen mir . Das war nicht schön.» Sie sei froh,dass sich das mit den Durchsagen geändert habe, die Spannung im ÖV habe merklich nachgelassen. Und die Seniorin hat kein Problem damit, das Attest vorzuweisen – wenn man sie anständig darum bittet.

Sie kennt jedoch ältere Menschen, die, trotz Attest, im Ladenoder ÖV lieber kurz die Maske aufsetzen, statt sich rechtfertigen zu müssen. Und manche blieben lieber ganz daheim. «Das tut mir richtig weh für sie. Viren wird es immer geben, und unser Leben ist endlich. Mich bekümmert es,wenn man den Menschen so Angst macht. Für das Immunsystem – auf das viel mehr fokussiert werden sollte – sind Mut und Lebensfreude gesünder.» Alle, die eine Maske tragen müssen, hätten ihr Mitgefühl.

Die Verweigerin:Barbara Müller, 57

Die Thurgauer SP-Kantonsrätinhat im Frühling kurz versucht,eine Maske zu tragen. Doch ihrwurde schwindlig: Es seien die Spätfolgen ihrer zentralen Lungenembolie von 2007, die ihr zu schaffen machten, berichtet sie. Herz und Lunge seien angeschlagen: «Es kann passieren,dass ich kurz das Bewusstsein verliere oder, schlimmstenfalls, kollabiere.»

Auch psychisch seien Masken für Leute mit Erstickungserfahrung schwer erträglich. Zudem schränke die Maske ihre ohnehin schwache Sehfähigkeit weiter ein; die von einer Erbkrankheit versehrten Augen beginnen zu tränen. Die promovierte Geologin hat ein Attest, das sie vonder Maskenpflicht befreit. Trotzdem kam es im ÖV – den sie täglich nutzt – zu Auseinandersetzungen samt juristischem und auch medialem Nachspiel. Nicht nur seien einige Mitreisende unfreundlich, gar tätlich geworden.Sondern die Zugbegleiter hätten seinerzeit geglaubt, auf dem Vorweisen des Attests bestehen zukönnen. «Irrtümlicherweise, wiedie SBB inzwischen eingeräumt haben», hält Barbara Müller fest,die sich hartnäckig weigerte, das Papier zu zeigen.

Aber wieso das Attest verstecken? Für Barbara Müller handelt es sich da um eine grundsätzliche Frage: Die Covid-Verordnung gebe den SBB nun mal nicht das Recht, solche vertraulichen Daten einzusehen.Ausserdem bestehe ein Missbrauchsrisiko. «Selbst wenn die Diagnose nicht festgehalten ist,so stehen doch der Arzt drauf und sein Fachgebiet.» Der Arzt könnte belästigt, der Attestinhaber diskriminiert werden – ein Zusatzstress für ohnehin eingeschränkte Menschen.

Dass Jugendliche in Clubs ihre Identitätskarte präsentieren müssen oder Behinderte, die beispielsweise einen vergünstigten Eintritt ins Museum wünschen,ihren IV-Ausweis: Das ist für die Kantonsrätin etwas anderes.Nämlich klar «gesetzlich gere-gelt». Es würden auch keine konkreten Krankheiten offengelegt.Und wer den IV-Ausweis nicht vorlegen wolle, könne einfach auf die Vergünstigung verzichten.

Barbara Müller, die schon eine Menge bewegt hat in ihrem Leben, hat einen Vorschlag parat: Die SBB könnten «die Maskenbefreiung auf dem Swiss Pass einlesen. Dann würde jeder Zugbegleiter die Befreiung registrieren, ohne weitere Informationen zu bekommen. Oder der Bund könnte ein offizielles Formular für die Maskenbefreiung ausstellen, das man statt des Attestes beim Arzt erhält.Man hat im anfänglichen Chaos nicht überlegt, wie sensibel so ein Attest ist.» Ob die Masken als solche, gerade auch angesichts der oft falschen Handhabung,überhaupt Schutz bieten, ist für die Kantonsrätin nicht ausgemacht.

Die Furchtlose:Manuela Meier, 41

Die Musiklehrerin, die an diversen Primarschulen in Winterthur arbeitet, gehört zu jenen Menschen, die Mühe mit der Maske haben. Sie leidet an Morbus Menire, einer Krankheit, die schubweise auftritt und plötzlichen Drehschwindel auslöst,weshalb Meier schon schlimm gestürzt ist. Als im Juli die Maskenpflicht im ÖV und in Läden eingeführt wurde, genoss sie gerade eine lange symptomfreie Phase – bis sie einen ersten Versuch mit der Maske startete. Sofort überwältigte sie ein heftiger Schwindel.

Dieses Erlebnis triggerte Ängste, und bei Stress melden sich die Morbus-Menière-Symptome verstärkt: ein Teufelskreis.Manuela Meier vermutet, dassdie Rückatmung des Kohlendioxids für sie das Problem ist.Monatelang behalf sie sich mit Schummeln: Sie trägt die Maske stets über dem Mund, aber nicht über der Nase. Bis heute: Auch für Menschen mit Attest hält sie das für die beste Lösung, falls sie irgendwie realisierbar ist.

«Ohne Maske wirst du in der Öffentlichkeit als Gefahr betrachtet. Man wird zur Zielscheibe von Blicken und fühlt sich sehr unwohl – fast wie ein Schulkind, wenn es seine Hausaufgaben nicht gemacht hat und Bestrafung droht. Es ist seltsam: Wann haben sich alle in Polizisten und Lehrer verwandelt?»

Die Maske nicht ganz ordnungsgemäss zu tragen, habe sie dagegen meist vor direkten verbalen Angriffen geschützt. Allerdings nicht im Eingangsbereich ihres Zürcher Lieblingshallenbads, wo sie bereits zweimal zurechtgewiesen wurde. «Das ist beinahe wieder lustig: Im Wasser muss man ja keine Maske tragen, obwohl sich über den schweratmenden Schwimmern die Aerosole sammeln und man manchmal recht dicht aufeinander schwimmt.»

Um sich selbst macht sich Manuela Meier keine Sorgen. Als sportliche Lehrerin von Primarschulkindern sei sie seit Jahren ständig mit allen möglichen Viren konfrontiert und dadurch abgehärtet. Und die Mortalitätsrate der Covid-19-Erkrankung erschrecke sie nicht; manche Infektion, die sie früher durchgestanden habe, sei sicher gefährlicher gewesen. Zudem achte sie sehr darauf, keine Risikopersonen zu gefährden und Abstände einzuhalten.

«Als Lehrerin müsste man sich prinzipiell immer von allen anderen Erwachsenen wegsperren – wenn man die Risikolage in diesem Sinn zu Ende denkt.»Die einzige wirkliche Furcht der engagierten Musiklehrerin ist,dass man ihr die geliebte Arbeit nehmen könnte – falls die Maskenpflicht auch für PrimarschulLehrpersonen ausnahmslos und strikt zur Anwendung käme. Das wäre für sie psychisch und finanziell ein Schlag.


Barbara Müller, SP-Kantonsrätinim Thurgau, zeigt Zugbegleitern das Attest lieber nich

 

Inclusion Handicap:Anfragen zuhauf

Marc Moser,Kommunikations-verantwortlicher von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen,bestätigt, dass sich die Situation verschärft hat. Ihre Rechtsberatung erhalte mehr Anfragen. In manchen Fällen sei Menschen ohne Maske trotz Attest der Zutritt zu Läden oder Bildungseinrichtungen verwehrt worden.

Zu den Gründen für eine Maskenbefreiung zählen motorische Probleme, die das An- und Ausziehen der Maske verunmöglichen, Lungenkrankheiten, Autismus. Betroffene seien so verunsichert, dass sie sich trotz Attest nicht mehr in den ÖV wagten.

«Was wir mit Sorge beobachten,sind Atteste, die aus Gefälligkeit oder ideologischen Gründen ausgestellt werden», sagt Moser.«Sie werfen ein schlechtes Licht auf alle Attestinhaber. Das dient denen, die tatsächlich keine Maske tragen können, nicht.»(ked)

Einseitige IV-Ärzte dürfen weiter abkassieren

(SonntagsBlick)

Der Bund gelobt Besserung im umstrittenen IV-Gutachterwesen. Von einschneidenden Massnahmen aber sehen die Verantwortlichen ab.
THOMAS SCHLITTLER

 

Vor rund einem Jahr zeigte SonntagsBlick in einer Artikelserie auf, dass die Invalidenversicherung (IV) seit einigen Jahren alles daransetzt, möglichst wenige Renten auszahlen zu müssen.

Die Recherchen belegten unter anderem, dass Ärzte, die Versicherten selten bis nie eine Arbeitsunfähigkeit attestieren, von der IV besonders viele Aufträge erhalten – und für ihre Gutachten Millionen kassieren.

Ende 2019 reagierte Sozial-minister Alain Berset (48) auf die lauter werdende Kritik.

Er gabeine interne und eine externe Untersuchung in Auftrag. Beide sollten Strukturen und Praktiken der IV analysieren.

Diese Woche präsentierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Ergebnisse – und gestand erstmals ein, dass nicht alles optimal gelaufen sei. Man will die Aufsicht und Qualität der medizinischen Begutachtung in der IV anpassen. Konkret sollen Zielvereinbarungen mit den IV-Stellen überarbeitet, die Perspektive der Versicherten einbezogen,Probegutachten verlangt und Rückmeldungen an die Gutachter verbessert werden.

Ärzte, Psychiater und Behindertenorganisationen begrüssen diese Änderungen, bemängeln aber,dass nicht mehr getan wird, um einseitige Gutachter aus dem Verkehr zu ziehen.«Die schwarzen Schafe unter den IV-Ärzten dürfen nach wie vor medizinische Begutachtungen durchführen,Menschen innerhalb von 20 Minuten für gesund erklären und damit viel Geld verdienen», sagt Alex Fischer von der Behindertenorganisation Procap. Auch den Miss-stand, dass zehn Prozent der Gutachter drei Viertel aller Gutachten ausstellen, gehe der Bund nicht an.«Das BSV sträubt sich dagegen, monodisziplinäre Gutachten nach dem Zufallsprinzip zu vergeben»,so Fischer. Das sei nicht nachvollziehbar. Dadurch werde das Geschäftsmodell einseitiger IV-Ärzte am Leben erhalten.

Das BSV wehrt sich. «Bevor allenfalls ein neues Vergabesystem eingeführt wird, sollen die nun empfohlenen Massnahmen erst einmal umgesetzt und evaluiert werden», sagt Sprecher Rolf Camenzind. Sollten die erhofften Verbesserungen nicht eintreten,sei jedoch selbstverständlich ein Systemwechsel in Betracht zu ziehen. «Darum wird das BSV zusammen mit den kantonalen IV-Stellen bereits konkret prüfen, wie eine Zufallsvergabe bei den monodisziplinären Gutachten realisiert werden könnte.»

Dass der Bund schwarze Schafe gewähren lasse, bestreitet Camenzind. «Gutachterinnen und Gutachter, welche die fachlichen Anforderungen nicht erfüllen, werden von den IV-Stellen bereitsheute nicht – beziehungsweise nicht mehr – für weitere Gutachten beigezogen.» Wie viele es sind, sagt Camenzind nicht. «Dazu liegen dem BSV keine Zahlen vor.»

Klar ist: Das BSV und die kantonalen IV-Stellen definieren «schwarze Schafe» anders als viele Ärzte, Psychiater und Behindertenorganisationen.

 

Bestes Beispiel dafür sind Dr.K*.und Dr. L.* aus Bern sowie Dr. G.* aus Basel, über welche SonntagsBlick im November 2019 ausführlich berichtete. Die drei sind bekannt dafür, dass sie selten bis nie eine Arbeitsunfähigkeit feststellen -und genau das scheint sie bei den kantonalen IV Stellen besonders beliebt zu machen.

Dr. K. verdiente zwischen 2012 und 2018 1,9 Millionen Franken mit IV-Gutachen, Dr. G. ebenfalls 1,9 Millionen, Dr. L. sogar 3,1 Millionen Franken.

Neue Zahlen, die SonntagsBlick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat, zeigen: Auch 2019 machte das umstrittene Trio kräftig Kasse mit IV-Gutachten.Bei Dr. G. kamen 132 000 Franken hinzu, bei Dr. L. 217 000 Franken. Dr. K. kassierte von der IV gar 402 000 Franken für seine psychiatrischen Gutachten.

Ihr Ruf hat sich nicht gebessert.Dennoch sieht das BSV keinen Handlungsbedarf.Camenzind:«Das BSV hat keine stichhaltigen Anhaltspunkte gefunden, die eine Intervention bei den aufgeführten Gutachtern hinsichtlich der Verlässlichkeit ihrer Gutachten als angezeigt erscheinen lassen.» Die aufgeführten Gutachter könnten deshalb nach wie vor für Gutachten der IV beauftragt werden.

«Offensichtlich nehmen die betroffenen Versicherten und die Gerichte die Qualität und Verlässlichkeit von Gutachten einzelner Gutachter sehr unterschiedlich wahr», so Camenzind weiter.

Thomas Ihde (51), Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler FMI, sieht das Problem an einem anderenOrt: «DerBund will nicht zugeben,dass wir ein massives Problem im IV-Gutachterwesen haben.Stattdessen wird versucht, die Gemüter mit ein paar kleinen Anpassungen zuberuhigen.»


Sozialminister Alain Berset: Werden seine Massnahmen wirken?

 

Ihde fordert ein radikales Umdenken: «Wir sollten uns überlegen, den Versorgungsauftrag der öffentlichen Spitäler auf die medizinische Begutachtung von Versicherten auszuweiten.» Weiter spricht sich Ihde dafür aus, dass Versicherte, die in den vergangenen Jahren Opfer eines unprofessionellen IV-Gutachters geworden sind, erneut beurteilt werden.

Das ist auch eine zentrale Forderung von Petra Hartmann, Präsidentin des Vereins Vergissmeinnicht. Der Verein hat eine Online-Petition lanciert, mit der die Situation von IV Opfern verbessert werden soll. Für Hartmann steht fest:«Die angekündigten Massnahmen des Bundes sind nur Kosmetik!»

*Name der Redaktion bekannt

Bundesamt strebt Verbesserungen bei den IV-Gutachten an

(Tages-Anzeiger)

Das Bundesamt für Sozialversicherungen(BSV) schaut den IV-Stellen beiden medizinischen Gutachten besser auf die Finger. Es reagiert damit auf Kritik, die IV-Stellen stünden unter Druck, möglichst wenig neue Renten zu sprechen.

Grundsätzliche Änderungen seien nicht nötig, schreibt das BSV, gezielte Verbesserungen seien indessen möglich. In Zentrum stehen dabei die Zielvereinbarungen mit den IV-Stellen.Diese fokussieren gemäss BSV auf quantitative Aspekte etwa bei den Neurenten oder der Rentenentwicklung.

In Zukunft will das BSV die Zielvereinbarungen vermehrt auf die Qualität ausrichten und etwa die versicherungsmedizinischen Abklärungen und die Leistung der IV-Stellen in den Augen ihrer Versicherten berücksichtigen.

Auch die Indikatoren für die Entwicklung der Invalidenversicherung will das BSV anpassen. So liessen die bestehenden Indikatoren keine präzisen Aussagen über die Wirksamkeit von Eingliederungsmassnahmen oder die Dauer eines IV-Verfahrens zu.

Reklamationen der Versicherten sind demnach auch nicht erfasst. Die Klientenperspektive will das BSV künftig regelmässig in Befragungen erheben. Zudem analysiert es die Auswirkungen der Rechtsprechung auf den Vollzug bei den IV-Stellen systematischer.

Der Anspruch auf Leistungender IV wird meistens mittels medizinischer Gutachten abgeklärt.

Das Gutachtersystem und die Vergabe der Aufträge liess das BSV im Frühjahr auf Geheiss von Gesundheitsminister Alain Berset durch die Universität Bern untersuchen.

Einseitige Auftragsvergabe

Dabei deckten sich mehrere Empfehlungen der externen Experten mit Massnahmen, die das Parlament bereits beschlossen hat. So müssen ab 2022 Gutachtergespräche aufgezeichnet werden. Auch soll eine unabhängige Kommission die Vergabe von Gutachtermandaten begleiten.

Um die Vergabe sogenannter monodisziplinärer medizinischer Gutachten zu verbessern, prüft das BSV zusammen mit den IV-Stellen die Einführung des Zufallsprinzips. Aktuell vergeben die Stellen solche Aufträge freihändig.

Dabei zeigte sich 2018, dass zehn Prozent der Gutachter fast drei Viertel der Aufträge erhielten. Damit drängte sich der Verdacht auf, die IV-Stellen bevorzugten Gutachter, welche in ihrem Sinne und damit restriktiv entscheiden. Bei den polymedizinischen Gutachten gibt es gemäss BSV das Zufallsprinzip bereits, bei den bidisziplinären ist das ab 2022 der Fall.

Weiter müssen die IV-Stellen künftig Probegutachten einfordern und die Rückmeldung an Gutachter verbessern, in dem sie diese regelmässig über Gerichtsurteile informieren. Zudem überprüft das BSV die Vergabepraxis vierteljährlich. (sda)

Coop stand diese Woche in den sozialen Medien

(SonntagsZeitung)


Verpackt durch Menschen mit Behinderung

 

Coop stand diese Woche in den sozialen Medien wegen der Verpackung eines Fleischhakens am Pranger. Auf Empörung stiess der Verpackungshinweis «Verpackt durch Menschen mit Behinderung».

Menschen mit Behinderung kritisierten dann auf Onlineplattformen: «Welcher Sturm der Entrüstung würde wohl durchs Land wehen, wenn es heissen würde: .» Auf Twitter schrieb eine Nutzerin: «Typischer Fall von .» Das sieht nun auch der Detailhändler Coop so, der zuerst tagelang geschwiegen hat Eine Sprecherin sagt: «Wir haben veranlasst, dass der Text bei kommenden Chargen angepasst wird.» Wie dieser neu lautet, werde gegenwärtig unter Einbezug der Stiftung Brändi in Sursee LU besprochen. Bei dieser lässt Coop das ganze Sortiment an Schrauben, Nägeln und ähnlichen Produkten abpacken.

Vernehmlassung Vorentwurf der Teilrevision des Gesetzes über die Rechte und die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen (GRENB)

(Bulletin off.du canton du Valais /Amtsblatt Wallis)

Das Departement für Gesundheit, Soziales und Kultur (DGSK) gibt einen Vorentwurf zur Teilrevision des aus dem Jahre 1991 stammenden Gesetzes über die Eingliederung von behinderten Menschen in die Vernehmlassung. Diese Anpassung des Gesetzes ist notwendig, um den Anforderungen des Ubereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UNO-BRK) gerecht zu werden.

 

Die Schweiz hat sich verpflichtet, die durch die Vereinten Nationen gewâhrleisteten Rechte fur Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK) zu garantieren und die entsprechenden Verpflichtungen zu erftillen. Auch die Kantone sind damit im Rahmen ihrer Zustindigkeit zur Umsetzung der UNO-BRK verpflichtet. Daher ist eine Teilrevision des kantonalen Gesetzes über die Eingliederung behinderter Menschen von 1991 notwendig.

Die wichtigsten Anderungen des Vorentwurfs,erstellt durch das Departement für Gesundheit, Soziales und Kultur (DGSK), betreffen folgende Elemente:

  • Anpassung des Gesetzestitels;
  • Anpassung des Zweckartikels unter Einbezug der Rechte von Menschen mit Behinderungen;
  • Hinzufiigen eines neuen Kapitels 5A über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie Bestimmungen zu deren Um- und Durchsetzung. Im Zentrum stehen das Benachteiligungsverbot, Förderungsmassnahmen, sowie allgemeine Anforderungen an Zugânglichkeit und Kommunikation;
  • Anderungen an der Organisationsstruktur im Kapitel 6 mit Schaffung einer Anlaufstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Neuregelung der Verantwortlichkeiten sowie des Verfahrens zur Koordination, Planung und Uberwachung der Umsetzung der behindertenrechtlichen Gesetzgebung;
  • Anpassung der Terminologie «Menschen mit Behinderungen».

Der Staatsrat hat den Vorentwurf ohne Stellungnahme zur Kenntnis genommen und das DGSK ermâchtigt, ein Vemehrnlassungsverfahren durchzuführen.

Die Vemehmlassungsdokumente sowie ein Formular zur Erleichterung der Stellungnahmen sind auf der Intemetseite des Kantons Wallis verfügbar unter https://www.vs.ch/de/web/che/laufende-kantonale-vernehmlassungen oder bei der Dienststelle Sozialwesen unter sas@admin.vs.ch erhilltlich.

Die Frist fur die Stellungnahmen lâuft bis zum 28. Oktober 2020.

«Ein konsequentes Aussortiertwerden»

(Der Bund)

Leben mit einer Behinderung

Christoph Keller spricht schonungslos offen über seinen Alltag im Rollstuhl.
Und der Schweizer Autor erklärt, was Behinderte mit Superhelden zu tun haben.


,,Schweizergehen oft tollpatschig mit Behinderten um“, sagt Christoph Keller über sein Leben mit einer körperlichen Behinderung.
Foto: Gien Ehrenzeller (Keystone)

 

Denise Jeitziner

In Ihrem neuen Buch «Jeder Krüppel ein Superheld» beschreiben Sie Ihren Alltag mit Passagen wie «zum Duschenund Kacken benutze ich einen Toilettenstuhl aus Polyurethan». Ist Provokation nötig, um Aufmerksamkeit zu erhalten?

Ja. Ich habe lange in den USA gelebt und hier in der Schweiz gemerkt, dass wir viel zu wenig über diese Dinge und die massive Diskriminierung sprechen. Und das, obwohl 20 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer mit einer Behinderung leben.

Wenn selbst Randgruppen wie Transgender viel Aufmerksamkeit für ihre Anliegen bekommen: Warum klappt das bei der grossen Masse von Menschen mit einer Behinderung nicht?

Wir Menschen mit einer Behinderung sind so etwas wie das Memento mori, ein Zeichen für die menschliche Gebrechlichkeit und Sterblichkeit. Darum verschliessen wir lieber die Augen vor allem, was damit zu tun hat. In den USA gab es bis vor wenigen Jahrzehnten in manchen Gliedstaaten noch das «Ugly Law», das Behinderten verbot,sich auf der Strasse zu zeigen.Aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. Unsere Behinderung kann uns zwar niemand nehmen, wir können jedoch dafür kämpfen, dass Hindernisse abgebaut werden. Damit wäre übrigens allen geholfen. Es kann ja auch jeden jederzeit treffen,durch einen Unfall, eine Krankheit oder im Alter.

Sie vergleichen Krüppel mit Superhelden.Wie kommen Sie darauf?

Wenn man ein richtiger Krüppelist, muss man auch ein richtiger Superheld sein, sonst schafft manes kaum durch den Tag. Und schauen Sie sich einmal an, wie viele Comic-Superhelden eine Behinderung haben. Daredevil,Hawkeye oder Dr. Mid-Nite sind blind, Captain Marvel Jr. ist Paraplegiker, Iron Man hat einen Herzfehler. Aus diesen Defiziten ist eine Superkraft geworden. Das klingt klischeehaft, aber ich glaube wirklich, dass Schicksalsschläge einen stark machen können.

Bei den Superhelden nimmt man diese Defizite aber nicht wahr. Ist dies das Ziel?

Nein, genau das Gegenteil. Es geht um die Sichtbarkeit. Es gibt Leute, die mir sagen: Ich sehe gar nicht, dass du im Rollstuhl bist.Und ich denke: Hast du Tomaten auf den Augen? Ich finde, man soll darüber reden. Natürlich nicht ständig. Aber die Behinderungen sind nun mal da, es sind kleinere und grössere Unterbrüche im Alltag, und das nonstop.Das ist für mich wie eine Metapher für das ganze Leben.

Sie beschreiben im Buch haarsträubende Situationen aus New York. Ein Mann, der Ihnen «Krüppel» nachbrüllt, ein Kinoangestellter, der die Polizei rufen will, weil Sie sich im leeren Saal nicht auf den miserablen Rollstuhlplatz stellen möchten. Restaurantgäste, die Sie einzeln bitten müssen,beiseitezurücken. Passiert so etwas auch in der Schweiz?

Die Situation im Restaurant ist mir hier auch mehrfach passiert.Die Leute schauen mich an, wie ich den ersten Gast am Tisch frage, ob er mir bitte Platz machen könnte. Dem nächsten Gast kommt aber nicht in den Sinn, dass er auch Platz machen könnte. Ich muss ihn also separat bitten. Und den übernächsten auch. Was mir auch auffällt: Schweizer gehen oft tollpatschig mit Behinderten um. Wenn ich zum Beispiel ein Konzert besuchen möchte, muss ich immer zuerst nachfragen, ob es eine Rampe hat, wie viele Stufen da sind und so weiter. Da bekomme ich Antworten wie: Wir hatten auch schon solche wie Sie hier. Das bringt mein Blut in Wallung, denn das heisst ja noch nicht,dass ich tatsächlich reinkomme.Daher verlange ich meistens Fotos der Situation,was in der Regel nicht gut ankommt. Für diese Leute bin immer ich das Problem, nicht sie beziehungsweise das Gebäude.

Was löst das bei Ihnen aus?

Das kommt auf die Stimmung an. Wenn ich militant gestimmt bin, schreibe ich einen Artikel darüber, manchmal will ich jedoch einfach nur ein Konzert geniessen und kein Aktivist sein. Durch das Buch habe ich nun aber solche Erlebnisse verarbeitet. Zum Beispiel, wie erniedrigend das Fliegen für mich ist. Ich darf nicht mit meinem eigenen Rollstuhl ins Flugzeug, sondern werde auf ein klappriges Teil gehievt und an meinen Platz gebracht, wo ich dann bis zum Ende des Fluges ausharren muss,inklusive Blasenkontrolle. Wenn Nichtbehinderte das hören, sagen sie, oh, hoppla, scheisse. Ich hoffe, dass die Leser sich Gedanken machen und sich vielleicht etwas ändert.

Glauben Sie, dass die richtigen Leute das Buch lesen oder nur jene, die sowieso schon sensibilisiert sind?

Ich wage zu behaupten, dass dieses Buch querbeet gelesen wird.

Was ist mit den Kampagnen wie der neuen von Pro Infirmis?
Können diese tatsächlich nachhaltig für die Anliegen von Menschen mit Behinderung sensibilisieren?

Ich weiss es nicht. Ich melde mich ja auch seit 25 Jahren immer wieder zu Wort und frage mich, ob das etwas bringt. Oder dass Sie nun einen Artikel darüber schreiben und dann erst im nächsten Jahr wieder einen, weil das Behindertenthema nun ja abgehandelt worden ist. Aber ich denke schon, dass mit jeder Kampagne und jedem Artikel etwas erreicht wird.

Machen es die jungen Menschen besser, die nun vermehrt ihre körperlichen oder geistigen Behinderungen wie eine Beinprothese oder Trisomie 21 auf Instagram zelebrieren?

Social Media funktionieren jaüber Neid. Man muss sich also als Behinderter so präsentieren,dass alle neidisch werden und auch behindert sein wollen. Nein,im Ernst. Mich freut es, dass da scheinbar eine neue Generation heranwächst, die sagt: Jetzt ist Schluss mit Verstecken, jetzt zeige ich, wer ich bin. Die auch ein tolles Foto von sich vor einem Daiquiri mit Cocktail-Schirmchen posten und damit angeben.Warum denn nicht?

Was ist mit Mode firmen,die behinderte Models über den Laufsteg schicken?
Ist das nicht heuchlerisch?

Wenn man das nur als einmalige Aktion für die eigene Publicity tut, finde ich das nicht nur heuchlerisch, sondern zynisch. Wenn die Firmen es wirklich ernst nehmen, müssten sie es durchziehen und den Behinderten einen Vertrag geben. So wie bei Peter Dinklage von «Game of Thrones». Der ist ein Spitzenschauspieler und halt kleinwüchsig. Allein durch seine Präsenz hat er das Anderssein normalisiert und Türen geöffnet.

Was sind für Sie die grössten Hürden, abgesehen von Bordsteinen, Stufen oder Schlaglöchern?

Es ist die strukturelle Diskriminierung, die viel tiefer geht. Wir haben in der Schweiz zwar für alles irgendwo eine Stelle, aber wir sind allgemein nicht wirklich integriert. Menschen mit Behinderungen kommen nicht wirklich an den Futtertrog, selbst Behindertenorganisationen oder die IV werden mehrheitlich von Nichtbehinderten geführt. Im Literaturbetrieb ist das nicht anders. Es gibt kaum erfolgreich eAutorinnen und Autoren mit Behinderung. Ich habe dieses Jahrden alemannischen Literaturpreis bekommen, aber das isteine grosse Ausnahme.

Wieso denn? Warum ist es für Sie im Rollstuhl schwieriger alsfür einen Autor, der auf einem gewöhnlichen Stuhl sitzt?

Wegen der eingeschränkten Mobilität. Ich kann nicht ständig überall präsent sein, weil ich nicht zu Literaturveranstaltungen eingeladen werde, wenn der Ort nicht barrierefrei ist. Wenn man nicht eingeladen wird, ist man nicht dabei, kommt nichtins nächste Gremium, wird nicht für den nächsten Preis berücksichtigt. Es ist ein konsequentes Aussortiertwerden. Niemandkann etwas dafür. Und gleichzeitig kann jeder etwas dafür.

Christoph Keller
Der 57-Jährige wurde in St. Gallen geboren und ist Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays. Zuletzt ist im Limmat-Verlag sein lesenswertes Buch «Jeder Krüppel ein Superheld» erschienen. Keller hat seit seiner Kindheit spinale Muskelatrophie, eine unheilbare, progressive neuromuskuläre Erkrankung.

Kinderfoto-Challenge

Wenn Erwachsene sich freiwillig in regenbogenfarbene Schwimmflügel zwängen oder in einen selbst gestrickten Pullover im Siebziger-jahre-Chic und seltsam posieren,dann kann es sich fast nur um eines handeln: um die Kinderfoto-Challenge – eine der populärsten in den sozialen Medien. Nun hat die Pro-Infirmis das Internet-Phänomen auf ihre neuste nationale Plakatkampagne geholt. Mit der Besonderheit, dass auf den köstlichen Vorher-nachher-Fotos ausschliesslich Menschen mit einer Behinderung zu sehen sind. Bei Instagram und Facebook läuft parallel dazu eine Solidaritätskampagne: Unter dem Hashtag #WieDuUndlch kann jeder eigene Challenge-Bilder von sich zeigen. Egal, ob mit Behinderung oder ohne.(red)


Kampagnen-Sujet: «Marcel, fotogen. Damals wie heute.» Foto: Pro Infirmis

 

Kritik an IV-Gutachten

(Walliser Bote)

Bern: Inclusion Handicap findet Abklärungen in vielen Fällen nicht fair

Willkürliche IV-Gutachten sind laut Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, gang und gäbe. In vielen Fällen seien die Abklärungen nicht fair. Fehlbare Gutachter gehörten aus dem Verkehr gezogen und alle Gutachten müssten nach dem Zufallsprinzip vergeben werden.

Bei der seit Ende Februar 2020 operativen Meldestelle von Inclusion Handicap sind bis Ende September insgesamt rund 300 Meldungen von Versicherten,Rechtsvertretern und Ärzten mit Beanstandungen eingegangen, wie der Dachverband der Behindertenorganisationen am Freitag mitteilte.

Die Eingaben zeichnen ein trübes Bild der Gutachtertätigkeit. Einige Gutachter wür dendie Arbeitsfähigkeit systematisch zu hoch einschätzen und dafür von den IV-Stellen immer wieder mit lukrativen Aufträgen belohnt, schreibt Inclusion Handicap in einer Mitteilung.Es seien 53 Meldungen eingegangen, wonach die Gutachter den jeweiligen Versicherten zu 100 Prozent arbeitsfähig einschätzten; die behandelten Anzte dagegen hätten in jedemdieser Fälle 0 Prozent attestiert.«Diese Fälle zeigen die klare Tendenz der harten Gangart in den Gutachten auf», schreibt Inclusion Handicap. Zuweilen reiche den Gutachtern ein Gespräch von 15 oder 20 Minuten,um über das Anrecht auf eine IV-Rente zu entscheiden, ohne Rücksicht auf die Schlüsse des Arztes.

Schlechtes Klima und Simulationsvorwürfe

20 Mal hätten Ärzte gemeldet,dass die Gutachten nicht dem medizinischen Standard entsprächen. Zudem berichte die überwiegende Mehrheit der Versicherten, dass die Diagnosen nicht oder nur teilweise übereinstimmten. Mehr als die Hälfte der Eingaben thematisiere das schlechte Klima, in dem die Gutachtergespräche stattgefunden hätten. Dabei habe es auch Simulationsvorwürfe gegeben.

Laut Inclusion Handicap hat sich insgesamt der Verdacht erhärtet, «dass einige Gutachter mit lukrativen Aufträgen belohnt werden, wenn sie die Arbeitsunfähigkeit tief einschätzen». Alle Gutachten müssten deshalb nach dem Zufallsprinzip vergeben und feh-bare Gutachter aus dem Verkehr gezogen werden, fordertder Dachverband.

Zudem müsse bei einem Gutachtergespräch immer eine Drittperson dabei sein. Und Fälle, bei denen Versicherte aufgrund von nachweislich schlechten Gutachten keine oder zu tiefe Leistungen erhalten haben,müssten neu aufgerollt werden,so Inclusion Handicap.

Warten auf externe Untersuchung

Erste Verbesserungen erhofft sich der Dachverband von der IV-Revision, die ab 2022 in Kraft treten soll. Diese sieht namentlich vor, dass Gutachtergespräche künftig aufgezeichnet werden müssen. Und Inclusion Handicap wartet gespannt auf die externe Untersuchung, die Gesundheitsminister Alain Berset in Auftrag gegeben hat.

Auch dieser will Klarhei tüber die Praxis bei der Erteilung der IV-Renten. Er hat Ende 2019 eine interne Untersuchung gegen die Aufsichtstätigkeit des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) und eine externe Analyse zur Gutachtertätigkeit der IV-Stellen veranlasst.sda


Willkür gang und gäbe. Die Beanstandungen zeichnen ein trübes Bild der Gutachtertätigkeit.SYMBOLFOTO KEYSTON

 

Anna, 56, dement

(Beobachter)

DEMENZ. Die Krankheit, die das Gedächtnis löscht, kann auch jüngere Menschen treffen die noch mitten im Arbeitsleben sind. Für sie gab es kaum Angebote – bis jetzt.

TEXT: MELANIE WIRZ 1 ILLUSTRATION: ANNE SEEGER

Plötzlich fehlten in ihrem Kopf die Zahlen. Und wenn sie doch da waren, ergaben sie keinen Sinn mehr. Anna Luzio* war Chemie-Ingenieurin, Rechnen ihr Beruf. Sie kalkulierte die Zusammensetzung chemischer Gemische. «Doch irgendwann hatte ich mein Gefühl für die Zahlen verloren. Ich konnte keinen Dreisatz mehr. Manchmal nicht mal mehr die Zeit ablesen», sagt sie. Sie fasst sich ans linke Handgelenk, wo sie früher immer eine Uhr trug, und erzählt von der Zeit, als siezu vergessen begann.

155 000 Menschen in der Schweiz leiden aneiner Form von Demenz. Betroffen sind vorallem ältere Menschen. Doch die Krankheit,die das Gedächtnis auslöscht, macht auch vorjüngeren nicht halt.

Anna Luzio war 56, als sie die Diagnose Alzheimer erhielt. Jungbetroffene, damit sind 45- bis 65-Jährige gemeint, machen 5 Prozent der Demenzerkrankten aus. So klein wie diese Zahl ist auch das Angebot. Schweizweit gab es bisher keine spezialisierten Wohnangebote.Einrichtungen, Therapien und Gesprächsgruppen sind vor allem auf betagte Personen ausgerichtet.

Ein Ort, der fehlt.

Dabei haben Menschen, die im Erwerbsalter an Demenz erkranken, andere Bedürfnisse als Pensionierte. Sie stehen an einem anderen Punkt im Leben, haben oft volle Terminkalender, Verpflichtungen, Beziehungen, vielleicht sogar Kinder – und sie haben inder Regel einen Job. Ältere hingegen erledigen viele Dinge nicht mehr selbst, wenn sie erkranken. «Das ist der grosse Unterschied, deshalb braucht es spezialisierte Angebote für Jüngere»,sagt Luzia Hafner. Sie ist Pflegefachfrau und Leiterin des Hofs Obergrüt in Ruswil LU, einemBetreuungsort für Demenzerkrankte.

«Unser allererster Gast vor 16 Jahren war ein 60-Jähriger», erinnert sie sich. «Wir waren oft mit Jungbetroffenen konfrontiert und stellten immer wieder fest: Es gibt keinen passenden Ort für sie.» Einen Ort, an dem sie sich aufgehoben und nicht fehl am Platz fühlen, wo es geschützte Arbeitsplätze gibt, ein angepasstes Umfeld. «Jüngere im Anfangs- und im mittleren Stadium der Krankheit gehören nicht in Betagten- und Behindertenheime.»

Explizites Angebot.

Den Hof Obergrüt, den Luzia Hafner führt, wird es in dieser Form bald nicht mehr geben. In einer Abstimmung im Juni ebnete die Gemeinde Rickenbach LU den Weg für das Pionierprojekt «Hof Rickenbach».Im ehemaligen Dominikanerinnenkloster soll ein Ort für junge Menschen mit Demenz entstehen. Das Projekt wurde mit 96,4 Prozent der Stimmen angenommen. «Ein unglaubliches Zeichen», sagt Luzia Hafner, die stellvertretende Leiterin des Projekts «Hof Rickenbach» ist. Anfang September konnte die Stiftung den Vertrag für den Klosterkauf unterzeichnen.

Am neuen Standort wird es ab nächstem Spätsommer neben Ferien- und Tagesplätzen für Demenzerkrankte ein explizites Angebot für Jungbetroffene geben. Eine Wohngruppe mit elf Plätzen, ausserdem sieben Zimmer für Langzeitpflegeplätze mit Betreuung, Pflege und Begleitung. «Wir werden mit unseren Gästen kochen, waschen, putzen. Sie können ihren Hobbys nachgehen, mit uns über ihre Ängste und Probleme sprechen. Wir wollen,dass ihr Leben weitergeht, ohne dass sie an Lebensqualität verlieren.»

In der Schweiz gab es bisher kein vergleichbares Projekt. Ein Grund: «Demenz war lange Zeit ein Tabuthema. Es brauchte viel Aufklärungsarbeit – von Fachpersonen, Angehörigen und Betroffenen», sagt Luzia Hafner. Das Bewusstsein dafür sei heute um Welten grösser. Nur dass Demenz auch Jüngere treffen könne, sei wenig bekannt.

Selbsthilfe.

Anna Luzio fand nach ihrer Diagnose keine passenden Angebote, «weil es so schien, als wäre es keine wichtige Sache. Plötzlich gehörte ich nirgends mehr dazu», sagt sie.Deshalb hatte sie sich entschlossen, selber eine Gruppe zu gründen. «Für mich war klar,dass ich mich vernetzen wollte. Ich dachte zuerst, ich wäre allein mit diesem Wunsch. Nun sind wir aber eine kleine Gruppe, die sich regelmässig trifft.» Seit Juli gibt es bei Selbsthilfe Zürich die Selbsthilfegruppe «Unter 65,kompetent trotz Demenz».

Ein weiterer Grund für das fehlende Bewusstsein sind Fehldiagnosen, sagt Irene Bopp-Kistler. Sie ist Leitende Ärztin der Memory Clinic Stadtspital Waid in Zürich, wo 500 Personen jährlich auf Demenz abgeklärt werden. Ein Fünftel davon sind junge Betroffene. «Bei ihnen wird besonders oft eine falsche Diagnose gestellt, weil die Symptome,etwa die Vergesslichkeit, falsch gedeutet werden», sagt sie. «Das kann zu einem Stellenverlust statt zu einer Krankschreibung führen.»Am häufigsten wird die Demenz mit einem Burn-out oder einer Depression verwechselt.

Demenz ist nicht heilbar. Der fortschreitende Verlust der Nervenzellen im Hirn lässt sich bis heute nicht aufhalten. Passende Therapien und Medikamente lindern die Symptome und sorgen dafür, dass Betroffene länger selbständig bleiben. Weshalb man an Alzheimer-Demenz erkrankt, weiss man nicht, sagt Irene Bopp-Kistler. «Bei Jungen ist die Erkrankung oft genetisch, also vererbt.»

Die Zahl jüngerer Demenzerkrankter wird zunehmen. Ein Grund dafür sind die Baby-boomer, die ins Alter kommen. «Aber auch,weil Betroffene schneller auffallen. In der digitalisierten Arbeitswelt mit ihrem zunehmenden Leistungsdruck gibt es keinen Platz mehr für Fehler», so Bopp-Kistler. Wichtig sei,dass Arbeitgeber vermehrt für die Problematik sensibilisiert und angepasste Arbeitsbedingungen geschaffen werden.

Die Kündigung.

Anna Luzio versuchte anfänglich ihre plötzlichen Schwächen bei der Arbeitzu vertuschen. «Wenn eine Kalkulation für eine chemische Mischung nötig war, fragte ich einen Kollegen, ob er übernehmen kann. Ich sagte, ich hätte gerade keine Zeit. Dabei wusste ich einfach nicht mehr, wie es geht.» Sie habe damals nie an Demenz gedacht. Der Job war intensiv, sie trug viel Verantwortung. «Ich schob meine Probleme auf den Leistungsdruck, meinte, ich hätte vielleicht ein Burn-out. Meine Ärztin war derselben Meinung.»

Doch Anna Luzio vergass immer mehr.Sie erhielt eine Abmahnung von ihrem Arbeitgeber. Ein Jahr später wurde ihr gekündigt.

Wann war das? Die 58-Jährige blickt über ihren schmalen Brillenrand und schaut ihre Schwester an. «Weisst du noch, wann das war?» Ihre Schwester nickt: «Vor zweieinhalb Jahren. Im Februar 2018.» Einen Tag später sass sie in der Praxis ihrer Ärztin und erhielt zuerst die falsche Diagnose MS, Multiple Sklerose. Erst genauere Untersuchungen und kognitive Tests brachten Klarheit. Die Ergebnisse zeigten: frühe Demenz. «Die Untersuchungen waren brutal», sagt sie. «Mir wurde vor Augen geführt, was ich alles nicht mehr wusste und nicht mehr konnte. Als ich das realisierte, tat es sehr weh.»

Verkürzte Lebenserwartung.

Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass sie nie mehr gesund wird.Dass Dinge vergessen gehen, Erinnerungen verschwinden werden. Die Diagnose machte klar, wie ihr weiteres Leben verlaufen wird.Denn die Krankheit löscht nicht nur nach und nach das Gedächtnis aus. Sie verkürzt auch die Lebenserwartung: Junge Alzheimer-patienten sterben in der Regel sechs bis achtJahre nach der Diagnose. «Ich spüre jetzt, dass mein Leben endlich ist.»

Angst habe sie deswegen keine. Sie sei irgendwie erleichtert gewesen, als sie die richtige Diagnose erhielt: «Mein Gefühl hatte endlich einen Namen.» Jetzt konnte sie ihr neues Leben planen. Alzheimer-Medikamente, Vitamine, Mineralien gehören dazu,ebenso Ergo-, Physio- und Maltherapie. Die Spitex ist regelmässig bei Anna Luzio zu Hause, unterstützt sie in ihrem Alltag. «Und meine Freunde und meine Familie sind eine grosse Hilfe.» Ihr Umfeld ist jedoch deutlich kleiner geworden. «Ich schätze, das ist normal.Zurückziehen möchte ich mich nicht, aber ich halte meine Welt kleiner.»

Die Krankheit nervt sie vor allem beiAlltagsdingen. «Manchmal verschwinden Sachen, die ich sagen wollte, irgendwo in meinem Hirn. Wörter liegen mir auf der Zunge,aber sie kommen nicht heraus.» Einfache Tricks helfen. Zettel, die sie an die Tür klebt.Oder ihr schwarzes Notizbuch, das sie auch jetzt auf ihrem Schoss liegen hat, einen Stift zwischen die Seiten geklemmt. Sie schreibt sich alles auf, was sie nicht vergessen will.Termine, Telefonnummern, Namen, Orte.

Zu ihrem neuen Leben gehört auch, dass sie sich mit Fragen auseinandersetzen muss,auf die sie vorher keine Antworten brauchte.Wer bezahlt den Lohnausfall? Welche Sozialversicherungen unterstützen sie? Anna Luzios Schwester wirft ein: «Anna wurde zwischen Arbeitgeber, Taggeldversicherung, IV und RAV hin und her geschoben. Wir wussten nicht,wer wofür zuständig ist. Es schien, als würden das die verschiedenen Anlaufstellen selbst nicht wissen. Unterstützt wurden wir vor allem von Institutionen wie der Pro Infirmis.»

Anna Luzio ist zu Beginn des Sommers in eine kleinere Wohnung gezogen, damit alles etwas näher beieinander ist. «Ich habe auch bereits entschieden, wo ich hinmöchte, wenn ich nicht mehr allein zu Hause sein kann.» Diese Selbstbestimmung möchte sie zuletzt verlieren.

 

«Bei jungen Betroffenen wird oft eine falsche Diagnose gestellt,die Demenz mit Burn-out oder Depression verwechselt.»
Irene Bopp-Kistler,Leitende ÄrztinMemory Clinic Waid

Beobachter-Buch Stefanie Becker:«Demenz – Den Alltag mit Betroffenen positiv gestalten»,2018, 272 Seiten,39Franken(für Beobachter-Mitglieder 31 Franken)Beobacter-Edition,Tel. 058 269 25 03, www.beobachter.ch/buchshop


Irene Bopp-Kistler,Leitende Ärztin Memory Clinic Waid

 

Die finanziellen Hürden

Bei jüngeren Alzheimerpatienten haben finanzielle Fragen einen noch viel höheren Stellenwert als bei älteren, sagt Ingrid Cretegny, Pflegefachfrau und Beraterin bei Alzheimer Schweiz. Sie empfiehlt: «Baldmöglichst nach der Diagnose die Invalidenversicherung informieren, weil sie im Rad der Sozialversicherungsfragen eine entscheidende Rolle hat.» Die IV unterstützt Betroffene am Anfang, damit ihr Arbeitsplatz an die noch vorhandenen

Fähigkeiten angepasst wird.Für Erwerbstätige ist zuerst die Krankentaggeldversicherung wichtig. Nach der Diagnose gilt eine Lohnfortzahlungspflicht.Hat jemand die Stelle verloren,muss man unbedingt die Arbeitslosenversicherung informieren, auch wenn die Diagnose noch unklar ist. «Bei jungen Menschen mit Demenz ist dabei wichtig, dass sie in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosigkeit während mindestens zwölf Monaten angestellt waren», sagt Cretegny. Dann könne man nachträglich Taggelder einfordern.

Wenn es nicht reicht.

Unterstützung gibt es auch in Formvon Assistenzbeiträgen im Rahmen der Hilflosenentschädigung. Beiträge können von Betroffenen beantragt werden,die noch nicht im Rentenalter sind und noch selbständig wohnen. «Mit den Assistenz-beiträgen der Hilflosenentschädigung will man erreichen,dass die Menschen möglichst lange zu Hause bleiben können und dass Angehörige bei der Betreuung entlastet werden»,sagt Ingrid Cretegny. Mit dem Geld kann man eine Betreuungsperson anstellen, die einen im Alltag und in der Freizeit begleitet. Wichtig: Assistenzbeiträge kann man nur vor dem Rentenalter beantragen, danach nicht mehr. Erhält man sie, hat man sie aber über die Pensionierung hinaus zugute.Für die Betreuung in einem Pflegeheim müssen Betroffene selbst aufkommen – sie haften bis zu einem definierten Freibetrag beim Vermögen: Bei Alleinstehenden sind es 37 500 Franken und bei Ehepaaren 60 000. Nur wenn sie weniger haben, erhalten sie Ergänzungsleistungen.