Maskenpflicht: Keine Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen

(Inclusion Handicap)

Medienmitteilung vom 03.07.2020: COVID-19-Verordnung

Ab kommenden Montag gilt im öffentlichen Verkehr die Maskenpflicht, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Ein Teil der Menschen mit Behinderungen ist von der Pflicht befreit. Unter Umständen gefährden sie sich sogar selber. Inclusion Handicap fordert ÖV-Passagiere und Transportunternehmen auf, diesen Umständen Rechnung zu tragen und einer Stigmatisierung vorzubeugen.

Der Bundesrat hält in der Verordnung fest, dass ein Teil der Bevölkerung von der Maskenpflicht ausgeschlossen ist. Dies sind «Personen, die aus besonderen Gründen, insbesondere medizinischen, keine Gesichtsmasken tragen können». Dies gilt für einen Teil der Menschen mit Behinderungen, wenn sie z.B. die Masken nicht selbstständig an- und abziehen können.

Ein paar Beispiele:

– Ein Teil der Bevölkerung kann wegen motorischen Einschränkungen keine Maske an und abziehen, so z.B. Personen mit Tetraplegie oder gewissen Muskelkrankheiten.

– Eine Maske kann bei einem akuten Krampfanfall (z.B. Epilepsie) oder bei Atemwegserkrankungen das Erstickungsrisiko erhöhen

– Für Passagiere mit Autismus kann eine Maske Stress und Panik auslösen, der zu einem sog. Meltdown führen kann. Für viele ist das Maskentragen eine zu grosse sensorische Herausforderung.

– Viele Personen mit einer Hörbehinderungen sind für die Kommunikation darauf angewiesen, die Lippen des Gegenübers zu lesen.

Es gibt vielfältige und zum Teil individuelle Gründe, weshalb gewisse Menschen mit Behinderungen keine Masken tragen. Inclusion Handicap ruft deshalb die ÖV-Nutzerinnen und -Nutzer sowie die Transportunternehmen auf, diesen Umständen Rechnung zu tragen, und einer Stigmatisierung vorzubeugen. Oftmals sind Behinderungen auch nicht auf den ersten Blick sichtbar. Betroffene haben gute Gründe, weshalb sie keine Maske tragen (und dies auch nicht müssen). Im Zweifelsfalle hilft vorurteilsloses Nachfragen.

Selbstverständlich unterstützt Inclusion Handicap die Massnahmen des Bundesrates und des Bundesamtes für Gesundheit, um eine erneute Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.

Körperlich fit, doch die Psyche krankt

(schweizer-illustrierte.ch)

Körperlich fit, doch junge Frauen leiden häufig unter Angst

Presented by Sanitas

Junge Frauen zelebrieren einen gesunden Lifestyle, gehen sorgsam mit sich um und leiden trotzdem viel häufigerals Männer unter Stress und Angstgefühlen. Doch immer öfter stehen sie hin, thematisieren ihre psychischen Probleme und leisten damit einen wichtigen Beitrag, um ein Tabu zu brechen.


Junge Frauen leiden überdurchschnittlich häufig unter Angstgefühlen und Stress. Getty Images

 

Wir meditieren, ernähren uns gesund und wissen um die Wichtigkeit von Selfcare: Junge Frauen sind im Alltag überdurchschnittlich gesundheitsbewusst. Und trotzdem fühlen wir uns häufig gestresst, verspüren Angst undpsychischen Druck.

23 Prozent der Frauen zwischen 18 und 29 Jahren leiden unter Angstgefühlen im Alltag. Bei ihren männlichen Altersgenossen sind es 13 Prozent, bei den Frauen zwischen 60 und 74 Jahren bloss fünf Prozent. Dies zeigt der Sanitas Health Forecast, die erste grosse und schweizweit angelegte Studie zur Gesundheitszukunft der Schweiz.

Beim Thema Stress zeigt sich ein ähnliches Bild: Während 8 Prozent der Frauen zwischen 60 und 74 Jahren und 26 Prozent der Männer zwischen 18 und 29 angaben, im Alltag häufig bis sehr häufig gestresst zu sein, beträgt dieser Wert bei den jungen Frauen 44 Prozent. 62 Prozent von ihnen fühlen sich zudem psychischem Druck ausgesetzt aufgrund ihrer Rolle als Frau. Dieser äussert sich hauptsächlich in Form von psychischem Stress und Schlafstörungen – Faktoren, die wiederum ein Nährboden für Krankheiten wie Angststörungen sind.

Fast jeder zehnte Schweizer leidet unter einer Angststörung

Nun müssen Angstgefühle nicht zwingend eine Angststörung im pathologischen Sinne bedeuten. Zum Problem werden sie, wenn sie uns in unserem Alltag einschränken. Mit einer Spinnen-Phobie oder Höhenangst etwa, lässt sich wesentlich besser leben als mit plötzlich auftretenden Panikattacken oder chronischer Angst. Doch genaud avon sind laut Pro Infirmis in der Schweiz rund 800’000 Menschen betroffen – überdurchschnittlich oft sind die Patienten weiblich.

Wie verbreitet diese psychische Erkrankung ist, wurde in den letzten Jahren deutlich. Immer mehr Stars machen ihre Erfahrungen damit publik. Von Kendall Jenner über Selena Gomez bis zu Ariana Grande reicht die Liste der Betroffenen, die über ihre Angststörungen sprechen und damit einen wichtigen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten – und viele folgen ihrem Beispiel.

Der erste Sanitas Health Forecast


Wirft einen vertieften Blick aufs Thema Gesundheit: der Sanitas Health Forecast. ZVG

 

Über 90 Storys über das, was uns heute und morgen zum Thema Gesundheit bewegt

Der Sanitas Health Forecast ist die erste Publikation zur Gesundheitszukunft der Schweiz. Herausgegeben von Sanitas und recherchiert und geschrieben von einer Redaktion aus 30 unabhängigen Journalisten, wirft er jährlich einen Blick auf das, was Schweizerinnen und Schweizer hinsichtlich ihrer Gesundheit in Zukunft erwartet. Mit spannenden Einsichten – etwa zu Female Health, Ernährung und psychischer Gesundheit – und vielen persönlichen Geschichten.

Hier könnt ihr den Sanitas Health Forecast für 18 Franken bestellen

Während es unseren Grosseltern nicht im Traum in den Sinn gekommen wäre, öffentlich über (psychische) Krisen zu sprechen, wird das Tabu von den Millennials aufgebrochen. Gibt man auf Instagram das Stichwort «Anxiety» einerscheinen über 13,5 Millionen Beiträge, unter «Mental Health» 16 Millionen. Seine negativen Gefühle publik zu machen, scheint damit fast genauso im Trend zu liegen, wie #selfcare mit all den Workouts, Smoothies und Yoga-Übungen.

Professionelle Hilfe statt Insta-Sprüche

Dass man die Schattenseiten des Lebens nicht mehr versteckt und psychische Probleme thematisiert, ist eine positive Entwicklung. Betroffene fühlen sich eher ernst genommen und spüren: «Ich bin nicht allein.» Im Ernstfall helfen ihnen aber keine motivierenden Sprüche und Tutorials à la «10 Ways to Happiness». Dann wird professionelle medizinische Beratung nötig. Das weiss auch die 23-jährige Gina, der eine generalisierte Angststörung diagnostiziert wurde, und die im Sanitas Health Forecast ihre Geschichte erzählt.

Gina litt unter einer dauernden Anspannung. Ihre grösste Angst war es, etwas nicht rechtzeitig zu erledigen. So arbeitete sie bereits in der Kantonsschule von morgens um sieben bis abends um 12 durch. Während ihres Philosophie-Studiums verschärfte sich die Situation. Gina führte mehrere Agenden, tippte sich ständig Erinnerungen ins Smartphone und war dauernd damit beschäftigt, ihre unzähligen To-do-Listen abzuarbeiten. «Ich habe mich schon immer extrem über Leistung definiert», sagt sie. Doch irgendwann hielt sie dem selbst auferlegten Druck nicht mehr stand: «Ich konnte nicht mehr schreiben, essen und schlafen», erinnert sie sich. Damals beschloss sie, sich professionelle Hilfe zu holen.

Therapie verspricht hohe Erfolgschancen

Den Umgang und das Leben mit der Angst kann man trainieren. «Lassen sich die Patienten frühzeitig behandeln,liegen die Erfolgschancen bei 80 bis 90 Prozent», sagt Thomas Heinsius, Leitender Arzt der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (ipw). Häufig wird die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie angewendet

Betroffene lernen dabei unter anderem, dass wir bei Angst auf drei Ebenen reagieren: körperlich, emotional und gedanklich. Der Körper schüttet Adrenalin aus, es kommt zu Herzklopfen, Schwindel und Zittern. Das Gefühl der Unruhe breitet sich aus und Gedanken wie «ich drehe durch» verstärken den Angstkreislauf. «Verstehen die Patienten die Dynamik ihrer Ängste, können sie besser mit ihnen umgehen», sagt Heinsius.

Die Sensibilität und das Verständnis schärfen

Gina lässt sich von ihnen nicht mehr einschränken. Obwohl bei ihr vor allem der Anspruch an hohe schulische Leistungen die Ängste auslöste, beginnt sie nach dem Bachelor-Studium mit dem Master. Zudem hat sie den Blog dailycupofmadness.com ins Leben gerufen. Auf diesem lässt sie Betroffene von ihren psychischen Krankheiten erzählen.

Es kommen beispielsweise Menschen mit Zwangsstörungen, Schizophrenie und Bulimie zu Wort. Das Ziel der 23-Jährigen ist es, psychische Erkrankungen einfach und zugänglich aufzubereiten. «Ich gebe Erfahrungen weiter und will dadurch die Sensibilität und das Verständnis für dieses Thema schärfen», erklärt Gina. Fast jeder, mit dem sie sich länger unterhalte, habe irgendetwas, meint sie und ergänzt: «Ob das tatsächlich an unserer Generation liegt,oder ob wir einfach offener darüber sprechen, weiss ich auch nicht.»

vor 12 Minuten

Stadt Zürich verbessert die Gleichstellung

(Insieme Magazin / deutsche Ausgabe)

Die Stadt Zürich hat einen ersten Massnahmenplan zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung beschlossen. Berufsbildung, Arbeit und Informationen in leichter Sprache: In diesen und weiteren Bereichen will sich die Stadtverwaltung in den nächsten Jahren verbessern. Im neuen Massnahmenplan fehlt leider die schulische Integration. Obwohl die Stadt Zürich in diesem Bereich weiter ist als viele andere Gemeinden, besteht hier noch grosser Handlungsbedarf. insieme Schweiz begrüsst, dass der Stadt Zürich die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungein Anliegen ist und die Stadt das Thema in ihrer Verwaltung angeht. Bei der Umsetzung müssen Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Angehörigen unbedingt einbezogen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden.

Neuer Elan für Selbstvertretung in der Romandie

(Insieme Magazin / deutsche Ausgabe)

Nach der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz hat die Bewegung der Selbstvertretung inder Westschweiz 2015 Fahrt aufgenommen. Die Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter haben sich Gehör verschafft, um diese Rechte auch im Alltag umzusetzen. Das Projekt «insieme inklusive greift auch in den Westschweizer Kantonen.

Text: Martine Salomon – Fotos: zvg

Rund zehn Besucherinnen und Besucher mit geistiger Behinderung betreten das Gebäude des Grossen Rats des Kantons Waadt, beeindruckt von der Architektur des Baus. Ein Sekretariatsmitglied erklärt ihnen mithilfe eines Videos, wie das Kantonsparlament funktioniert und wie die Sitzverteilung der Parteien im Saal aussieht. Sie lassen sich auf der Tribüne nieder und hören den Debatten zu. Die erste Vizepräsidentin begrüsst die Gäste offiziell. Anschliessend nehmen sie an einem reichen Imbiss in der Cafeteria teil, bei dem ihnen einige Parlamentsabgeordnete die Hand geben. Dies erfüllt die Besuchermit Stolz. «Wir wurden wie Päpste empfangen», sagt Doriane Gangloff, Ausbildnerin und Coach der Selbstvertreter, welche die Gruppe Anfang März begleitet hat. Diese hatte sich bereits im letzten Herbst getroffen, um sich über die eidgenössischen Wahlen zu informieren.Dabei konnten die Mitglieder auch drei Waadtländer Kandidaten treffen.«Allestellten Fragen. Einige erteilten den Politikern gar Ratschläge! Diese blieben viel länger als vorgesehen. Die Atmosphärewar aufrichtig und entspannt.»

Diese Personen bilden die erste «insieme inklusiv»-Gruppe in derRomandie . Nachdem das Konzept in der Deutschschweiz lanciert worden war, setzte es Doriane Gangloff für insieme Schweiz zusammen mit den Regionalverbänden auch in der Westschweiz um, zuerst in der Waadt, später in den anderen Kantonen.Ziel ist es, diese Menschen dabei zu unterstützen, sich ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden, sich auszudrücken und sich zu behaupten:«Wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, haben sie viel zu sagen!»Einmal auf individueller Ebene, für ihr eigenes Leben. Auf einer zweiten Ebene können sie verstärkt auch global Einfluss nehmen und sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen.«Hier war eseinfach, denn diese Politiker waren in Sachen Behinderung bereits sensibilisiert. Den Selbstvertretern ist jedoch nicht zwingend bewusst, dasses auch Persönlichkeiten geben könnte, die ihre Anliegen nicht unterstützen! Darauf muss man sie vorbereiten.»

Seine Rechte wertschätzen

Den Menschen mit Behinderung eine Stimme geben. Das ist die Motivation des Projekts «Rechte und Partizipation», das vom Verein ASA Handicap Mental geleitet wurde. Im Jahr 2014 ratifizierte die Schweiz die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mitBehinderungen (UNO-BRK). ASA Handicap Mental bildete darauf in den sechs französischsprachigen Kantonen Diskussionsgruppen zu diesem Thema. Dazu nahm sie Kontakt mit den betreffenden Einrichtungen auf, die wiederum 53 Personen mit Behinderungen vorschlugen (6 bis 12 pro Gruppe), in Begleitung von 16 Fachleuten.Alle Mitglieder hatten einen Bezug zu den Institutionen, auch wenn einige ausserhalb wohnten. «Sie ergriffen die Chance, denn sie hatten sich bereits in ihren Institutionen eingesetzt, um etwas zu bewirken. Ohne es zu wissen, waren sie also bereits so etwas wie Selbstvertreter. Da sie sich schon sehr früh ihrer Rechte bewusst waren,wollten sie noch weiter gehen», erklärt Doriane Gangloff, die den Prozess begleitet hat.

Sie lernten, in der Öffentlichkeit zu reden, und wurden mit den Rechten vertraut gemacht, die in der UNO-BRK stehen. 2015 kamen sie 10- bis 15-mal zusammen, um diese Rechte mit der Realität in ihrem Alltag zu vergleichen: Privatleben, Unterkunft, Familie,soziale Kontakte, Schul- und Berufsleben, Verwaltung, Politik, Jus-tiz, Sport und Kultur. Sie listeten die Hindernisse auf und schlugenLösungen vor. Das Ergebnis ihrer Überlegungen wurde im Dossier«Anerkennt unsere Rechte!» publiziert. Dieses wurde an Bundesrat Alain Berset, den Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), an die Verantwortlichen der Institutionen sowie an die Zuständigen der Kantone verschickt.

Auswirkungen


Wie geht Politik? Besuch im Waadtländer Kantonsparlament.

 

«Ich habe Probleme beim Ausfüllen von Formularen», erklärten einige der Teilnehmenden. Auch im öffentlichen Verkehr ist es nicht einfach, die Informationstafeln zu verstehen oder am Automaten ein Ticket zu lösen. Noch schlimmer ist es bei Umleitungen: «Die Qualität der Lautsprecher ist schlecht, und die Durchsagen werden zu schnell verlesen.» Die Betroffenen haben auch das Gefühl, ihre Meinung für Entscheidungen im Leben oder im Alltag zähle wenig.«Oft entscheiden andere für mich.» «Ich möchte selbst bestimmen,wie ich mich kleide.» Hinzu kommen auch noch verletzende Bemerkungen oder Verhaltensweisen im sozialen Leben; «Die Leuteschauen mich komisch an.»

Von Anfang an herrschten unter den Teilnehmenden eine gute Stimmung und Wohlwollen. «Jene, die sich besser ausdrücken können,begriffen, dass sie nicht zu viel reden sollten, damit auch jene zu Wort kommen, die mehr Mühe haben», erklärt Doriane Gangloff.

Zum Auftakt des Treffens sagen alle, wie es ihnen geht, und äussern allfällige Bedenken. So kann vermieden werden, dass sie später die Diskussionen stören. Dann geht man zurTagesordnung über, welche die Begleitpersonen zusammen mit den Selbstvertretern ausgearbeitet haben. Einige der dabei präsentierten Lösungen wurden bereits realisiert. So hat die Genfer Gruppe die Jugendlichen in den Schulen dafür sensibilisiert, Menschen mit geistiger Behinderung im öffentlichen Verkehr nicht mehr zu belästigen. Auch Ärzte wurden von der Gruppe angesprochen. Denn es kommt immer wieder vor, dass sich der Arzt oder die Ärztin während der Konsultation nur an die Erziehungsbeauftragten, nicht aber an die betroffene Person wendet.

«Unser Wunsch war es, dass diese Gruppen, die im Rahmen der UNO-BRK gegründet wurden, über längere Zeit funktionieren»,sagt Doriane Gangloff. Aktiv sind aber nur noch zwei, jene in Genfund in Neuenburg. «Die Gründe dafür kann man sich etwa ausmalen. Meiner Ansicht nach war es eine Frage des Willens. Denn so eine Gruppe ist zeitintensiv und braucht Organisation, Energie und Personal.» Um zu verhindern, dass diese Gruppen obsolet werden,müssen sie von Leuten getragen werden, die eine Führungsrolle übernehmen. Wenn aber zum Beispiel Begleitpersonen aus den Institutionen den Arbeitsplatz wechselten, wurde dieses System wieder unterbrochen.

«Innerhalb der einen oder anderen Institution entstanden zwar ver-gleichbare kleine Gruppen», sagt Doriane Gangloff. «Ideal wäre jedoch, Gruppen auf Kantonsebene zu fördern, die – unabhängig von Institutionen oder Vereinen – allen offenstehen würden», glaubt sie. Diesen Wunsch haben auch mehrere ehemalige Teilnehmende ausgesprochen.


In der Öffentlichkeit des Wort ergreifen – das kann man lernen

 

Angehörige sollen für Betreuungsarbeit entschädigt werden

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Neues Behindertenkonzept
Das neue Gesetz gibt Betroffenen mehr Mitsprache. Es geht jetzt in die Vernehmlassung.
Quentin Schlapbach

Mehr Selbstbestimmung, mehr Eigenverantwortung, mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – mit diesen Prämissen verabschiedete der Kanton Bern im Jahr 2011 sein neues Behindertenkonzept. Menschen mit einer Behinderung sollten demnach grundsätzlich mehr Freiheiten erhalten, gerade auch bei der Wahl ihres Wohn- und Betreuungsortes.

Die im Behindertenkonzept festgehaltenen Grundsätze versuchen die Behörden seither auch rechtlich zu verankern,nämlich im neuen Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG). Bei der Finanzierung will der Kanton Bern einen völlig neuen Weg einschlagen: Das Geld sollen künftig nicht mehr die Behindertenheime erhalten, sondern die betroffenen Personen selbst. Sie können dann eigens bestimmen, ob sie in einer Institution oder zu Hause mit Hilfe von Angehörigen oder Assistenzpersonen leben wollen.

Es gibt ein Kostendach

Neun Jahre samt einem Pilotversuch mit über 600 Direktbetroffenen hat es nun aber gedauert,bis Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP) gestern Montag das neu erarbeitete BLG in die Vernehmlassung schicken konnte. Der Grund, wieso die Gesetzesvorlage so lange reifen musste, sind die Kosten. Während des Pilotversuchs stellte sich heraus, dass das neue «Berner Modell» zu einer massiven Ausweitung der Anspruchsberechtigung führen würde.Ende 2018 bilanzierte der Kanton, dass bei einer flächendeckenden Anwendung des Pilotversuchs Mehrkosten von rund 100 Millionen Franken entstehen würden.

Die Gesundheitsdirektion musste deshalb in den letzten eineinhalb Jahren noch einmal über die Bücher gehen. Unter anderem wechselten die Behörden die Abklärungsmethode zur Ermittlung des Betreuungsbedarfs aus. Statt des eigens entwickelten Systems «Vibel» soll das bereits in den Kantonen Zug, Baselland und Basel-Stadt angewendete Abklärungsinstrument IHP («individueller Hilfeplan») eingesetzt werden. Die Mehrkosten, die das neue Modell verursacht, konnten somit auf 20 Millionen Franken gedrückt werden


«Künftig werden die Institutionen ihr Angebot nicht nur vor dem Kanton verantworten müssen.»

Pierre Alain Schnegg (SVP)Gesundheitsdirektordes Kantons Bern

Ab 30 Minuten pro Tag

Am Grundsatz, dass Menschen mit einer Behinderung künftig die Wahl haben, in welche Setting sie betreut werden wollen, rüttelte der Kanton aber nicht. Eine grosse Änderung hat dies insbesondere für Menschen zur Folge, die derzeit zu Hause von Angehörigen betreut werden. Diese Care-Arbeit von Familienmitgliedern wurde bisher finanziell nicht entschädigt. Mit dem neuen Gesetz soll sich dies ändern.

Voraussichtlich ab Januar 2023 soll jeder Fall individuell abgeklärt werden, wobei ein Leistungsanspruch und eine Kostengutsprache bestimmt werden. Mit diesem Budget kann die betroffene Person zusammen mit den Angehörigen das ideale Setting für sich selbst zusammenstellen. Der minimale Leistungsanspruch geht von einer Betreuung von 30 Minuten pro Tag aus.

Für die Betreuung von schwer behinderten Personen wird es ein Kostendach geben, auch wenn sie sich zu Hause pflegen lassen. Derzeit gehen die Behörden von maximal 800 Franken pro Tag aus, was den Massstäben der Leitung der Koordinations-und Beratungsstelle für äusserst anspruchsvolle Platzierungssituationen entspricht.

Gesetz ab 2023 in Kraft

Die Behörden erhoffen sich mit dem neuen Finanzierungsmodell auch frischen Wind bei den Behindertenheimen. «Künftig werden die Institutionen ihr Angebot nicht nur vor dem Kanton verantworten müssen», so Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg. «Sie müssen für einen Menschen mit Beeinträchtigung attraktiv sein.» So attraktiv, dass dieser Lust darauf habe, dort zu wohnen und sich betreuen zu lassen. Die Heime sollen so vermehrt zu KMU werden, die sich auf dem Markt mit ihren Angeboten behaupten müssen.

Zuerst geht das Gesetz nun aber in die Vernehmlassung, wo Parteien, Verbände, Institutionen und Direktbetroffene sich dazu äussern können. 2021 soll die Vorlage dann in den Grossen Rat kommen. Wenn alles rund läuft,sollen die neuen Regeln bei der Behindertenfinanzierung ab Januar 2023 in Kraft treten.


Menschen mit einer Beeinträchtigung sollen im Kanton Bern mehr zu sagen haben,wie sie leben und von wem sie betreut werden möchten. Foto: Keystone

 

IV-Weiterentwicklungist unter Dach und Fach

(Walliser Bote)

Das Parlament hat endlich eine zukunftsgerichtete IV-Reform verabschiedet: Im Rahmen der IV-Weiterentwicklung hat das Parlament Voraussetzungen geschaffen, damit die Integration in den Arbeitsmarkt verbessert werden kann.

Endlich eine ausgewogene Reform. Hoffen wir, dass sie die Unternehmen im Wallis ermutigt, mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen anzubieten. Es ist einerseits erfreulich,dass sich das Parlament zu einer Reformdur chringen konnte, bei der konstruktive Lösungen und nicht nur Sparmassnahmen im Vordergrund stehen. Es ist zu hoffen, dass damit eine Trendwende eingeläutet wurde und das IV-System in Zukunft bedarfsgerecht weiterentwickelt werden kann. Andererseits gilt es nun, weiterhin bestehende Baustellen im IV-System auszumerzen,namentlich bei den Gutachten.

Auch dank dem Einsatz der Behindertenorganisationen hat sich das Parlament gegen einige einschneidende Sparmassnahmen ausgesprochen. FH-VS ist erleichtert, dass Forderungen wie die Kürzung der Kinderrenten und der Reisekosten für Eltern oder die Ausrichtung einer ganzen IV-Rente erst ab einem Invaliditätsgrad von 80 Prozent keine Mehrheit fanden. Sparmassnahmen sind ohnehin nicht angebracht: Die IV-Sanierung ist aufgrund früherer Reformen auf Kurs.

Betroffene müssen schon heute den Gürtel sehr eng schnallen,da die Praxisverschärfungen und die Sparmassnahmen der letzten Revisionen auf dem Buckel von Menschen mit Behinderungen ausgetragen wurden.Förderung der beruflichen Eingliederung ist die beste Sparmassnahme: Menschen mit Behinderungen wollen und können arbeiten. Investitionen in die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderungen entsprechen dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Teilhabe und generieren gleichzeitig langfristige Ersparnisse.

Diverse Beschlüsse wie der Ausbau von Beratungsangeboten,die Erweiterung von Integrationsmassnahmen oder der Früherfassung sollen Personen helfen, im Arbeitsmarkt zu bleiben oder Fuss zu fassen. Für FH-VS ist klar: Die beschlossenen Neuerungen sind für die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen nur ein erster Schritt. Ohne stärkeres Engagement der Arbeitgeber geht es nicht. FH-VS fordert die Unternehmen im Wallis deshalb auf, sich an diesem Prozess zu beteiligen.

Forum Handicap Wallis

Ja zur Reformder Invalidenversicherung

(Neue Zürcher Zeitung)

fab.In aller Deutlichkeit hat das Parlament am Freitag die neuste Reform der Invalidenversicherung (IV) in der Schlussabstimmung gutgeheissen. Als Einziger hat sich FDP-Ständerat Damian Müller dagegen ausgesprochen, der seinen Widerstand zuvor öffentlich kundgetan hatte (NZZ 18. 6. 20). Die Reform sorgte zwar unter bürgerlichen Sozialpolitikern für Unbehagen, weil sie auf die finanziellen Probleme des Sozialwerks keine Antwort gibt. Trotzdem wollten sie die Vorlage nicht scheitern lassen. Nun dürften die bürgerlichen Parteien versuchen, rasch eine neue Vorlage zu erwirken. Die IV ist nach wie vor verschuldet,die Sanierung dürfte durch die CoronaKrise erneut verzögert werden. Im Zentrum der vorliegenden Reform stehen einAusbau der Bemühungen für die Integration von Jugendlichen und Personen mit psychischen Erkrankungen sowie die Einführung eines stufenlosen Rentensystems.

Viele Anpassungen, keine Kontrolle

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Seit zehn Jahren hat die Stadt Bern eine Gleichstellungsfachstelle für Menschen mit Behinderungen.Wo es mit der Inklusion klappt und wo es noch harzt.


Hindernisfreiheit liegt oft im Detail: Fachstellenleiter Urs Germann sorgte dafür, dass die Corona-Absperrung in der Stadtverwaltungmit Holzleisten ergänzt wurde. Nun ist sie auch für sehbehinderte Menschen ertastbar. Foto: Christian Pfander

 

Edith Krähenbühl

Eigentlich ist es ganz einfach.Menschen mit einer Behinde-rung haben die gleichen Bedürfnisse wie Menschen ohne Behinderung: selbstständig wohnen, zur Schule gehen und arbeiten, mobil sein, Zugang haben zu Information, zu Behörden, zu Kultur- und Sportveranstaltungen und – zu öffentlichen Toiletten.

Wenn es jedoch darum geht,diese Bedürfnisse im Alltag zu leben, wird es für Menschen mit Behinderung schwierig. Oft stossen sie im Alltag auf Hindernisse: holprige Pflastersteine in der Berner Altstadt, ein Informationsvideo ohne Untertitel, ein Arbeitsmarkt, auf dem eine Einschränkung ein Ausschlusskriterium ist.

Seit sechs Jahren ist Urs Germann in der Stadt Bern die erste Anlaufstelle, wenn es um den Abbau solcher Hindernisse im städtischen Raum und innerhalb der Stadtverwaltung geht. Der Leiter der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (FGMB) hat sein Amt 2014 von seinem Vorgänger Brian McGowan übernommen.Mc Gowan war der Erste, der ineiner Schweizer Stadt je eine Fachstelle für Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen geleitet hat. Bern hat mit der Gründung der Fachstelle im Jahr2010 Pionierarbeit geleistet.

«Auch Kommunikation kannein Hindernis sein»

«In der Anfangszeit brauchtees die Fachstelle, um Gleichstellung und Barrierefreiheit zu thematisieren und die Stadtverwaltung darauf aufmerksam zu machen, dass sie dazu verpflichtetist, Gleichstellungsmassnahmen umzusetzen», sagt Urs Germann.Damals habe man vor allem an bauliche Anpassungen gedacht.«Noch heute ist die Diskussionum Hindernisfreiheit und Inklusion stark vom Bild einer Personim Rollstuhl geprägt. Dass in unserer modernen Gesellschaft auch Kommunikation ein Hindernis darstellen kann, ist vielen nicht bewusst.»

Durch die Corona-Krise seien aber in diesem Bereich Fortschritte gemacht worden, stellt Urs Germann fest. Medienkonferenzen des Bundesrates zum Beispiel sind simultan von Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzt worden und waren so auch für gehörlose Menschen zugänglich. In der Corona-Krise zeigte sich jedoch auch, dass immer wieder auf Gleichstellung aufmerksam gemacht werden muss. Die Absperrbänder in der Eingangshalle zur Bundesgasse 33, wo sich unter anderem das Alters- und Versicherungsamt befindet, wurden zuerst so angebracht, dass sie für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung nicht wahrnehmbar waren. Nach einer Intervention von Urs Germann wurde die Absperrung umplatziert. Sie ist nun auch mitdem Blindenstock ertastbar.

Es sind kleinere Massnahmen wie die Umplatzierung der Absperrbänder und grosse Projekte wie der Umbau des Berner Bahnhofs, die Urs Germann begleitet. Seit 2018 ist er nicht mehr allein für die Fachstelle zuständig. Diese wurde vergrössert, nun teilt er sich die Aufgaben mit seiner Stellvertreterin Tina Schai.

Wenn Urs Germann vom Leben mit einer Beeinträchtigung spricht, fliessen auch eigene Erfahrungen mit ein. Der 47-Jährige hat seit seiner Kindheit eine Hörbehinderung. Für ihn ist es wichtig, dass er im Gespräch die Lippen seines Gegenübers sehen kann. Dank Hörgeräten konnte er fliessend sprechen lernen,nur hin und wieder wiederholt er eine Silbe mehrmals oder schiebt ein «und» ein. Als er sich als Leiter der FGMB bei der Stadt bewarb, war seine Beeinträchtigung gleichzeitig eine Qualifikation. «Dass ich eigene Erfahrungen im Umgang mit einer Behinderung habe, ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit und gibt der Fachstelle eine höhere Legitimation», erklärt Germann.

«Gleichstellung ist etwas, was alle Gesellschaftsbereiche umfassen muss.»
Urs Germann Leiter der Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

Bindeglied zwischen Verwaltung und Betroffenen

Seit zehn Jahren ist die FGMB das Bindeglied zwischen Behindertenorganisationen, der Bevölkerung und der Stadtverwaltung.Urs Germann und Tina Schai beraten die städtischen Dienststellen, die Gleichstellungsmassnahmen müssen die einzelnen Direktionen umsetzen. So arbeitet die Stadt beispielsweise seit zwei Jahren daran, ihre Website barrierefreier zu gestalten. Die am häufigsten gesuchten Informationen, wie diejenigen zur Abfallentsorgung, werden in Video-clips in Gebärdensprache sowie in Leichter Sprache für Menschen mit kognitiven Einschränkungen zur Verfügung gestellt.

Das Projekt «Umsetzung hindernisfreier öffentlicher Raum»soll die Zugänglichkeit des öffentlichen Raumes langfristig verbessern. Mit dem Nachteilsausgleich in der Kulturförderung hat die FGMB erreicht, dass Kulturveranstaltungen auch für Menschen mit Beeinträchtigung zugänglich werden,sei dies durch die Finanzierung von baulichen Anpassungen oder in Gebärdensprache.

Ein Bereich, in dem die Zielvorgaben noch nicht erreicht wurden, ist die Personalpolitikder Stadtverwaltung. Eine von hundert ausgeschriebenen Stellen sollte gemäss Gemeinderatsbeschluss bis Ende 2020 durcheine Person mit einer Behinderung besetzt werden. Doch: «Wir wissen nicht, ob die Stadt diese Vorgabe erfüllt», sagt Urs Germann. Es fehle das Messinstrument. «Behinderung ist nicht eine feststehende Grösse, sondern ein komplexes und fluides Phänomen.» Beeinträchtigungen, seien es körperliche oder psychische, sind noch immer mit Vorurteilen belegt. Aus diesem Grund ziehen es Betroffene oft vor, diese dem Arbeitgeber nicht mitzuteilen, wenn sie die Leistung nicht beeinträchtigen.

Eine übergeordnete Kontrollstelle fehlt

Die Stadt hat zwar ein sogenanntes Gleichstellungsportfolio, aber keinen Massnahmenplan zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Deshalb gibt es nur punktuelle Zielvorgaben. Gemäss dem Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 und der UNO-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 ratifiziert hat, sind Gemeinden,Kantone und der Bund in ihren Zuständigkeitsbereichen selbst für die Einhaltung und Umsetzung zuständig. Es fehlt eine übergeordnete Stelle, die Gleichstellungsmassnahmen koordiniert und kontrolliert. Urs Germann sieht deshalb auch nach zehnjährigem Bestehen eine wichtige Aufgabe der FGMB darin, aufzuzeigen, wo die Stadt Verpflichtungen erfüllen muss.Eine Standortanalyse in Zusammenarbeit mit Betroffenen, Behindertenorganisationen und der Berner Fachhochschule soll bis 2021 zeigen, wo noch Handlungsbedarf besteht

Germann selber wird die FGMB auf Ende Juli verlassen,um beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung als wissenschaftlicher Mitarbeiter anzufangen. Auch dort wird er sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen: «Gleichstellung ist etwas, was alle Gesellschaftsbereiche umfassen muss.»

Aufgrund der Corona-Pandemie musste die Stadt Bern die Feierzum 10-Jahr-Jubiläum der FGMB absagen. Als Ersatz hat sie eine Videobotschaft von Gemeinderätin Franziska Teuscher (Grüne) und einen künstlerischen Beitrag der «Heiteren Fahne» veröffentlicht.


Treppen können sowohl für Geh- als auch für Sehbehinderte ein Hindernis darstellen. Fotos: Raphael Mose

 


Ein Hindernis: Pflastersteinein der Altstadt.

 


Verwaltungsgebäude an der Predigergasse 5: Verbesserte Zugänglichkeit durch Leitlinien für Sehbehinderte.

 


Hindernisfrei: Der Spielplatz Tscharnergut wurde 2017 nach einerNeugestaltung als «Spielplatz für alle» eröffnet.

 

Aargau setzt UN-BRK um

(Curaviva / deutsche Ausgabe)

Das aargauische Kantonsparlament hat ein neues Betreuungsgesetz für Menschen mit einer Behinderung einstimmig genehmigt. Es soll ermöglichen – wie es die Uno-Behindertenrechtskonvention(UN-BRK) und das Behindertengleichstellungsgesetz in der Schweiz (BehiG) festlegen -, dass Menschen mit einer Behinderung selbst entscheiden können,wo sie leben und wohnen möchten. Bislang gab es Unterstützungsbeiträge nur für Menschen in einer Institutionen. Das wird nun anders – damit die Menschen mehr selbst über ihr Leben bestimmen können, aber auch, damit falsche finanzielle Anreize verhindert werden.

«Das haut mich von den Socken»

(Solothurner Zeitung)


Wird auch als Systemfehler bezeichnet: Krankenkassen dürfen Transporte nur zur Hälfte bezahlen. Bild

 

Ein krankes Kind fällt durch Lücken im System, die Mutter steht vor finanziellen Sorgen, bis ein Nachbar Geld sammelt.


Deborah Hasler. Bild;zvg

 

Noelle Karpf

Es ist ein Einzelschicksal, das kürzlich mehrere Menschen bewegt hat. Ein Einzelfall, der Baustellen im System aufzeigt. Das Ganze spielt sich in Solothurn ab. Hier wohnt Deborah Hasler mit ihren beiden Kindern. Der Jüngere, mittlerweile zwanzig Jahre alt, leidet unter spinaler Muskelatrophie. Das bedeutet vereinfacht gesagt: Wenn er nicht gezielt Training macht, bilden sich seine Muskeln zurück. So braucht der junge Mann Physiotherapie, Reha -und einen Fahrdienst, der ihn dort hin, aber auch zur Schule bringt. Und hier beginnt das Problem: Bislang hat die IV die Kosten abgedeckt. Ab dem 20. Lebensjahr ist aber die Krankenkasse zuständig. Und diese hat der Mutter mitgeteilt,dass Fahrkosten nur noch zu 50 Prozent übernommen werden.«Es geht um 1900 Franken monatlich – diesen Betrag kann ich nicht zahlen», so Deborah Hasler. Das Ganze habe sie «aus der Bahn geworfen»; die Geschichte hat Hasler dann auf Facebook gepostet. Das führte zu zahlreichen Rückmeldungen – und rief auch Haslers Nachbar auf den Plan: Chris van den Broeke, Präsident der BDP im Kanton.

Über 5000 Franken in zwei Tagen gesammelt

Van den Broeke hat ein Crowdfundingprojekt gestartet, um Geld für seine Nachbarin zusammeln. Innert zwei Tagenwar das Ziel von 5000 Frankenbereits erreich. «Weil es mich aufgeregt hat», begründet van den Broeke seinen Einsatz. «Mit dieser Erkrankung ist nicht zu spassen», das Verhalten der Krankenkasse bezeichnet er als kontraproduktiv. Diese hat nämlich auch die Reha abgesetzt, mit der Begründung, der Zustand des Betroffenen habe sich nicht verschlechtert (siehe auch: «Das sagt die Krankenkasse»). Nur: Die Reha habe jeweils dafür gesorgt, dass sich der Zustand des Sohnes nichtverschlechtert hat; laut Deborah Hasler lief die Physio jeweils besser.

So oder so: Ohne Fahrdienst kann der junge Mann weder in die Reha noch in die Physio. Die Autoprüfung hat er noch nicht, laut der Mutter hat er aber Sehtest und Nothelferkurs im Kasten. Das Problem hier: Er bräuchte ein umgebautes Auto. Auch das kostet. Die IV zahlt zwar den Umbau, nicht aber das Fahrzeug selbst.

Mit dem Crowdfundingprojekt, das noch weiterläuft, sind mittlerweile schon knapp 8000 Franken zusammengekommen für die Familie. «Das haut mich aus den Socken», kommentiert Hasler. «Die Anteilnahme berührtmich extrem – so viele Leute haben etwas beigesteuert; und dabei herrscht ja für viele selbst Krisenzeit.» Mit dem Geld kann Hasler die nötigen Fahrkosten für mehrere Monate stemmen, die Familie hat also etwas Zeit geschenkt erhalten. Was die Reha angeht, so wolle sie nochmals intervenieren bei der Krankenkasse.

Nachdem sie ihre Geschichte auf Facebook geteilt hat, hat sie nämlich einiges an Informationen und auch einige Anlaufstellen erhalten. So konnte sie sich an die Pro Infirmis wenden, mit deren Hilfe sie versucht, die Reha für den Sohn wieder zu erhalten.Auch von SP-Nationalrätin Franziska Roth sei sie unterstützt worden, berichtet die Muter, was die Politikerin bestätigt. Als ungerecht beschreibt auch Roth die Situation, sie sagt aber auch: Die Kasse handelt gesetzeskonform, etwa,was die Transportkosten angeht.Laut Roth gibt es aber mehrere Baustellen im System, gerade etwa die Vorgabe zu den Transportkosten. «Das widerspricht der UNO-Behindertenrechtskonvention», so Roth. Sie wolle sich dafür einsetzen, dass diese konsequent umgesetzt werde, alle Menschen gleich behandelt würden. Aufgrund einiger Lücken im System
fielen manche heute noch durch die Maschen. So wie der Sohn von Hasler. Für allfällige Systemänderungen braucht es aber Zeit. Kurzfristig hat die Familie aus Solothurn dank des Crowdfundingprojekts zumindest ein finanzielles Polster erhalten. Hasler betont, sie wolle kein Mitleid suchen mit ihrer Geschichte. «Ich will einfach zeigen, dass etwas falsch läuft im System.»

Das sagt die Kasse

«Es ist uns bewusst: Eine schwerwiegende chronische Krankheit verursacht nicht bloss viel menschliches Leiden, sondern ist zumeist auch mit finanziellen Konsequenzen verbunden», schreibt die zuständige Krankenkasse EGK. Ihr liege es aber fern, auf Kosten der Gesundheit eines Menschen zu sparen – man halte sich an die massgebenden Richtlinien. Wie auch Nationalrätin Franziska Roth festgestellt hat,handelt die EGK bezüglich Transportkosten gesetzeskonform: Bei Transportkosten schreibt das Krankenversicherungsgesetz vor,dass diese zu 50 Prozent bis zu einer Höhe von 500 Franken jährlich bezahlt werden. Und die IV,welche mehr zahlt, wird ab dem 20. Lebensjahr von der obligatorischen Krankenversicherung abgelöst. Für eine stationäre Reha,heisst es weiter, müsse ein «akutes medizinisches Problem» odereine «erhebliche Verschlechterung» vorliegen. Der Vertrauensarzt habe diesen Punkt sorgfältig beurteilt; die Gesuche hätten abgelehnt werden müssen. Man habe «materiell eine korrekte Beurteilung vorgenommen», so die EGK. «Was die Kommunikation betrifft, besteht in unseren Augen Verbesserungspotenzial, wenn wir es nicht geschafft haben, die geänderten Rahmenbedingungen plausibel zu machen.»(nka)