Der Weg zur Barrierefreiheit ist voller Hindernisse

(suedostschweiz.ch)

Bis zum Jahr 2023 muss Graubündens öffentlicher Verkehr barrierefrei funktionieren. Das betreffende Gesetz ist bereits im Jahr 2003 verabschiedet worden. Die Behindertenorganisationen sehen noch grossen Handlungsbedarf, vor allem im Bereich der Bushaltestellen in Randgebieten.

Drei Jahre bleiben Graubünden, um die Standards des 2003 verabschiedeten Behindertengleichstellungsgesetz(BehiG) zu erfüllen. Darin wird unter anderem vorgeschrieben, dass der öffentliche Verkehr Rollstullfahrenden barrierefrei zugänglich sein muss. Getan habe sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten wenig, sagt Marc Moser vom Behinderten-Dachverband Handicap Inclusion. Nach wie vor genüge die Mehrzahl der Bündner Haltestellen den Vorgaben des Bundesgesetzes nicht.

Simple Sache

Graubündens insgesamt 2800 Bushaltestellen barrierefrei umzugestalten, klingt erstmal nach einem ziemlich aufwändigen Unterfangen. Dies schwächt Moser jedoch ab: «Es wäre je nachdem eine recht simple Sache. Oftmals müsste einfach nur das Trottoir erhöht werden.» Eine Erhöhung der Bürgersteige auf 22 Zentimeter soll bewirken,dass Rollstuhlfahrende ohne zusätzliche Hilfe «niveaugleich» in die Busse einsteigen könnten. Ein Herunterklappen der Rollstuhlrampen durch den Buschauffeur gilt im Sinne des BeHiG nicht als Barrierefreiheit. Das Ziel ist, dass Rollstuhlfahrende selbstständig und unabhängig ein- und aussteigen können – auch ohne Hilfeleistung vonBusfahrern oder Passanten.

Weiter weiss Moser von Fällen, wo Haltestellen saniert worden sind, ohne das 2003 verabschiedete Bundesgesetz nur ansatzweise zu berücksichtigen. Der Kommunikationschef des bundesweiten Verbands wolle mit dieser Aussage aber nicht explizit mit dem Finger auf Graubünden zeigen. Ihm sei bewusst, dass die Verhältnismässigkeit zwischen Kosten und Nutzen in einem dünn besiedelten Kanton wie Graubünden nicht in allen Fällen gegeben ist.

Kosten bleiben an Gemeinden hängen

Hier zeichnet sich ein grosses Problem im Projekt Barrierefreiheit 2023 ab. Denn: Die Eigentümer der Haltestellenseien die Gemeinden selbst, denen oftmals das Know-how, das Geld und das Bewusstsein für die Thematik fehle,sagt Roman Brazerol von der Abteilung Bauberatung der Behindertenorganisation Pro Infirmis Graubünden. Im Herbst 2019 hat der Kanton darum entschieden, den Gemeinden bei den Anpassungen ihrer Haltestellen mit 25 Millionen Franken unter die Arme zu greifen. Dies geschah gemäss Brazerol zum Teil auch auf Druck der Pro Infirmis. Zwanzig Einsprachen habe der Verein in den letzten Jahren gegen geplante ÖV-Haltestellen eingebracht.Überall dort, wo er die Vorgaben des BehiG als nicht erfüllt sah.

«Der Kanton ist dran und macht seinen Teil», so Brazerol. Aber: Die Randgebiete würden gemäss seiner Einschätzung weiterhin auf der Strecke bleiben. Hier sei es zu einfach, eine «fehlende Verhältnismässigkeit» vorzuschieben. Der Kanton kann sich in Zweifelsfällen auf das sogenannte Verhältnismässigkeitsprinzipberufen. Laut Brazerol müsse der barrierefreie ÖV aber vor allem in den Randgebieten funktionieren. Alles andere führe zu einer Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. «Ein Rollstuhlfahrer, der beispielsweise in Alvaschein wohnt und zum Einkaufen nach Thusis fahren will, ist auf hindernisfreien ÖV angewiesen.» Andernfalls sei die Person gezwungen, in ein städtischeres Umfeld zu zügeln, was in weiterer Folge die Entvölkerung der jeweiligen Region fördern würde, so Brazerol. Auch Senioren mit altersbedingten Einschränkungen, sowie Eltern mit kleinen Kindern würden von einem hindernisfreien ÖV in der Peripherie profitieren.

Barrierefreies Bürokratiegeschwurbel

Überhaupt wird man im Gespräch mit Brazerol den Eindruck nicht los, dass mit dem Amtsschimmel bisweilen die Zügel durchgehen; zu viele Parteien seien in den Prozessen der Entscheidungsfindung involviert. «Wir hatten im Frühling eine Sitzung in der Region Viamala, bei der zwanzig Personen am Tisch sassen», erzählt Brazerol. Die verschiedenen Ämter, die Verkehrspolizei, die Postauto AG, Gemeinden, Behindertenorganisationen, private Eigentümer – jeder meint, ein Wörtchen mitreden zu müssen. «Die Ämter haben auch ihre Differenzen untereinander», so Brazerol.

Dies verdeutlicht sich auch auf Bundesebene. Brazerol berichtet von einer Einsprache der Pro Infirmis gegen dengeplanten Bau einer Haltestelle der RhB-Arosabahn in Chur. Das Bundesamt für Verkehr lehnte das Veto ab – ein stufenloser Zustieg in die Touristenattraktion Arosabahn sei nicht erforderlich. Dasselbe Bundesamt bezeichnet die Umsetzung der Anpassungen an das BehiG auf seiner Homepage als «auf gutem Wege». Bei der Rhätischen Bahn selbst habe mittlerweile aber ein Umdenken stattgefunden, sagt Brazerol. Die Bahn gibt vor, bis 2023 «zu 95 Prozent barrierefrei im Personenverkehr» aufzutreten zu können.

Selbstkritik

Brazerol sieht jedoch davon ab, allen anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. «Auch die Behindertenorganisationen haben verschlafen», gibt sich der Pro-Infirmis-Bauberater selbstkritisch. Als das Gesetzverabschiedet wurde, habe man sich hauptsächlich auf Bahnhöfe konzentriert, die Bushaltestellen gerieten ins Hintertreffen. «Das Bewusstsein für die Sache war um 2003 einfach noch nicht so ausgeprägt.»


Blosse Rampen
– die der Buschauffeur manuell ausklappen muss –
gelten nicht als Barrierefreiheit im Sinne des BehiG.
Yanik Buerkli / ARCHIV

 

Informieren Sie sich über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

(admin.ch)

Ein Einblick in die Vorbereitungen zur Tagung «Partizipation als Chance» vom 3. Dezember 2020 in Biel zeigt auf, welche Aspekte in der Organisation einer grösseren Veranstaltung in Zeiten von COVID-19 berücksichtigt werden müssen. Die Tagung wird anlässlich des Internationalen Tages von Menschen mit Behinderungen vom EBGB, dem Bundesamt für Sozialversicherungen BSV und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK organisiert.

Newsletter EBGB 3/2020: Informieren Sie sich über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

INCLUSION HANDICAP: WILLKÜRLICHE IV-GUTACHTEN STOPPEN

(Forte / Schweizerische MS-Gesellschaft)

 

Marc Moser, Kommunikationsverantwortlicher von Inclusion Handicap, spricht Klartext:«Die Missstände bei den medizinischen Gutachten der Invalidenversicherung (IV) sinderheblich, die Qualität vereinzelt schludrig». Der Verband Inclusion Handicap, in dem auch die MS-Gesellschaft Mitglied ist, hat eine Meldestelle für Opfer von willkürlichen IV-Gutachten eingerichtet. Im folgenden Artikel nimmt er Stellung.

Medizinische Gutachten sind wichtige Instrumente, um den Anspruch auf IV-Leistungen abzuklären. Nur teilweise stellt die IV auf die Einschätzung der behandelnden Ärztinnen ab,die ihre Patienten seit Jahren betreuen und gut kennen. In vielen anderen Fällen holt sie externe medizinische Gutachten ein,um abzuklären, wie hoch die Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person ist. Prinzipiell ist nichts dagegen einzuwenden. Nur sieht die Realität auch mit Gutachten nicht immer objektiv und unabhängig aus. Denn immer wieder erhalten dieselben Institute und Ärztinnen von der IV Aufträge in Millionenhöhe zugeschanzt. Der Verdacht liegt nahe, dass diese als «Gegenleistung» die Arbeitsfähigkeit der Versicherten systematisch zu hoch einschätzen. Schliesslich muss die IV sparen. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hat gar mit einigen IV-Stellen Ziele vereinbart, damit die Anzahl ausbezahlter Renten gesenkt werden oder zumindest nicht steigen sollen. Diese Quotenziele widersprechen eklatant dem Versicherungsprinzip: Es wird nicht mehr immer seriös geprüft, ob jemand Anrecht auf die Versicherungsleistung hat.

Keine Transparenz und willkürliche IV-Guthaben

In der täglichen Arbeit der Rechtsberatung von Inclusion Handicap fallen schon seit einiger Zeit zweifelhafte und tendenziöse Gutachterinnen und Gutachter auf. Immer wieder gelangen auch einzelne Fälle an die Öffentlichkeit. Ende 2019 machte der «Blick» einige haarsträubende Machenschaften publik:

– Ein Gericht stellte bei einem Gutachter «gewisse Fehlleistungen» fest. Er erhielt jedoch weiterhin Aufträge von der IV über insgesamt 3.1 Millionen Franken.

– Ein Gutachter hat in 16 Gutachten identische Texte verwendet und dabei jeweils 100 Prozent Arbeitsfähigkeit attestiert.

– Ein Gutachter schreibt Patienten trotz schweren Depressionen zu 100 Prozent arbeitsfähig. Eine Patientin begeht späterSuizid. Der Gutachter erhielt von der IV Aufträge über insgesamt 1.9 Mio. Franken.

– Ein Gutachter glaubt nach eigenen Angaben an Wunder heilung, erhält aber dennoch immer wieder Aufträge vonder IV. Für das Verfassen der Gutachten lässt er sich mehr Zeit als erlaubt. Die Patientin und ihre Familie kommen infinanzielle Nöte.

Licht ins Dunkle bringen

Bundesrat Alain Berset hat daraufhin angekündigt, die Missstände untersuchen zu lassen. Inclusion Handicap unterstützt dies. Der Dachverband hat am 28. Februar eine Meldestelle eingerichtet. Damit soll das Bild geschärft werden, welche Probleme wie häufig vorkommen. Hat der Gutachter etwa eine Diagnose nach 20 Minuten gestellt? Unterschied sie sich von derjenigen des behandelnden Arztes? Hat der Gutachtersich für die Anforderungen an den Beruf oder die letzte Stelle interessiert? Die Erkenntnisse sollen in die politische Arbeit einfliessen, mit dem Ziel, die Situation zu verbessern.

Wichtiger Hinweis:

Bitte beachten Sie, dass die Meldestelle keine rechtliche Beratung ist. Rechtskräftig beurteilte Fälle können in der Regel nicht wiederaufgerollt werden. Sofern Sie eine Rechtsberatung wünschen, kann die MS-Gesellschaft Ihnen die Adressen geeigneter Rechtsanwälte und Rechtsdienste vermitteln.

Text/Bild: Marc Moser,Kommunikationsverantwortlicher Inclusion Handicap

Die inklusive Perspektive ohne Barrieren

(Sponsoring Extra)

Die Stimmen der Menschen mit Behinderungen sollen gehört werden. Dazu will die OrganisationInclusion Handicap ab dem kommenden Jahr das neue Projekt «Reporter/innen ohne Barrieren»lancieren: Die Reporterinnen und Reporter sollen an Veranstaltungen teilnehmen, darüberberichten und so ihre vielfältigen Perspektiven in aktuellen Diskursen einbringen.


von Marc Moser
Kommunikations-verantwortlicher Inclusion Handicap
marc.mosereinclusion-handicap.ch

 

Die Powerpoint-Präsentation aus der Perspektive einer blinden Person? Das Networking beim Stehlunch für eine Rollstuhlfahrerin? Das Management-Seminar aus Sicht des depressiven Managers? Das Referat für eine gehörlose Person ohne eine Übersetzung in Gebärdensprache? Das sind weitgehend unbekannte Perspektiven, wenn man selbst nicht von einer Behinderung betroffen ist. Aber auch die inhaltliche Perspektive der Menschen mit Behinderungen geht viel zu häufig vergessen. Dabei muss die Hindernisfreiheit in jedem Verkehrskonzept, die inklusiven Schulen in jedem Bildungsgesetz oder die Barrierefreiheit bei jeder erbrachten Dienstleistung mitgedacht werden. Die «Reporter/innen ohne Barrieren» wollen sich und ihre Perspektive einbringen – ein Projekt von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz.

Inclusion Handicap will das Projekt ab dem kommenden Jahr lancieren, wenn der Dachverband der Behindertenorganisationen zusammen mit der Juristischen Fakultät der Universität Basel und dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) die alljährliche Tagung zum Behindertengleichstellungsrecht organisiert.

Fokus auf Gleichstellungsrecht und Sozialversicherungen

Behindertengleichstellungsrecht ist,neben den Sozialversicherungen, ein Schwerpunkt von Inclusion Handicap. Der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen wurde 2015 gegründet, nachdem diverse Fachstellen unter einem Dach zusammengeschlossen worden sind. 20 Behindertenorganisationender Selbst- und Fachhilfe sind Mitglied des Dachverbandes. Dazu gehören einerseits behinderungsübergreifende Organisationen wie Procap oder Pro Infirmis, andererseits behinderungsspezifische Verbände zu den einzelnen Behinderungsarten, wie etwa die Vereinigung Cerebral, die Paraplegiker-Vereinigung, die MS-Gesellschaft, der Blinden- und Sehbehindertenverband, der Gehörlosenbund oder die Stiftung Pro Mente Sana, die sich für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung einsetzt. So ist Inclusion Handicap die vereinte Stimme der 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz.

Sie fragen sich vielleicht: «1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen in unserem Land?» Richtig. Diese Zahl weist das Bundesamt für Statistik aus. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Personen, die langfristige Beeinträchtigungen haben, die sie im Alltag einschränken. Dies können körperliche Behinderungen sein (etwa Paraplegie, eine Muskelkrankheit oder Parkinson), psychische (etwaschwere Depressionen, Schizophrenie oder bipolare Störung), geistige (etwa durch Down-Syndrom oder andere kognitive Einschränkungen) oder Sinnesbehinderungen, wie etwa Blindheit oder Gehörlosigkeit. Aufgrund ihrer Behinderung treffen sie auf die unterschiedlichsten Barrieren. So zum Beispiel:

  • die Stufen oder die zu steile Rampe für Rollstuhlfahrer
  • der nur in gedruckter Form und in komplizierter Sprache vorhandene Vertrag
  • grundsätzliche Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt: Menschen mit Behinderungen sind deutlich häufiger erwerbslos als Menschen ohne Behinderungen
  • das mühsame Vertuschen des Klinikaufenthalts wegen einer depressiven Episode, da berufliche Konsequenzen drohen
  • das Verweigern elementarer Grundrechte wie die Niederlassungsfreiheit oder die freie Wahl der Wohnform, was vor allem Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung betrifft

Die externen Hindernisse und Barrieren für Menschen mit Behinderungen sind ebenso vielfältig und nicht immer sichtbar, wie es die diversen Beeinträchtigungen selbst sind.

Für den Abbau dieser vielfältigen Barrieren und damit für eine inklusive Gesellschaft, in der jede und jeder selbstverständlich teilhaben kann, setzt sich Inclusion Handicap auf politischem und rechtlichem Weg ein, in allen Lebensbereichen: Bildung, Arbeit, Wohnen,Zugang zu Dienstleistungen, ÖV, Kultur, Sport und vieles mehr. Dies fordert die UNO-Behindertenrechtskonvention(BRK), die in der Schweiz seit 2014 in Kraft ist und die bei Weitem noch nicht umgesetzt ist.Inclusion Handicap ist die Stimme der Menschen mit Behinderungen auf dem politischen Parkett, um die Umsetzung voranzutreiben. Aber sie ist auch die Stimme auf rechtlicher Ebene.

Inclusion Handicap bietet Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen unentgeltliche Rechtsberatung und-vertretung in den Bereichen Gleichstellung und Sozialversicherungen. Viele Ratsuchende wenden sich wegen Fragen zur Invalidenversicherung an die erfahrenen Juristinnen und Juristen. Unter-stützung suchen sie aber auch, wenn sie sich wehren müssen, weil ihr Kind nicht in die Regelschule darf, wenn ungerechtfertigte, behinderungsbedingte Gebühren erhoben werden oder wenn eine Dienstleistung nicht zugänglich ist. Die Nachfrage nach einem niederschwelligen Zugang zur Rechtsberatung ist ausserordentlich gross und kann leider aus Mangel an Ressourcen nicht vollständig gedeckt werden.

Menschen mit Behinderungen eine Stimme geben

Inclusion Handicap gibt den Menschen mit Behinderungen eine Stimme auf politischer Ebene, und manchmal auch vor Gericht. Betroffene werden auch im Jahr 2020 noch viel zu wenig gehört. Hier setzt das eingangs erwähnte Projekt der «Reporter/innen ohne Barrieren» an: Die Stimmen der Menschen mit Behinderungen sollen gehört werden. Denn die Reporterinnen und Reporter sollen an Veranstaltungen teilnehmen, darüber berichten und so ihre vielfältigen Perspektiven in aktuellen Diskursen einbringen. Inclusion Handicap will dieses Projekt anstossen – als Dachverband, der alle Behinderungsarten abdeckt. Genauso sollen alle Behinderungsarten bei den Reportern ohne Barrieren vertreten sein und die vielfältigen Stimmen den öffentlichen Diskurs mitprägen.

Ab kommendem Jahr wird im Rahmen des Projekts «Reporter/innen ohne Barrieren» also ein vielfältiger Pool von Reportern mit unterschiedlichen Behinderungen und mit unterschiedlichen Landesprachen sowie in Gebärdensprache aufgebaut. Die Reporter ohne Barrieren sollen geschult werden und zunächst von politischen und gesellschaftlichen Anlässen berichten. Gerade der politische Diskurs hat die Stimmen dringend nötig; im Parlament gibt es mit Nationalrat Christian Lohr nur gerade eine einzige Person, die zur Gruppeder 1,7 Millionen Menschen gehört odersich zumindest öffentlich dazu bekennt.Viele Behinderungen sind bekanntlich nicht sichtbar.

Auch deshalb will Inclusion Handicap mit dem Projekt Menschen mit Behinderungen mit joumalistischem beziehungsweise kommunikativem Interesse fördern. Auf der anderen Seite sollen Menschen ohne Behinderungen sensibilisiert werden: Reporter ohne Barrieren sollen an Veranstaltungen präsent sein und ihre Sichtweise einbringen. Man denke an ein Podiumsgespräch oder ein Referat, bei dem zwar munter über gesellschaftliche Entwicklung gesprochen wird, aber die Perspektive von Personen mit Beeinträchtigungen fehlt. Hier können künftig die Reporter ohne Barrieren diese zusätzliche Sichtweise einnehmen und über einen Event berichten, falls nötig auch kritisch.Der Projektplan sieht vor, dass «Reporter/innen ohne Barrieren» künftig für Events aller Art gebucht werden können.

Das Projekt ist noch in der Planungsphase und die Finanzierung noch nicht vollständig gesichert. Die Idee ist, ab dem Frühsommer 2021 erste Schulungen durchzuführen. Partnerschaften oder ein Patronatskomitee sollen ebenfalls aufgebaut werden. Es ist zu hoffen, dass in rund zwei Jahren, wenn Veranstalter ihren nächsten Event planen, sie ihre «Reporter/innen ohne Barrieren» buchen können – als Berichterstatter mit der zusätzlichen Perspektive.


Inclusion Handicap
Mühlemattstrasse 14a
3007 Bern
Telefon 031 370 08 30
info@inclusion-handicap.ch
www.inclusion-handicap.ch

Angepöbelt in der S-Bahn

(Thurgauer Zeitung)

Die Ettenhauser SP-Kantonsrätin Barbara Müller hatte im Zug eineunangenehme Begegnung in Zusammenhang mit der Maskenpflicht.

 


Barbara Müller ist aus medizinischen Gründen von der Maskenpflicht befreit.
Bild: Nana do Carmo

 

Der Assistenzbeitrag

(faire-face)

 

Der Assistenzbeitrag ist eine Sozialleistung, die anscheinend nur wenig genutzt wird. Nach einer Schätzung des Kantons Neuenburg beziehen nur rund 10% der berechtigten Personen (Menschen mit Anspruch auf Hilflosenentschädigung) einen Assistenz-beitrag. Schweizweit waren es 2018 nur gerade 3195 Personen.

• Warum wird der Assistenzbeitrag so selten bezogen?

• Beschäftigen zu wenig betroffene Personen Assistenzpersonal?

• Bestehen Hürden dabei, bezahltes Personal anzustellen?

• Oder wissen die berechtigten Personen zu wenig Bescheid über diese Möglichkeit?

Wir haben ein Dossier zu dieser verkannten Sozialleistung zusammengestellt.

Berechtigte Personen

Jede Person, die Hilflosenentschädigung (HE) der IV bezieht, kann den Assistenzbeitrag beantragen. Da die IV nicht automatisch kontrolliert, ob eine versicherte Person beim Antrag auf Hilflosenentschädigung auch Anspruch auf den Assistenzbeitrag hat, muss diese Person hierfür ein explizites Gesuch einreichen.

Wenn Sie sich in einer der unten genannten Situationen befinden, ist der Assistenzbeitrag vielleicht eine Überlegung wert:

• Sie leben im Heim und erwägen den Umzug in ein neues Zuhause, allein oder in einer Gemeinschaft?

• Sie wohnen in einer Gemeinschaft mit Familienmitgliedern oder anderen Menschen und interessieren sich für diese Sozialleistung?

• Sie leben in einer Gemeinschaft und möchten zukünftig gerne allein wohnen?

• Sie beanspruchen die häusliche Pflege einer öffentlichen oder privaten Einrichtung (z. B. Spitex/Nomad), möchten aber zukünftig flexibler sein, insbesondere vom Zeitplan her?

• Sie sind volljährig geworden und erwägen den Umzug vom Familienheim in einen eigenen Haushalt?

• Sie sind minderjährig und besuchen eine Regelklasse, oder Sie beziehen einen Intensivpflegezuschlag für einen Pflegebedarf von mindestens sechs Stunden täglich


Anspruch auf Hilflosenentschädigung – in Kürze

Der Anspruch auf Hilflosenentschädigung (HE) besteht auch über den Eintritt ins AHV-Alter hinaus. Gemäss der IV haben «minderjährige oder volljährige, in der Schweiz versicherte und wohnhafte Personen, die wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung bei alltäglichen Lebensverrichtungen wie Ankleiden, Aufstehen, Absitzen, Essen, Körperpflege etc. die Hilfe anderer Menschen benötigen», Anspruch auf Hilflosenentschädigung, unabhängig davon, ob sie in einem Heim oder zu Hause leben. Die Höhe des Betrags hängt ab vom Grad der Hilflosigkeit (leicht, mittelschwer oder schwer) und davon, ob die Person in einem Heim oder zu Hause lebt. Die HE und der Assistenzbeitrag sind nicht einkommens oder vermögensgebunde


Assistenzbeitrag – Definition und Anwendungsbereich

Der Assistenzbeitrag wurde am 1.1.2012 eingeführt. Mit ihm «soll in erster Linie die Eigenverantwortung von Bezügerinnen und Bezügern von Hilflosenentschädigung gefördert werden, damit sie zu Hause leben können.» (Informationsblatt AHV/IV, 2020)

Claude-Alain Evard begleitete ab 2007 ein Pilotprojekt zur Einrichtung einer Sozialhilfe, die Menschen mit Behinderungen bei der selbstbestimmten Wahl ihrer Wohnverhältnisse unterstützen sollte. Damals lebte er im Heim und plante den Umzug in einen eigenen Haushalt. Er gehörte zu den ersten Personen, die diese Leistung beanspruchten. Er erkennt im Assistenzbeitrag zahlreiche Vorteile: «Es ist ein echtes Bedürfnis, bei täglichen Aufgaben Unterstützung zu erfahren. Durch den Assistenzbeitrag finden Menschen mit Behin-derung zu einer neuen gesellschaftlichen Rolle – sie übernehmen Verantwortung und werden zu Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Zudem ergeben sich finanzielle Vorteile: Der Betrag der HE verdoppelt sich, wenn man zu Hause lebt statt im Heim – ob mit oder ohne Assistenzbeitrag», sagt er.

Der Assistenzbeitrag richtet sich sowohl an volljährige als auch minderjährige Personen (wobei für letztere zusätzliche Bestimmungen gelten, etwa bezüglich der Ausbildung).

Wer vor dem Eintritt ins AHV-Alter einen Assistenzbeitrag bezog, erhält ihn weiterhin – allerdings unter Abzug der Assistenzstunden, die dem Ausüben einer beruflichen Tätigkeit dienten. Ab diesem Moment bleibt die maximale Anzahl Stunden bis ans Lebensende gleich, unabhängig vom Zustandsverlauf der beziehenden Person. Wurde vor dem Eintritt ins AHV-Alter kein Assistenzbeitrag ausbe-zahlt, kann danach auch kein Gesuch mehr gestellt werden.Das Vorgehen beim Beantragen des AssistenzbeitragsEin spezifisches Online-Gesuchsformular findet sich auf www.ahv-iv.ch/de/Merkblätter-Formulare/Formulare/Leistungen-der-IV


 

Nach der Überprüfung der Kriterien erhält die gesuchsstellende Person von der IV ein Formular, auf dem sie ihr Assistenzbedürfnis im Sinn einer Selbstdeklaration festhält. Danach kommt es zu einer Abklärung am Wohnort der versicherten Person. Wohnt diese noch im Heim, lässt sich anhand der anerkannten Assistenzstunden evaluieren, welcher Betrag ihr nach dem Verlassen des Heims zusteht.

Die Berechnung der notwendigen Zeit für regelmässige Unterstützungsleistungen erfolgt über ein separates Formular, ausgehend von der notwendigen Hilfe bei alltäglichen Lebensverrichtungen, der Haushaltsführung, gesellschaftlicher Teilhabe, Ausbildung, Kinderbetreu-ung und dem Nachgehen einer gemeinnützigen Aktivität. Zudem findet ein persönliches Gespräch statt. Für Nachtdienste oder bei verlangten Begründungen (etwa bei einer Verschlechterung des Zustands) sind ärztliche Gutachten notwendig.

Simone Leuenberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei AGILE.CH und selbst Bezügerin des Assistenzbeitrags, betont, dass man sein Gesuch möglichst sorgfältig vorbereiten sollte. «Ausnahmsweise ist es hier einmal wichtig, genau festzuhalten, wozu man nicht fähig ist. Psy-chologisch mag es eine Herausforderung sein, sich einzugestehen, was man alles nicht kann – aber es ist wichtig, denn der Beitrag soll ja alle Bedürfnisse abdecken, die man das Jahr hindurch und in den verschie-denen Jahreszeiten hat. Für mich etwa sind viele Dinge im Winter un-möglich, wegen der Kälte. Auf meinem Smartphone habe ich daher eine Liste mit all den gelegentlichen Dingen angelegt, die für meine Selbständigkeit unerlässlich sind – und ich aktualisierte sie ab und zu. Man muss sich dieser Dinge unbedingt bewusst sein, bevor man den Antrag stellt – denn ist die Bedarfsabklärung erst einmal abgegeben, wird es schwierig, einzelne Elemente davon anzupassen»

 

Simone Leuenberger hat Anspruch auf den Assistenzbeitrag seit dessen Einführung im Jahr 2012. «Zuvor bezahlte ich meine Assistenzkosten mit meinem eigenen Einkommen, bis mir gemäss Ergänzungsleistungen weni-ger als das Existenzminimum blieb. Den Assistenzbeitrag gab es noch nicht. Es bestand kein Anreiz zu arbeiten oder mehr zu verdie-nen, denn eine Gehaltserhöhung schlug sich direkt auf die Bezahlung der assistenzbezogenen Kosten nieder. Mit dem Assistenzbeitrag werden die behinderungsbedingten Kosten übernommen, und bei Bedarf kommen Ergän-zungsleistungen dazu. Der Assistenzbeitrag ist weder an das Einkommen noch an das Ver-mögen gebunden.»

Arbeitgeberin/Arbeitgeber werden

Die Anstellung der assistierenden Person in der Wohnstätte erfolgt über einen gültigen Arbeitsvertrag, welcher arbeitsrechtliche Fra-gen wie die Bezahlung von Sozialabgaben, die Kündigungsfrist etc. regelt. Musterverträge sind aufgeschaltet bei den kantonalen IV-Stellen

Simone Leuenberger betont, dass der administrative Aufwand (Ar-beitsvertrag, Versicherungen) nicht grösser ist als beim Einstellen einer Haushaltshilfe – aber er ist notwendig. Behilflich bei diesen Auf-gaben sind Service-Anbieter wie quitt.ch (Gehaltsabrechnungen, Überweisungen, Versicherungen). Derartige Bezahldienste erleichtern die Verwaltungsarbeit.

Gezielte Suche nach Assistenzpersonal

Diverse Einrichtungen und Hilfsmittel erleichtern die Suche nach Assistenzpersonal:

• Der im Kanton Neuenburg ansässige Verein «Appuie-Toit» vermittelt zwischen Angebot und Nachfrage. Menschen mit Behinderung wird aufgrund bestimmter Kriterien (wie Wohnort, Assistenztyp …) mögliches Hilfspersonal im Kanton vorgeschlagen.

• Pro Infirmis plant in der Romandie ein Pilotprojekt und bildet ab Oktober Hilfskräfte aus. Die Liste der ausgebildeten Personen wird den SozialarbeiterInnen und den beratenden Fachpersonen zugestellt, die bei Bedarf ihre Kundschaft informieren. Die KundInnen können daraufhin die Teilnehmenden kontaktieren und ein norma-les Einstellungsverfahren einleiten (Vorstellungsgespräch, Durch-sicht der Referenzen etc.).

• Die Association Cap-Contact in Lausanne betreut eine AssistentInnen-Börse für die Kantone in der Westschweiz und den Kanton Bern: www.assistenzbuero.ch/de/annonces-assistance.

• Der Verein Cerebral Schweiz unterstützt die Entwicklung einer Online-Plattform namens CLéA. Sie soll bei der Personalsuche helfen und die Planung und Verwaltung von Assistenzverhältnissen unterstützen (weitere Infos auf www.vereinigung-cerebral.ch/de/clea).


Der Verein Appuie-Toit bietet Unterstützung für zuhause wohnende Menschen mit Behinderung, die im Kanton Neuenburg leben. Er wurde gegründet, um über rechtliche Ansprüche im Zusammenhang mit dem Assistenzbeitrag zu informieren, um die administrativen Belange der Gesuchstellenden zu unterstützen, um Fragen im Zusammenhang mit dem Arbeitgeberstatus zu klären und beim Suchen von Hilfspersonal zu helfen. Eine Daten-bank mit möglichen Pflegepersonen wird aufgebaut. Das Ziel ist auch eine Entlastung der Angehörigen. Die Hilfe des Ver-eins ist im Gegensatz zu den Dienstleistun-gen anderer Anbietenden nicht zeitlich beschränkt.

Kontakt: Florian Perrin,
contact@appuie-toit.ch
, 079 511 61 78


Die Zukunft des Assistenzbeitrags, die Forderungen von AGILE.CH und laufende Projekte

Die aktuellen Forderungen von AGILE.CH betreffen drei Ebenen:

1. Anpassung des Gesetzes

• Gefordert wird die Zulassung von Familien-angehörigen in gerader Linie (Eltern, Grosseltern, Geschwister, Ehegatten oder eingetragene PartnerInnen) als Assistenz-personal. Hierzu hat der Nationalrat Christian Lohr eine parlamentarische Initiative eingereicht.

• Gefordert wird die Aufhebung der Dis-kriminierung von volljährigen und minder-jährigen Personen. Für Minderjährige ist der Erhalt des Assistenzbeitrags an Pflich-ten gebunden: Sie müssen Schulunterricht in der normalen Schule besuchen oder eine Lehre machen, um den Beitrag einfordern zu können.

• Zum Bezug des Assistenzbeitrags muss zwingend ein Arbeitsvertrag vorliegen (Mandate werden nicht berücksichtigt). In zahlreichen Situationen ist man jedoch auf kostenpflichtige Dienste angewiesen, die nicht auf einem Arbeitsvertrag basieren (etwa wenn eine blinde oder sehbehinderte Person zur Beförderung auf Taxis zurück-greift, statt einen Chauffeur zu engagieren). Gefordert wird eine Lockerung dieser Auflage.

2. Anpassung der Verordnung (auf Bundesebene)

• Anpassung für Menschen, die in geschützten Werkstätten tätig sind: Arbeitet eine Person in einem geschützten Atelier, so wird ihr Assistenzbeitrag unverhältnismässig gekürzt im Vergleich zu der Zeit, die sie zu Hause verbringen. Arbeitet jemand fünf Tage pro Woche, be-deutet dies eine Halbierung des Höchstwerts.

• Anpassung der als unrealistisch eingestuften Nachtdiensttarife (max. 88.55 CHF pro Nacht!).

• Anpassung der als ungerecht eingestuften Berechnung des Assistenz-beitrags: Heute wird der Assistenzbedarf (gemeint ist damit derjenige Teil der Hilfsbedürftigkeit, der vom Assistenzbeitrag abgedeckt werden kann) gemäss IV-Abklärungsinstrument erhoben und an-schliessend gekürzt (1):


(1) 831.20 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG), Art. 42

 

3. Anpassungen der Bestimmungen im Kreisschreiben des BSV

 

• Gefordert wird eine Überarbeitung des Kriteriums der aktiven Überwachung: Zurzeit kann sich die assistierende Person nicht anderweitig beschäftigen, sie muss sich zwingend im gleichen Raum aufhalten und jederzeit einschreiten können. Jemand in Rufbereitschaft kann im Moment nicht fi-nanziert werden.

• Gefordert wird die Revision der Dauer ge-wisser Hilfeleistungen (wenn etwa für die Nutzung der Toilette 40 Minuten Hilfsbe-darf pro Tag einberechnet werden und die Person dafür jedes Mal 20 Minuten benötigt, dann wird sie nur noch zweimal täglich das WC benutzen können . . .).

Zukünftige Projekte von AGILE.CH

«Ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben für Bezügerinnen und Bezüger des Assistenzbei-trags», so lautet das Versprechen in der Ein-führung zu dieser neuen Sozialleistung.

Folgende Verbesserungsmöglichkeiten werden geprüft:

• Die Einführung von Arbeitsbedingungen, die Selbstbestimmung auch wirklich gewährleisten: Das NAV-Modell1 des SECO verbietet die Einplanung von Arbeitsstunden zwischen 23 und 6 Uhr. Wenn eine assistenzbeitragsbeziehende Person ein Wochenende auswärts verbringen muss und eine oder mehrere Nächte weg ist, müsste sie für ihre Pflege zwei Hilfspersonen einberechnen. Dafür fehlen aber die Assistenzstunden.

• Die Einrichtung einer Branchenorganisation für Arbeitgebende (Menschen mit Behinderung).

Auch über die administrativen Aspekte hinaus ist der Weg zum Assistenzbeitrag eine aufwändige Angelegenheit: «Der Umzug in den eigenen Wohnraum ist ein grosser Schritt, nicht nur wegen der zusätz-lichen Administration», sagt Claude-Alain Evard. «Das Rund um-die-Uhr-Sicherheitsnetz im Heim fällt weg – das gilt es zu bedenken. Die richtige Wohnung zu finden, die Logistik abzuklären, vielleicht auch das familiäre Umfeld davon überzeugen zu müssen – das alles können Hürden sein. Man sollte also genügend Energie einplanen, um den Weg zu mehr Selbständigkeit erfolgreich hinter sich zu bringen. Aber es lohnt sich!»

Florence Montellier
Kommunikationsbeauftragte ASPr-SVG

Wir bedanken uns bei Simone Leuenberger, Claude-Alain Evard und Florian Perrin von Appuie-Toit für ihre Beiträge zu diesem Artike


Aufruf

Die angerechnete Dauer einzelner Hilfe-leistungen stimmt nicht immer mit der Realität überein (siehe Beispiel oben). Damit die Bestimmungen im Kreisschreiben des BSV angepasst werden können, braucht es die aktive Mithilfe der Betroffenen. Nur wenn mehrere Personen einen ähnlichen Mehrbedarf melden, kann mit dem BSV das Gespräch über eine Erhö-hung gesucht werden. Wer diesbezügliche Informationen oder Erfahrungen übermitteln möchte, erreicht Simone Leuenberger unter der folgenden Adresse:simone.leuenberger@agile.ch


Quellen:«Forum de Politique Romand» vom 24.2.2020, AGILE.CH
Verein «Appuie-Toit», contact@appuie-toit.ch www.proinfirmis.ch
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG)

1 Das NAV-Modell definiert den schweizweiten Minimalstandard für die Arbeitsbedingungen in der 24-Stunden-Betreuung

autismus deutsche schweiz-hilft, vermittelt und verbindet

(Psychologie & Erziehung P&E)

Der Verein «autismus deutsche schweiz» (ads) ist die grösste Nonprofit-Organisation zum Thema Autismusin der Schweiz und gehört zum gesamtschweizerischen Dachverband «autismus schweiz». Ziel des Vereins ist es, die Interessen von Menschen, welche von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) betroffen sind, deren Eltern und Angehörigen zu vertreten.Ebenso soll in Zusammenarbeit mit involvierten Fachpersonen die Lebenssituation von autistischen Personen verbessert werden. Der Verein hat aktuell knapp 2000 Mitgliedschaften von Selbstbetroffenen,Familien und Angehörigen, Partner/innen, Fachpersonen, Institutionen, Organisationen und Supportern(Stand Mai 2020).

Im Rahmen eines kleinen Leistungsvertrages mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erbringt ads klar festgelegte Leistungen für Betroffene und Angehörige. Gemeinsam mit «autismus schweiz» vertritt der Verein die politischen und sozialen Interessen der Betroffenen auf Bundes- und kantonaler Ebene.In Partnerschaft mit autisme suisse romande und autismo svizzera italiana unterstützt ads seine Mitglieder operativ in den verschiedensten Bereichen.

Darum braucht es ads

Autismus ist ein Thema, auf das die Gesellschaft nicht hinreichend vorbereitet ist. Das betrifft auch den Grossteil der relevanten Fachwelt: das Gesundheits-,Sozial- und Bildungswesen sowie Politik, Verwaltungund Wirtschaft. Die Folge ist, dass Selbstbetroffene sowie Eltern meist selbst einen Weg und Lösungen suchen müssen, wenn sie sich oder ihren betroffenen Kindern ein Leben mit Selbstbestimmung, Inklusion und Gleichstellung ermöglichen wollen. Es fehlt sowohl an finanzieller Unterstützung wie beispielsweise bei der Frühintervention, als auch an der notwendigen medizinischen und therapeutischen Versorgungs- und Betreuungs – Infrastruktur.

Mittels einer internen Beratungsstelle sowie in Form von Kurzberatungen auf der Geschäftsstelle hilft «autismus deutsche schweiz» zusammen mit seinem Netzwerk Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen weiter. Um auch in der Politik alle wichtigen Themen platzieren zu können und eine gute Grundlage für bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, arbeitet «autismus deutsche schweiz» unter anderem mit Verbänden wie Curaviva, Insieme, INSOS, pro mente sana, pro Infirmis, procap oder inclusion handicap zusammen.

ads vermittelt Wissen durch zahlreiche Weiterbildungen und Veranstaltungen, Social Media und Informationsmaterialien, um die Öffentlichkeit über das Thema Autismus zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Nur so können Betroffene verstanden werden, selbstbestimmt in der Gesellschaft leben und ein möglichst selbständiges Leben führen. Jährlich werden neue Projekte und Vorhaben initiiert, die zur Verbesserung der Situation von Betroffenen und deren Umfeld beitragen.

«Dank ads kann ich meinen Autismus besser verstehenund gleichzeitig anderen helfen, ihren Autismus oderden ihrer Angehörigen besser zu verstehen.» – JungeFrau mit Autismus

«Zu wissen, dass mich jemand versteht, hat so gutgetan, mir Mut gemacht und Kraft gegeben. Ich fühle mich nicht mehr allein und bin froh, dass ich die Beratungsstelle in schwierigen Situationen kontaktieren kann.» – Mutter einer Tochter mit Asperger-Syndrom

Wie zeigt sich die Arbeit und das Engagement von ads im Jahr 2020 und speziell in Zeiten des Corona-Virus?

2020 ist ein spezielles Jahr. Der Ausbruch des Coronavirus und die damit verbundenen Einschränkungen waren besonders für Betroffene mit Autismus und deren Familien eine grosse Herausforderung. ads war die erste Organisation, welche die Familien, Betroffene und auch Fachpersonen in der Zeit nach Ausbruch der Pandemie unmittelbar und konkret unterstützte. Wichtige Informationsmaterialien wurden geschaffen und sofort allen Interessierten zur Verfügung gestellt.Die Beratungskapazität der internen Beratungsstelle wurde vergrössert, um möglichst viele Fragen zu beantworten und bei Herausforderungen Lösungswege aufzuzeigen. Die Beratungsstelle half überlasteten Eltern in der Gestaltung des neuen Alltags, Entlastungsmöglichkeiten wurden aufgezeigt und mit einer geschlossenen Gruppe auf Facebook konnte ein Rahmen geschaffen werden, in dem sich Betroffene und Eltern untereinander austauschen und gegenseitig mit Erfahrungen unterstützen konnten. Auch Ratschläge im Umgang mit Behörden und Schulen wurden dringend gebraucht. Nebst den vielen Herausforderungen gab es auch positive Geschichten von Familien, die zum Beispiel beobachteten, dass ihr Kind in dieser Zeit des Homeschooling ruhiger und ausgeglichener war. Weniger Reize bedeuteten für viele auch weniger Stress.

ads ist ein wichtiger Anbieter von Weiterbildungen im Bereich Autismus. Alle Veranstaltungen für den Frühling 2020 waren fertig geplant und organisiert,konnten aber nicht durchgeführt werden – man musste umdenken. Dank der Unterstützung eines Mitglieds konnten Weiterbildungsangebote in kürzester Zeitin eine neue Webinarform umgewandelt werden. So wurde trotz Lockdown weiterhin Wissen vermittelt.ads zieht aus den Rückmeldungen zu den Webinaren eine positive Bilanz – Online-Angebote werden von vielen Mitgliedern sehr geschätzt, weshalb sie auchin der Zukunft geplant und angeboten werden.

Freizeitveranstaltungen für Betroffene und Familien,wie zum Beispiel der Besuch im Europa-Park oder die autismusgerechten Kinovorstellungen in den Pathe Kinos, sind bei vielen ein wichtiger Termin im Jahres-kalender und werden jeweils freudig erwartet. Dank den guten Kontakten mit den jeweiligen Veranstaltern konnten diese Freizeitprojekte auf den Herbst verschoben werden. Und auch die Organisation von anderen neuen und wiederkehrenden Projekten läuft auf Hochtouren – so wird es nächstes Jahr zum Beispiel wieder einen Autismus-freundlichen Tag im Zoo Zürich geben.Unterstützungsmaterialien für den Alltag sind ein wichtiger Teil der Arbeit von ads. Die Geschäftsstelle schafft in Kooperation mit Fachpersonen fortlaufend neue Informationsmaterialien für alle Bereiche desLebens. Neudiagnose-Kits für Familien und erwachsene Betroffene werden erstellt und kostenlos an Diagnosestellen und Fachärzte verteilt. Sie fangen die Familien und Betroffenen im Moment der Diagnose auf und zeigen ihnen Möglichkeiten für Wege nach einer Autismus-Diagnose auf. Ein Hauptfokus der Arbeit von ads liegt auch auf der Sensibilisierung und Aufklärung der Öffentlichkeit, von Politikerinnen und Politikern,der Wirtschaft und der Bildungs- und Arbeitswelt.Wenn möglichst viele Menschen über Autismus Bescheid wissen, ist ein besseres Zusammenleben und damit ein selbstbestimmtes Leben für die Betroffenen und ihr Umfeld möglich.

Kontaktadresse:
autismus deutsche schweiz
Verein für Angehörige, Betroffene und Fachleute
anfrage©autismus.ch
www.autismus.ch

Den Klang beschreiben, das Gesagte zeigen

(srf.ch)

Auch für Menschen mit Behinderungen ist Kunst, Konzert und Theater erlebbar – wenn die Institutionen in Sachen Inklusion umdenken.
Autor: Jenny Berg

In der Schweiz leben 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen , in einem neuen Fenster– das sind rund 20 Prozent der Bevölkerung. Viele von ihnen haben wenig Zugang zu kulturellen Institutionen.

Damit sich das ändert, hat Pro Infirmis, die Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen, das Label «Kultur Inklusiv», Link öffnet in einem neuen Fenster ins Leben gerufen.

Seit 2016 werden damit Kulturinstitutionen ausgezeichnet, die ihr Angebot barrierefrei anbieten – mittlerweile sind das 80 Museen, Theater und Festivals.

Nur rollstuhlgerecht reicht nicht

Doch was heisst das genau: barrierefrei? Belinda Schweizer, Projektleiterin der inklusiven Angebote am Theater Basel, sagt: «Das Haus und seine Angebote müssen möglichst für alle Menschen zugänglich sein.»


Auch viele Museen bieten Führungen für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. «Ich seh’s anders!» heisst ein Vermittlungsprojekt im Museum Haus Konstruktiv in Zürich. Es führt erwachsene Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen. Museum Haus Konstruktiv / Peter Baracchi

 

Ein rollstuhlgerechter Zugang und ein Behinderten-WC allein sind dafür aber nicht ausreichend. «Die inhaltlichen Angebote des Theaters müssen für Menschen mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen zugänglich sein – also für Menschen mit einer Seh- oder Gehör-Einschränkung genauso wie für Menschen mit einer kognitiven Behinderung.»

Mit dem Kopfhörer in die Oper

Für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen etwa bietet das Theater Basel spezielle Ballett-Workshops an. Für Menschen mit Hör-Beeinträchtigung gibt es Aufführungen, bei denen am Bühnenrand eine Gebärden-Dolmetscherin live den Text des Schauspiels in Gebärdensprache übersetzt. Und für Menschen mit Seh-Behinderung gibt es einzelne Opernaufführungen mit Live-Audiodeskription.

Bühnen-Dialoge in Gebärdensprache übersetzen: Das macht auch der Westschweizer Verein «Sourds & Culture», hier bei einer Inszenierung in Morges. Sylvain Chabloz

 

Dafür sitzen zwei Sprecher in einer Tonkabine mit Sicht auf die Bühne und beschreiben während der Aufführung alles, was auf der Bühne gesagt oder getan wird. Dabei müssen sie genau abwägen, was wichtig für das Verständnis der Handlung ist, und wo die Musik frei erklingen muss.

Diese Live-Audiodeskription wird über WLAN an Audiogeräte ausgespielt, mit denen die Nutzerinnen und Nutzer im Zuschauerraum sitzen. Mit akustisch durchlässigen Kopfhörern können sie der Musik und der Live-Audiodeskription zeitgleich folgen.
Inklusion ist für alle gut

Das noch junge Angebot wird an verschiedenen Schweizer Theatern genutzt – doch im Vergleich zum Behindertensport ist die Nutzergruppe noch verschwindend klein. Zu viele Jahre lang lag dieses Thema brach – und es nicht einfach, diejenigen Menschen mit Behinderung zu erreichen, die sich für Kultur interessieren.

Dabei lohnt es sich für sämtliche Kulturinstitutionen, in Barrierefreiheit zu investieren. Von flexiblen Sitzgelegenheiten im Konzertsaal profitieren etwa auch Familien mit Kindern. Ermöglicht ein Museum Skulpturen zum Anfassen und Audioguides in Leichter Sprache, so erleichtert dies den Zugang auch für fremdsprachige oder bildungsferne Bevölkerungsgruppen.

Inklusion und Barrierefreiheit ermöglicht also die kulturelle Teilhabe für alle Menschen – und leistet einen wichtigen Beitrag zum gleichwertigen Leben in unserer Gesellschaft.

Ohne Vorschuss keine IV-Beschwerden

(Basler Zeitung)

Wer sich gerichtlich gegen einen Entscheid der Invalidenversicherung wehrt, kann seit kurzem im Kanton Zürich zu einem Kostenvorschuss verpflichtet werden. Basel-Stadt und Bern sind noch strenger


Für die Gerichte hat die Kostenpflicht für IV-Beschwerden zu einem teils erheblichen Mehraufwand geführt.Foto: Keystone

 

Andrea Fischer

Das Verfahren vor dem kantonalen Sozialversicherungsgericht ist laut Gesetz kostenlos. Gemeint ist, dass Versicherte keine Gerichtsgebühren zahlen, wenn sie sich gegen einen negativen Entscheid einer Sozialversicherung wie etwa AHV, Arbeitslosen- oder Krankenversicherungvor dem kantonalen Gericht wehren. Es gibt allerdings eine gewichtige Ausnahme: Verfahren gegen die Invalidenversicherung (IV) sind seit 2006 kostenpflichtig. Damit hoffte man, dasses weniger Beschwerden gegen IV-Entscheide geben würde-deren Zahl war damals stark angestiegen.

Da die IV-Verfahren den weitaus grössten Anteil im Sozialversicherungsbereich ausmachen,ist trotz des anderslautenden gesetzlichen Grundsatzes ein beträchtlicher Teil der Verfahren längst nicht mehr unentgeltlich.Die Versicherten müssen mit Gebühren von bis zu 1000 Franken für den Gang ans kantonale Gericht rechnen. Hinzu kommen allfällige Kosten für eine Anwältin oder einen Anwalt, die ein Vielfaches ausmachen.

Neu hat nun das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich per 1. Juni auch einen Kostenvorschuss für IV-Fälle eingeführt. Dieser ist vor Beginn des Verfahrens zu leisten. Die entsprechende Gesetzesänderung hatte das Kantonsparlament letzten Herbst mit grossem Mehr unterstützt.

Alles halb so wild?

Trotzdem wird sich für alle jene,die in Zürich gegen einen Entscheid der IV klagen, nicht viel ändern.Das Sozialversicherungsgericht will die neue Möglichkeit, einen Vorschuss zu verlangen, nur zurückhaltend nutzen. Gedacht sei er namentlich für jene Fälle, in denen eine Beschwerde schon von vornherein als aussichtslos erscheint, teilt das Gericht mit. Somit werden die meisten beschwerdewilligen Zürcher auch künftig erst am Ende des Verfahrens zahlen müssen, falls sie verlieren. Damit ist Zürich vergleichsweise grosszügig.

Wie machen es die anderen Kantone?

Andernorts ist der Kostenvorschuss die Regel. Das zeigt eine Stichprobe in Basel-Stadt, Bern und vier weiteren Kantonen ( AG,ZG, LU, SG). Sie alle geben an,dass sie für Beschwerden gegen IV-Entscheide generell einen Vorschuss erheben. Bei einzelnen Kantonen ist es ein fixer Betrag, bei den andern entsprichtder Vorschuss den voraussichtlichen Verfahrenskosten. Werde der Vorschuss nicht fristgerecht bezahlt, trete das Gericht auf die Beschwerde gar nicht erst ein,sagt Gerichtsschreiber Daniel Imhasly vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Gewinnt die Beschwerde führende Person das Verfahren, erhält sie den Vorschuss wieder zurück.

Was wird mit dem Vorschussbezweckt?

In erster Linie sichern sich die Gerichte damit ab. Der Vorschussstelle sicher, dass die Gerichtskosten bezahlt seien, sagt Aldo Elsener, Präsident des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug.Zudem würden es sich Recht suchende Personen erst recht überlegen, ob sich der Gang ans Gericht lohnt, so die Hoffnung.Denn Vorschüsse wirkten zusätzlich abschreckend, da sie innert einer beschränkten Frist zu leisten seien, sagt Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht an der UniversitätSt. Gallen.

Was ist, wenn sich jemand die Kosten nicht leisten kann?

Wer nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, kann unentgeltliche Prozessführung beantragen. Die Bedingungen dafür sind allerdings streng, man muss praktisch auf dem Existenzminimum leben. Trotzdem erfüllt ein Viertel bis ein Drittel der Beschwerdeführer die strengen Voraussetzungen und kann kostenlos prozessieren; das zeigt die Umfrage unter den Kantonen.Dieser Anteil sei sehr hoch, aber nicht erstaunlich, sagt Rechtsprofessor Kieser. Denn bei den IV-Verfahren gehe es um existenzielle Leistungen und meistens um Personen, die finanziell nicht gut dastünden.

Hat die Kostenpflicht,wie erhofft, zu weniger IV-Beschwerden geführt?

Nein. Ein spürbarer Rückgang bei den IV-Beschwerden sei nicht eingetreten, sagt Ueli Kieser. Umfragen unter den Gerichten bestätigen dies. Die Kosten- und Vorschusspflicht hat im Gegenteil für die Gerichte zu einem teils erheblichen Mehraufwand geführt. Grund sind die zahlreichen Gesuche um unentgeltliche Prozessführung, die alle einzeln geprüft werden müssen. Die frühere Aargauer SP-Ständerätin Pascale Bruderer plädierte denn auch in einer Parlamentsdebatte 2018 dafür, die Kostenpflicht für IV-Gerichtsverfahren aufzuheben. Doch das Gegenteil ist nun der Fall.

Die Kostenpflicht wird ausgeweitet: Warum?

Künftig sollen nicht nur IV-Verfahren, sondern auch andere Verfahren im Sozialversicherungsbereich kostenpflichtig sein. Die entsprechende Gesetzesänderung tritt auf Anfang nächsten Jahres in Kraft. Konkret können die Kantone auch für Streitigkeiten über die AHV, die Kranken- oder Unfallversicherung Kosten erheben- allerdings nur, wenn es um Beiträge beziehungsweise um Prämien geht. Erneut hofft man,damit Bürgerinnen und Bürger davon abzuhalten, unnötige Gerichtsverfahren zu führen.

Wichtig anzumerken: Streitigkeiten um Leistungen von Sozialversicherungen – wie etwa Renten – bleiben mit Ausnahme der IV zumindest vorläufig unentgeltlich. Dafür brauchte es zusätzliche Gesetzesänderungen.

Im Zivilprozess sollen die Kostenvorschüsse sinken

Weit umstrittener als im Sozialversicherungsverfahren ist der Kostenvorschuss in Zivilprozessen, wie zum Beispiel bei Scheidungsverfahren.

Seit der Einführung der einheitlichen Zivilprozessordnung 2011 können die Gerichte von der klagenden Partei die vollen Prozesskosten als Vorschuss verlangen. Und da die Prozesskosten umso höher sind, je höher der Streitwert ist, können auch die Vorschüsse exorbitant sein. Kommt hinzu, dass die klagende Partei auch das Inkassorisiko trägt, wenn sie obsiegt. Das heisst, sie muss selbst das Geld von der Gegenpartei eintreiben. Diese Regeln stiessen bei Fachleuten auf teils heftige Kritik. Dem Mittelstand werde dadurch der Gang ans Gericht sehr stark erschwert,so der Tenor.

Nun sollen die Hürden gesenkt werden. In seiner im Februar veröffentlichten Botschaft schlägt der Bundesrat vor, die Vorschüsse auf die Hälfte der Prozesskosten zu begrenzen.Ausserdem soll der Staat das Inkassorisiko übernehmen,wie das früher vielerorts der Fall war. Es soll allerdings Ausnahmen geben. Demnach können die Kantone für das zweitinstanzliche Verfahren vor einem Kantonsgericht auch weiterhin einen vollen Kostenvorschuss verlangen, wenn dies sachlich gerechtfertigt sei.Das Inkassorisiko dürften sie in Ausnahmefällen ebenfallsden Parteien überlassen. So bestehe die Gefahr, dass die heutige unbefriedigende Situation in vielen Fällen bestehen bleibe, kritisierte der frühere Schaffhauser Oberrichter Arnold Marti unlängst in einem Fachartikel. Es sei daher zu hoffen, dass das Parlament dies korrigiere. (afi)

Die IV bleibt auf ihren Schulden sitzen

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Bund präsentiert neue Zahlen zu den Sozialwerken-die AHV schreibt trotz Finanzspritze schon wieder ein Defizit


Unsichere Aussichten für die AHV. Spätestens ab dem Jahr 2024 drohen grosse, rasch wachsende Fehlbeträge. ADA AN BAER / NZZ

 

Die Sozialversicherungen verlieren in der Krise kurzfristig 4 bis 5 Milliarden Franken.Der Druck wächst. Im Herbst beginnt endlich die Debatte um die neue AHV-Reform.

FABIAN SCHÄFER, BERN

4 bis 5 Milliarden Franken: So gross ist gemäss einer ersten Schätzung der Schaden, den die Corona-Krise bei den Sozialversicherungen des Bundes verursacht. Die Zahl umfasst die AHV, die Invalidenversicherung (IV) sowie die EO, die bei Mutterschaft und Militärdienst zum Zug kommt. Bei ihnen führt die Krise insbesondere zu einem Rückgang der Einnahmen aus den Lohnbeiträgen. Doch schon ab 2025 sollen diese Erträge wieder das Niveau erreichen, das sie ohne Krise gehabt hätten. Dies geht aus den neuen Finanzperspektiven hervor, die das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) am Donnerstag veröffentlicht hat. Das Fazit ist verhalten zuversichtlich:Die Sozialwerke könnten die temporären Effekte der Krise «gut verkraften». Das BSV erwartet, dass die Pandemie mittelfristig nur geringfügige Folgen hat.

Im roten Bereich

Um das grösste Sozialwerk, die AHV,stand es schon vor der Corona-Krise schlecht. Nun präsentiert sich die Zukunft noch düsterer. Die bittere Erkenntnis: Die Finanzspritze, die das Stimmvolk 2019 mit dem Steuer-AHV-Deal beschlossen hat, reicht nicht weit. Zwar bezahlen nun alle Angestellten höhere Lohnbeiträge, und auch der Bundesbeitrag wurde erhöht. Dennoch schreibt die AHV bereits 2020 ein weiteres Defizit.Wenn man die erwarteten Einbussen an den Kapitalmärkten mit einrechnet, soll der Verlust 865 Millionen Franken betragen. Die entscheidende Grösse, das Umlageergebnis, bleibt auch in den nächsten Jahren im roten Bereich. Nur zusammen mit den schwierig vorhersehbaren Kapitalerträgen könnte die AHV allenfalls bis 2024 noch knapp schwarze Zahlen schreiben. Danach drohen grosse, rasch wachsende Fehlbeträge. 2030 ist ein Defizit von 3,6 Milliarden Franken zu erwarten. Insgesamt bestätigen die Zahlen,dass eine Reform dringend notwendig ist. Wenn die Politik nicht handelt, muss die AHV von der Substanz zehren. Bis ins Jahr 2030 würde ihr Vermögen in diesem Fall von derzeit 100 auf 58 Prozent einer Jahresausgabe schrumpfen.

Die AHV leidet auch darunter, dass die IV bei ihr immer noch tief in der Kreide steht. Sie ist nach wie vor mit 10,3 Milliarden Franken beim AHV-Fonds verschuldet. Als das Volk 2009 eine befristete Steuererhöhung für die IV guthiess, wurde ihm versprochen, das Parlament sorge danach für den Schuldenabbau. Später hat der neue Sozialminister Alain Berset (sp.) die Sache immer weiter aufgeschoben. Vor drei Jahren hiess es, die IV sei 2030 schuldenfrei. Später sprach Berset von 2032. Davon ist nun keine Rede mehr: Laut den neuen Zahlen hat die IV 2030 immer noch Schulden von 77 Milliarden Franken. Wie es danach weitergeht, ist unklar. Das BSV erstellt wegen der grossen Ungewissheiten mit der Corona-Krise keine Berechnungen über das Jahr 2030 hinaus.

Neuer Vorschlag

Politisch steht aber die AHV im Fokus.Nachdem die letzten Reformversuche gescheitert sind, liegt nun ein neuer Vorschlag des Bundesrats im Parlament(siehe Box). Als Erstes ist der Ständerat am Zug, dessen Sozialkommission bisher aber keine grosse Eile an den Tag legt.Sie will nach den Ferien erst Anhörungen durchführen. Dies führte zu Bedenken,der Ständerat werde die dringende Vorlage erst im Dezember behandeln. Doch nun sagt Kommissionspräsident Paul Rechsteiner (sp.), die AHV-Reform sei provisorisch für die Session im September angemeldet. Macht der Nationalrat danach vorwärts, sollte es möglich sein,die Beratungen 2021 zu beenden. Findet die Volksabstimmung im selben Jahr statt,könnte die Reform 2022 in Kraft treten.

Umstritten ist, ob das Parlament parallel dazu bereits eine weitere Vorlage aufgleisen soll, die eine Erhöhung des Rentenalters über 65 Jahre hinaus umfasst.Mittlerweile sprechen sich auch CVP-Sozialpolitiker dafür aus, womit er mehrheitsfähig werden könnte. In der aktuellen Vorlage aber ist Rentenalter 66 oder 67 wohl ebenso wenig ein Thema wie eine generelle Rentenerhöhung. Somit ist auch keine Neuauflage des 70-Franken-Zuschlags zu erwarten, den das Volk 2017 refüsiert hat.

Der Bundesrat will Frühpensionierungen attraktiver machen

fab.Seit 1997 ist keine AHV-Reformmehr gelungen. Der Plan für den nächsten Anlauf liegt auf dem Tisch, der Bundesrat hat die Vorlage «AHV 21» getauft. Allerdings ist längst klar, dass eine Umsetzung auf das Jahr 2021 nicht mehr gelingt. Auch eine Einführung ab 2022 ist nur noch möglich, falls sich das Parlament nach den Sommerferien sputet.

  • Das gewichtigste Element ist die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV. Der Bundesrat will sie um 0,7 Punkte erhöhen, der Normalsatz der Steuer soll von 7,7 auf 8,4 Prozent steigen. Dies entspricht einer Steuererhöhung von 9 Prozent. Die Mehrbelastung der Konsumenten würde sich auf 2,5 Milliarden Franken jährlich belaufen.

  • Politisch brisanter ist wohl die Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre. Sie soll etappiert stattfinden, vier Jahre nach Inkrafttreten würde für alle Frauen Rentenalter 65 gelten. Dadurch spart die AHV 1,4 Milliarden Franken im Jahr. Obwohl es sich mit Blick auf die Männer um eine Angleichung handelt, sieht der Bundesrat «Ausgleichsmassnahmen» für die Frauen vor. Die ersten neun betroffenen Jahrgänge erhielten Rentenzuschläge oder einen «Rabatt» beim Vorbezug. Dies kostet die AHV vorübergehend bis zu 0,7 Milliarden Franken im Jahr.

  • Der Bundesrat plant neue Regeln für jene, welche die AHV vor oder nach 65 beziehen. Neu wäre der Vorbezug für alle schon ab 62 möglich. Erstaunlich,aber wahr: Frühpensionierungen sollen finanziell interessanter werden. Wer vor 65 in Pension geht, müsste weiterhin eine Kürzung der Rente hinnehmen, aber diese fiele milder aus als heute. ImAlter 63 beträgt die Kürzung heute 13,6 Prozent, neu wären es noch 77 Prozent.Dies lässt sich rechnerisch wegen der gestiegenen Lebenserwartung begründen, politisch ist die Idee aber umstritten. Damit würde ein anachronistischer Anreiz gesetzt, den Arbeitsmarkt früher zu verlassen. Mit derselben mathematischen Logik würden die Rentenzuschläge für jene, die über 65 hinaus arbeiten, kleiner ausfallen als heute.

    Weil die Sätze der Mehrwertsteuer in der Verfassung festgelegt sind, wird es zu diesem Teil der Vorlage zwingend eine Abstimmung geben. Gegen den anderen Teil ist wegen des Frauen-Rentenalters mit einem Referendum von links zu rechnen. Zudem kann das Parlament die Reform so gestalten, dass sie nur in Kraft tritt,wenn beide Teile eine Mehrheit finden