Als «anormal» noch normal war

(Bieler Tagblatt)

Olten Vor 100 Jahren ist «Pro Infirmis» gegründet worden. Der umtriebigen Organisation ist es wohl zu verdanken, dass 1960 schliesslich die Invalidenversicherung ins Leben gerufen wurde.


Demonstrationfür Behindertenrechte im Jahr 1981 in Bern. KEY

 

Im Jahr 1920 wurde in Olten eine Organisation mit dem haarsträubenden Namen «Schweizerische Vereinigung für Anormale»(SVfA) gegründet. Es gibt sie noch heute. Seit 1935 heisst sie Pro Infirmis. Dem Begriff «anormal» ist die Ausgrenzung eingeschrieben, denn nur das «Normale» war Jahrhunderte lang gottgewollt. In der Antike durften Väter mit Mängel behaftete Kinder aussetzen oder töten lassen. Und noch der deutsche Reformator Martin Luther empfahl,«Wechselbälger» zu ersäufen -behinderte Babys.

Bewunderte Behinderte

Bewunderte «Krüppel» gab es zwar immer schon: Hephaistos,der griechische Gott des Feuers,war gehbehindert, auf einem Auge blind und entstellt. Trotzdem wurde er als Schmied von den Göttern geschätzt. Auch die einäugigen Zyklopen waren nützlich, beispielsweise weil sie Blitze schmiedeten für Zeus. Ebenfalls halb blind und doch mächtig war der nordische Gott Odin.

Von Menschen, die früher vom herzlosen Volk «Krüppel»,«Idioten»,«Kretins» oder«Blödsinnige» genannt wurden,unterschieden sich diese «Superbehinderten» vor allem dadurch,dass sie integriert waren – etwas,was sich auch die Pro Infirmis auf die Fahne geschrieben hat.

Die SVfA war ursprünglich der Dachverband von verschiedenenin der Behindertenfürsorge tätigen Gruppen und sollte Vorstösse auf Bundesebene sowie das Sammelwesen koordinieren.

Während der Industrialisierung hatten sich die kleinen Behindertenorganisationen vermehrt: Kinderarbeit undschlechte Arbeitsbedingungen brachten neue Beeinträchtigungen hervor, während gleichzeitig Grossfamilien auseinanderfielen.

In Fabriken, Gewerbevereinen und einzelnen Quartieren wurden solidarische Kranken-, Invaliden- und Sterbe-Kassen eingerichtet, welche behinderte Mitglieder finanziell unterstützten.Der Ruf nach einer übergeordneten Invalidenversicherung (IV)wurde laut. 1919 wurde das Traktandum im Parlament erörtert,doch die Finanzierung war strittig, die Pläne gingen bachab. Immerhin entrichtete der Bund ab 1923 der Pro Infirmis Subventionen.1925 lehnte das Stimmvolk eine Volksinitiative für eine Invaliditäts-, Alters- und Hinterlassenenversicherung(AHV)ab,stimmte aber ein halbes Jahr später einem Verfassungsartikel zu,der dem Bund erlaubte, eine Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) auszuarbeiten -unter Vorbehalt der Realisierung einer IV zu einem späteren Zeitpunkt. Doch bis dahin sollte es noch 35 Jahre dauern.

Seit 1929 Beratungsstellen

Inzwischen blieb SVfA/Pro Infirmis nicht untätig. 1929 wurdenerste Beratungsstellen eröffnet,1943 gab es schweizweit schon deren 11, heute sind es um die 5o.

Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Invaliden-versicherung 1960 veränderte sich die Rolle von Pro Infirmis:1966, bei Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Ergänzungsleistungen, erhielt die Pro Infirmis Subventionen, um auch finanzielle Leistungen an Menschenmit Behinderung zu entrichten.

Pro Infirmis setzt sich seither für eine bessere Betreuung von behinderten Menschen durch die Invalidenversicherung und insbesondere für Eingliederungsmassnahmen ein.Seit den 1990 er-Jahren forderte sie wie derholt eine bessere Integration und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Mit der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes 2004 war das teilweise erreicht.

Die Finanzierung der Dienstleistungenerfolgtzurund6o Prozent über Leistungen der öffentlichen Hand und zu 40 Prozent aus privaten Mitteln.

Jährlich führt Pro Infirmis gemäss Jahresbericht 245 000 Beratungen durch. Sie richtet 15,8 Millionen Franken Direkthilfe aus und entlastet während 90 000 Stunden Angehörige. sda

Paten gesucht

(Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern)

Das Projekt Ponto sucht Freiwillige, die einem Kind von psychisch erkrankten Eltern Zeit schenken möchten.

Das neue Projekt Ponto von Espoir und Pro Infirmis Zürich bietet Hilfe und Entlastung für Kinder von psychisch erkrankten Eltern.Sie verbringen einen halben Tag pro Woche mit einer Patin oder einem Paten aus ihrer Umgebung. Dort erfahren sie einen altersentsprechenden Alltag und knüpfen neue Kontakte.Im Gegenzug erhalten die Eltern Zeit für sich und können Energie für den Alltag mit den Kindern gewinnen. Ponto sucht freiwillige Familien, Paare oder Einzelpersonen,die ein Patenkind während drei Jahren einen halben Tag pro Woche Aufmerksamkeit schenken. Eine Fachperson begleitet die Patenschaft. (pd.)

Kontakt: Rina Lombardini, Telefon 043 501 24 74,r.lombardini@vereinespoir.ch.

Für einen hindernisfreien Kulturbesuch

(Ensemble SBKV)

Die Fachstelle «Kulturinklusiv» von Pro Infirmis, Migros Kulturprozent und «Sensability»haben einen Wegweiser für inklusive Veranstaltungen der Performing Artsherausgebracht. Er richtet sich insbesondere an Veranstalter der Darstellenden Künste. Er zeigt auf, was es fü reinen hindernisfreien Kulturbesuch braucht – von der barrierefreien Vorinformation über die inhaltlichen Zugangshilfen zur Veranstaltung bis hin zur Heimreise der Gäste. Er informiert Kulturveranstalter über spezifische Bedürfnisse von Besucherinnen und Besuchern mit unterschiedlichen Behinderungen. Und er zeigt auf, wie sie diese Zugangshürden für alle Behinderungsformen abbauen können – detailliert und über Checklisten, praxisbezogen und pragmatisch. Das barrierefreie PDF «Ein hindernisfreier Kulturbesuch» kann kostenlos auf kulturinklusiv.ch heruntergeladen werden.

Download – deutsch

Pro Infirmis fordert am WEF gleiche Rechte für Menschen mit Behinderung

(pro-infirmis)

Menschen mit einer Behinderung sollen ohne Hindernisse und Diskriminierung am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können! Pro Infirmis fordert deshalb am Weltwirtschaftsforum in Davos gleiche Rechte für alle Menschen bei Bildung und Arbeit. Christian Lohr, Vizepräsident von Pro Infirmis, nimmt am Donnerstag, 23. Januar, in Davos am „Open Forum“ teil.

„Wenn wir uns für eine inklusive Gesellschaft entscheiden, wo auch Menschen mit einer Beeinträchtigung voll am Leben teilnehmen, dann sollen sie auch die Möglichkeit haben, zur Arbeit zu gehen“, sagt Christian Lohr, Vizepräsident von Pro Infirmis und CVP Nationalrat. Ohne entsprechende Bildung geht das nicht. Nationalrat Lohr nimmt am Donnerstag, 23. Januar in Davos an der frei zugänglichen Diskussionsplattform „Open Forum“ teil.

Über 1,3 Milliarden Menschen auf der Welt leben mit einer sichtbaren oder unsichtbaren Beeinträchtigung. Menschen mit einer Behinderung sind von Diskriminierung, Ressentiments und Vorurteilen besonders stark betroffen. An der international besetzten Paneldiskussion, diskutieren Christian Lohr und andere Experten und Vertreter aus NGOs und Politik die Frage, wie man diese Situation ändern kann. „Wir müssen anhand der Diskussion aufzeigen, wie notwendig Ausbildung für Menschen mit einer Beeinträchtigung ist. Die Möglichkeit einer Arbeit nachzugehen ist zentral. Voraussetzung dafür ist eine gute Bildung und die Teilhabe an den Bildungsinstitutionen“, fordert der Vizepräsident von Pro Infirmis.

Die Zukunft kennt kein Hindernis – 100 Jahre Pro Infirmis

„Die Zukunft kennt keine Hindernisse“ – so macht sich Pro Infirmis auch in ihrem Jubiläumsjahr für eine Gesellschaft stark, welche Menschen mit Behinderung als Selbstverständlichkeit integriert und wo Barrieren abgebaut werden. Pro Infirmis feiert dieses Jahr ihr 100jähriges Bestehen und wird mit diversen Anlässen auf ihre Anliegen aufmerksam machen.

Das Open Forum ist ein Veranstaltungsformat, mit dem ein breiteres Publikum an den Aktivitäten des World Economic Forum teilnehmen kann. Das Open Forum fördert den Dialog und stärkt das Bewusstsein für kritische Themen, indem es eine Plattform bietet, auf der Ideen, Gedanken und Fragen in einem offenen Umfeld zum Ausdruck gebracht und angegangen werden können.

Die Diskussion mit unserem Vizepräsidenten Christian Lohr findet am Donnerstag, 23. Januar von 9.00 bis um 10.30 Uhr im Open Forum in Davos statt. Zum Programm:

https://www.weforum.org/de/open-forum

Die absurde Autismus-Regel

(Beobachter)

GEBURTSGEBRECHEN. Ein autistisches Kind erhältnur Hilfe von der IV, wenn die Diagnose vor dem fünften Geburtstag gestellt wird. Fachleute undEltern kritisieren das.


Moritz*

 

Moritz* ist zehn und ein stiller Bub. Seit er gehen kann, bewegt er sich nur auf Zehenspitzen. Wenn er sich aber überfordert fühlt – und das passiert oft-, wird er wütend, schreit herum und reisst sichan den Haaren.

Sprechen gelernt hat Moritz erst spät. In seiner Sprachentwicklung hinkt er den Gleichaltrigen weit hinterher, obwohl er seit Jahren heilpädagogisch und logopädisch betreut wird.Er hat oft Mühe, die richtigen Wörter zu finden. Er sagt «Loch» statt «Lavabo» und wiederholt Sätze mehrmals, bis ersie versteht. Die Schule macht ihn so müde, dass er noch als Achtjähriger einen Mittagsschlaf brauchte. Sie überfordert ihn, immer öfter weigert er sich,hinzugehen. Seit den Herbstferien war er kaum mehr da. Seine Eltern sind verzweifelt.

Die Mutter hat im Januar vor einem Jahr ihren Job als Pflegefachfrau aufgegeben, um mehr Zeit für ihn zu haben.Seit damals hat Moritz die Diagnose frühkindlicher Autismus. Das erklärt, warum er in seiner Entwicklung zurück-bleibt, auch seine Probleme mit Sprache und Kommunikation.

Lange unerkannt.Die meisten Kindererhalten die Diagnose im Alter zwischen zwei und drei, weil sie sich auffällig verhalten. Moritz bekam sie erst mit neun,obwohl er schon als Kleinkind verschiedenste Therapien machen musste. Aber niemand kam auf die Idee, dass er Autist sein könnte. Das ist Pech, denn die IV anerkennt Autismus als Geburtsgebrechen nur, wenn die Störung vor dem fünften Altersjahr diagnostiziert wird.

Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst hat Moritz trotzdem bei der IV angemeldet, damit seinen Eltern alle medizinischen Leistungen vergütet werden. Die IV lehnte das Gesuch ab.Die Behandlung des Leidens werde «nur übernommen, wenn eindeutige Symptome schon vor dem vollendeten 5. Lebensjahr erkennbar und ärztlich dokumentiert waren». So steht es auch in der Verordnung über Geburtsgebrechen zu Autismus-Spektrum-Störungen im IV-Gesetz.

Allerdings: Um die Krankheit als Geburtsgebrechen anzuerkennen, reicht es eigentlich, wenn sich nachträglich nachweisen lässt, dass die Symptome bereits vor dem fünften Geburtstag bestanden. Der Verein Autismus deutsche Schweiz und die Behindertenorganisation Procap kritisieren, dass sich die IV nicht immer an diese Regelung hält. Sie kennen zahlreiche Fälle von Kindern,deren Eltern dafür kämpfen müssen,dass die Krankheit als Geburtsgebrechen anerkannt wird, nur weil die Diagnose zu spät gestellt wurde.

Moritz‘ Eltern erhoben Einsprache gegen den Entscheid. Vergeblich. Die IV lehnte die Kostengutsprache für medizinische Massnahmen erneut ab. Die Familie hätte den Entscheid vor Gerichtanfechten können, verzichtete aber.«Ich kann nicht mehr. Immer muss ich für Moritz kämpfen. Nun hilft uns nicht einmal die IV», sagt seine Mutter. «Es ist total unfair, dass wir mit den Kosten alleingelassen werden. Wie hätten wirdenn schon früher wissen sollen, dass Moritz Autist ist? Auch die Fachleute sind damals nicht auf diese Idee gekommen.»

Problem unbestritten.So bleibt es dabei. Die Familie muss den Selbstbehalt für Medikamente und Therapien selber tragen. Das sind mindestens 300 Franken pro Jahr. Sollte später eine spezielle Therapie für Moritz nötig werden,die die Kasse nicht anerkennt, wird die Familie alle Kosten dafür selber tragen müssen. Irritierend sei, dass selbst die IV die Diagnose nicht anzweifle – und trotzdem nicht bezahle.

«Ich kann nicht mehr. Immer muss ichfür Moritz kämpfen. Nun hilft uns nichteinmal die IV.» Mutter von Moritz

Die Altersgrenze bei Geburtsgebrechen dient dazu, angeborene von nicht angeborenen Gebrechen und geringfügige von schweren Leiden abzugrenzen. Die IV zahlt nur bei angeborenenund schwerwiegenden Leiden. Bei Moritz sei das nicht der Fall, so die IV. Aus Sicht der Mutter ist das blanker Hohn.

Das für die IV zuständige Bundesamtfür Sozialversicherungen erklärt: «Es ist unbestritten, dass die in der Verordnung vorgesehenen Altersgrenzen ausmedizinischer Perspektive keine abschliessenden Kriterien für die geforderten Abgrenzungen darstellen.» Mangels besserer Alternativen seien sie dennoch als juristische Kriterien gewählt worden. Sie ermöglichten eine gute Annäherung.

In der anstehenden IV-Revision sind die Geburtsgebrechen bisher nicht traktandiert. Sie könnten dennoch Thema werden. Martin Boltshauser,Leiter des Procap-Rechtsdiensts, fordert, dass die Alterskriterien gestrichen und die medizinischen Kosten ab der klaren Diagnose übernommen werden,sofern das Leiden eindeutig angeboren und nicht erworben ist. Diese Lösung brächte auch Kindern mit psychischen Störungen Verbesserungen, zum Beispiel bei ADHS, wo die Altersgrenze heute bei neun Jahren liegt. Auch hier führt die aktuelle Regelung dazu, dass viele Kinder wegen des engen Altersrasters keine Hilfe erhalten.

Hoffen lässt ein anderer Fall: Im Frühling 2016 wurde die Chromosomenstörung Trisomie 21 in die Listeder Geburtsgebrechen aufgenommen,nachdem SP-Ständerat Roberto Zanetti 2013 eine Motion eingereicht hatte.Nun muss die IV die Behandlungen bezahlen.

BIRTHE HOMANN

Kritik an umstrittenen Vorgaben des Bunds im St. Galler Kantonsrat

(Schweizer Personalvorsorge Aktuell)

In einem Vorstoss aus dem St. Galler Parlament gibt es Kritik an den Leistungszielen des Bunds für kantonale IV-Stellen. So gelte im Kanton St. Gallen bei der «Rentenbestandsquote» die Vorgabe «halten oder senken». Jede kantonale IV-Stelle erhalte vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) Leistungsziele in drei Kategorien, schrieb SP-Kantonsrätin Bettina Surber in ihrem Vorstoss. Der Anspruch aufeine IV-Rente sei gesetzlich verankert und könne nicht an eine Budgetplanunggeknüpft werden. Die Anzahl der Renten habe der Anzahl der Berechtigten zu fol-gen – «und keinen Quoten». Die Kantonsrätin will nun von der St. Galler Regierungwissen, seit wann das BSV Leistungsvorgaben definiere und ob sich die IV-StelleSt. Gallen zusätzlich eigene Sparziele gesetzt habe. (sda)

Misstraut Berset seinen eigenen Leuten?

(Neue Zürcher Zeitung)

Der Sozialminister lässt angebliche Sparvorgabenin der Invalidenversicherung untersuchen.

FABIAN SCHÄFER, BERN


Für die Integration von Behinderten und Kranken in den Arbeitsmarkt fehlt es der Invalidenversicherung an Personal.ANNICK RAMPE NZZ

 

Auf die «Scheininvaliden» folgen die «fiesen Gutachter». In der Debatte um die Invalidenversicherung (IV) hat der Wind gedreht. Vor Jahren sorgten echte und vermeintliche Schmarotzer für Ärger. Die Kampagne, angeführt von der SVP, brachte die IV in Misskredit. Heute steht sie immer noch im Gegenwind,doch dieser bläst aus der anderen Richtung. Behindertenverbände und linke Politiker geben den Ton an. Im Visier sind primär externe Gutachter, die abklären, ob jemand arbeitsfähig ist. Sie seien oft abhängig von der IV und arbeiteten ungenau oder parteiisch, heisst es.

Neu steht aber noch ein zweiter, gravierender Vorwurf im Raum: Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) macht den IV-Stellen angeblich fragwürdige «Sparvorgaben». Dies berichteten die Tamedia-Zeitungen kurz vor Weihnachten. Eines dieser «Sparziele» beziehe sich auf die Anzahl neuer Renten pro Einwohner. Konsequent zu Ende gedacht, würde das bedeuten, dass das BSV diktiert, wie viele Renten die IV pro Jahr sprechen darf – ein eklatanter Verstoss gegen den gesetzlichen Auftrag, alle Gesuche unvoreingenommen zu prüfen.

Bundesrat sieht Klärungsbedarf

Bundesrat Alain Berset (sp.) hat bereits früher auf die Vorwürfe gegen die IV reagiert. Der Sozialminister hat Ende November eine interne Untersuchung zur umstrittenen Praxis angeordnet, wie sein Sprecher Peter Lauener sagt. Damals hat Berset auch eine Analyse zur Frage der Gutachten in die Wege geleitet. Diese Untersuchung wird extern erstellt.

Wie muss man das verstehen? Dass Berset Untersuchungen einleitet, stattdie IV zu verteidigen, erscheint wie ein Misstrauensvotum gegen die eigenen Fachleute. Sein Sprecher sagt dazu lediglich, es bestehe «Klärungsbedarf». Notwendig sei eine vertiefte Abklärung zur Art und Weise, wie die IV arbeite.

Umso erstaunlicher ist der Vorgang, weil die fragliche Praxis nicht etwa neu ist. Sie geht zurück auf die 5. IV-Revision, die 2008 in Kraft trat. Mit dieser Reform hat der Bund die Eingliederung von Behinderten und Kranken in den Arbeitsmarkt wesentlich verstärkt, etwa in Form von Umschulungen, Ausbildungen und Arbeitsversuchen. Man liess sich dies einiges kosten. Der Bund nahm für die berufliche Integration nach 2008 grössere Mehrausgaben in Kauf,die IV konnte 300 neue Stellen schaffen.Im Gegenzug sollte das BSV überprüfen, ob sich diese Investition auszahlt.Unter anderem vereinbaren das Amt und die IV-Stellen jedes Jahr mehrere Kennzahlen. Es sind diese Werte, welche die IV-Kritiker nun als «Sparvorgaben» angreifen. Das BSV weist dies zurück und spricht von «Leistungszielen».

Unabhängig vom Namen scheinen diese Ziele nicht besonders relevant zu sein. Rückmeldungen aus IV-Stellendeuten darauf hin, dass es sich eher um Planzahlen als um verbindliche Grössen handelt. Das BSV hat auch nicht versucht, die «Vorgaben» durchzusetzen.

Der Direktor der IV-Stelle Bernspricht offen über das Thema. «Ich gab dem BSV immer klar zu verstehen, dass zum Beispiel eine Vorgabe zur Quote der Neurenten rechtlich nicht infrage kommt», sagt Dieter Widmer. Stets habe er verlangt, dass entsprechende Feststellungen in der Zielvereinbarung erwähnt würden. Das Amt habe dies «anstandslos» akzeptiert. In der Vereinbarung für 2020 steht etwa, dass die Neurentenquote nur als «Planzahl» und «im Sinne einer Schätzung» anerkannt werde. Für Widmer ist der Fall damit klar: «Ich habe diese Werte nie als Vorgabe empfunden.» Er habe sie auch intern nie kommuniziert.

Noch ein zweiter Aspekt spricht dagegen, dass das BSV mit den umstrittenen Zahlen eine harte Sparpolitik durchsetzen will: Wenn die Berner IV-Stelle gewisse Ziele nicht erreicht hat -was in den letzten Jahren durchaus vorkam -, hatte dies laut Widmer keine Konsequenzen. Aus seiner Sicht bestünde auch gar keine Grundlage für Sanktionen irgendwelcher Art.

Somit blieb die fragliche Praxis in Bern folgenlos. Dennoch findet Widmer,der Sache wäre gedient, wenn das Amt künftig auf diese Planzahlen verzichten würde. Seine Sorge: Das Vorgehen spielt jenen Kreisen in die Hände, die ohnehin argwöhnen, das IV-Personal denke mehr an die Staatsfinanzen als an die Versicherten. Widmer weist diese Vorwürfe zurück: «Wir fällen keine politisch motivierten Rentenentscheide.» Man setze auf den Dialog und habe die Anzahl der Beschwerdeverfahren zuletzt reduzieren können.

Ähnlich tönt es im grössten Kanton: Auch in Zürich hatte es keine Konsequenzen, wenn ein Zielwert verfehlt wurde. Anders als in Bern werden die Zahlen intern zwar kommuniziert. Martin Schilt, Leiter der IV-Stelle Zürich,betont aber, im Alltag hätten sie keine Bedeutung. Er sieht die Ziele eher als«Wasserpegelmesser»: Sie sollen insbesondere zeigen, ob die berufliche Eingliederung vorankomme. Schilt plädiert für eine andere Auslegung der Zahlen:«Es geht nicht darum, möglichst viele Renten zu verweigern, sondern möglichst oft dafür zu sorgen, dass eine Rente gar nicht nötig ist, weil wir jemanden erfolgreich integrieren können.»

Hier sieht der Zürcher IV-Chef das wahre Problem: «Wir haben nicht genug Ressourcen, um alle Personen eingliedern zu können, bei denen das möglich wäre.» 2014 hat das BSV den Personalbestand und die Budgets der IV-Stellen plafoniert. In Zürich führe dies zu Engpässen, so Schilt. Er hat die Prioritäten zur beruflichen Integration verschoben – und nimmt in Kauf, dass andernorts Pendenzen wachsen. Das BSV arbeitet seit längerem an einem neuen Finanzierungsregime, ohne bisher einen Vorschlag präsentiert zu haben.

Finanzielle Probleme ungelöst

Der Spielraum für einen weiteren Ausbau ist allerdings klein. Die Finanzlage der IV ist angespannt, und die Politik schreckt davor zurück, die ursprünglich angekündigten Sparmassnahmen zu beschliessen. Die IV hat bei der AHV immer noch Schulden von 10,3 Milliarden Franken. Der Bund schiebt den Zeitpunkt, in dem die IV schuldenfrei sein soll, laufend hinaus. Ursprünglich war 2024 das Zieljahr. Vor zwei Jahren hiess es, «spätestens» 2030 werde man so weit sein. Derzeit – und bis auf weiteres – gilt 2032 als Stichjahr.

Koordination bei Sozialversicherungen

(Neue Zürcher Zeitung)

Gastkommentar von BRIGITTE PFIFFNERI

Ist es gerechtfertigt, dass ein Unfallopfer eher Leistungen von der Sozialversicherung erhält als ein Krankheitsopfer? Die obligatorische Unfallversicherung richtet bereits ab einer Invalidität von 10 Prozent Renten aus. Bei der Invalidenversicherung liegt hingegen die Einstiegshürde für eine Rente bei 40 PrOzent. Die Unfallversicherung kennt das stufenlose Rentensystem. Das bedeutet: Eine Invalidität von 16 Prozent ergibt eine Rente von 16 Prozent; somit entspricht der Grad der Rente dem Grad der Invalidität.

Weshalb diese Unterschiede? Erklären lassen sie sich mit der unterschiedlichen Entstehung der einzelnen Sozialversicherungszweige: Während die obligatorische Unfallversicherung aus der Fabrikhaftpflicht der Arbeitgeber entstanden ist und nur Arbeitnehmer versichert sind (Garantie des Lohnausfalls bei Betriebsunfällen und Berufskrankheiten), ist die spätere Invalidenversicherung eine Volksversicherung, bei der auch Lösungen für Klosterinsassen, für Nichterwerbstätige und Selbständigerwerbstätige zu schaffen waren. Die Leistungen der Unfallversicherung werden nach dem letzten Verdienst vor dem Unfallberechnet. Bei Vollinvalidität beträgt die Invalidenrente 80 Prozent des versicherten Verdienstes. Anderseits werden die IV-(wiedie AHV-)Renten nach Anzahl von Beitragsjahren, nach dem Verdienst und nach einer Rentenformel berechnet. Aus diesem Grund, so die Lehre, seien die beiden Versicherungsbereiche nicht vergleichbar.

Aber sollte es, trotz historisch bedingten Unterschieden, nicht auch Aufgabe des Gesetzgebers sein, die Dinge wenn immer möglich zu harmonisieren, zu vereinfachen? Je komplexer das schweizerische sozialversicherungsrechtliche Räderwerk ist, desto fehleranfälliger und auch unverständlicher erscheint es. Harmonisierung wäre indes weit mehr als die vom Nationalrat vorgeschlagene rein kosmetische Umbenennung von «Kinderrente» zu «Zusatzrente der Eltern», die ausser einem riesigen administrativen Aufwand rein gar nichts bringt.

Nach der letzten IV-Revision – der vierten in den letzten zehn Jahren – sollte nun auch in der Invalidenversicherung eine Spielart des stufenlosen Rentensystems eingeführt werden; aber nur beschränkt, nämlich im Rahmen einer Invalidität von 41 bis und mit 69 Prozent. Die hohe Einstiegshürde von 40 Prozent und damit die gewichtige Differenz zur Unfallversicherung soll bleiben- aus Kostengründen und weil «die Unfallversicherung weniger eingliederungswirksam» sei (Botschaft des Bundesrats). Letzteres erscheint mir fraglich. Wer mit Unfallversicherungen zu tun hat, weiss, dass diese schon sehr früh erfolgreich Eingliederungsmassnahmen in Gestalt von Case-Managements eingeführt hatten. Enge professionelle Begleitung der Unfallopfer hin zur Rückkehr an den Arbeitsplatz war und ist die Losung der schweizerischen Unfallversicherer.

Die Senkung der Rentenhürde in der Invalidenversicherungunter Beibehaltung des Ergänzungsleistungsanspruchs erst ab 40 Prozent Invalidität – würde zweifellos der Eingliederung dienen. Erst die Senkung dieser Hürde wäre Voraussetzung für ein durch-wegs stufenloses Rentensystem. Dabei müsste es kein Tabu sein,eine ganze Rente erst bei einer Invalidität von 80 Prozent (anstatt wie heute bei 70 Prozent) auszurichten. Hiergegen wurde im Parlament – grundsätzlich zu Recht – eingewendet, Invalide miteinem IV-Grad von 60 Prozent und darüber fänden nur erschwert Arbeit, weshalb diese Personen nicht zusätzlich schlechtergestellt werden dürften. Dabei geht vergessen, dass neben der Rente ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen besteht.

Koordinationsbedarf bestünde auch bei der geforderten «Papizeit»: Im Rahmen des Bundesgesetzes zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung könnte die «Papizeit» integriert werden. Jedermann – ob kinderlos oder Eltern – hätte im gleichen Umfang Anspruch auf eine zeitlich bestimmte jährliche Betreuungszeit. Bei einer solchenLösung müssten die neu eingeführten, letztlich unklaren Begriffe «gesundheitlich schwer beeinträchtigtes Kind», «schwer vorhersehbare Folgen» bzw. «erhöhter Bedarf an Betreuung» nicht erst durch die Rechtsprechung geklärt werden. Auch hier: Vereinfachung, Schematisierung täte not.

Brigitte Pfiffner war bis Ende 2019 Bundesrichterin; von 2017 bis 2019 war sie Präsidentin der Zweiten sozialrechtlichen Abteilung.

SOB ist gut auf Kurs, SBB muss noch zwölf Bahnhöfe um- und ausbauen

(Höfner Volksblatt)

In vier Jahren müssen alle Bahnhöfe und Bushaltestellen barrierefreies Ein- und Aussteigen ermöglichen.

von Josias Clavadetscher


Liste Bahnhöfe/Stationen

 

Mit der neuen Bundesverfassung und dem darauf basierenden «Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen» hat landesweit eine grosse Um- und Ausbauwelle eingesetzt. Bahnhöfe, Bus- und Tramhaltestellen, Luftseilbahnen sowie Schiffstationen müssen alle angepasst werden. Das Behindertengleichstellungsgesetz ist 2004 in Kraft getreten. Innert 20 Jahren, bis spätestens Ende 2023, müssten alle Anlagen barrierefrei sein.

Das ist nicht ganz einfach, da in der Schweiz mehr als 1800 Bahnhöfe bestehen. Von diesen sind gemäss einem Zwischenbericht des Bundesamts für Verkehr (BAV) etwa 820 saniert. Ein Grossteil also noch nicht. Zumindest teilweise wird man das Ziel von 2023 nicht erreichen.

Auch grosse Bahnhöfe noch auf der Warteliste

Im Kanton Schwyz sieht es ebenfalls nicht rosig aus. Aktuell waren am Stichtag 16 der total 28 Bahnhöfe und Haltestellen noch nicht saniert. Darunter im SBB-Netz grosse wie die Bahnhöfe Arth-Goldau, Schwyz, Brunnen oder Pfäffikon. Hier stehen in den nächsten vier Jahren noch erhebliche Arbeiten an. Gemäss Planung sollen so bis Ende 2023 dann fast alle mit dem Gesetz konform sein. Eine Sonderstellung nehmen die SBB-Stationen Freienbach und Pfäffikon ein, dort sind Massnahmen erst in Abklärung.


Noch nicht saniert: Im Bahnhof Schwyz sind die Fahrgäste immer noch zum «Bergsteigen»in den Zug gezwungen.Bild Jasias Clavadetscher

 

Südostbahn istbestens auf Kurs

Auffallend ist, dass die SBB wesentlich stärker im Verzug sind als die SOB. Die Privatbahn hat ihre Hausaufgaben weitgehend gemacht. Von ihren 13 Haltestellen im Kanton Schwyz sind gemäss Erhebung nur noch vier nicht saniert (Altmatt, Biberegg, Steinerberg, Sattel-Aegeri). Wichtige SOB-Bahnhöfe wie Einsiedeln, Biberbrugg, Freienbach,und mittlere wie Rothenthurm, Schindellegi sowie Wollerau sind bereits saniert. Ende 2023 wird die SOB auch die verbliebenen vier Stationen angepasst haben. Es geht dabei nicht nur um die Zugänge zu den Perrons. Derartige Rampen und Unterführungen sind an den meisten Orten erstellt worden. Es geht viel mehr um die Einstiegskanten an den Perrons. Künftig soll man in alle Züge niveaugleich und stufenfrei einsteigen können. Davon werden nicht nur Personen mit Behinderungen profitieren, sondern auch Senioren und Passagiere mit Gepäck oder mit Kinderwagen.

Diese Rechtsgrundlage gilt übrigens nicht nur für den öffentlichen Verkehr,sondern auch für neue öffentliche Bauten und Anlagen, für Neu- oder Umbauten von Gebäuden mit mehr als acht Wohnungen oder mehr als 50 Arbeitsplätzen oder für Luftseilbahnen mit neun oder mehr Plätzen.

Auch Ersatzmassnahmen sind möglich

Das Gesetz sieht allerdings vor, dass all diese Massnahmen verhältnismässig sein müssen. Eine Beseitigung der Hindernisse kann nicht durchgesetzt werden, wenn der erwartete Nutzen in einem Missverhältnis zum wirtschaftlichen Aufwand steht, dem Umwelt-,Natur- und Heimatschutz oder de rBetriebssicherheit entgegensteht. Stationen mit nur geringem Publikumsverkehr können darum Ersatzmassnahmen vorsehen.Vorübergehend ist das in Immensee, Merlischachen,Reichenburg und Schübelbach so geplant, für die Zeit nach 2023 auch weiterhin in Sisikon und Bäch. Unter Ersatzmassnahmen versteht man zum Beispiel, dass das Personal vor Ort betroffenen Passagieren beim Ein- und Ausstieg individuell Hilfe leistet.

Neben der Sanierung der Bahnhöfe sind im gleichen Zeitraum ebenfalls die Busbetriebe gefordert. Sie müssen an vielen ihrer Haltestellen, die eine gewisse Frequenz erreichen, die Einstiegskanten ebenfalls anpassen. An diesen Kosten werden sich auch die Gemeinden beteiligen müssen. Denn gemäss kantonalem Recht ist immer der jeweilige Strasseneigentümer für die Bus-Haltestellen zuständig.