Barrieren abbauen

(Walliser Bote)


Engagiert. Die Stiftung Emera unter Präsident Jean-Pierre Bringhen (Mitte) möchte Menschen mit Behinderungen das Reisen erleichternFOTO MENGIS MEDIA

 

Die Stiftung Emera will die Zugänglichkeitsdaten für 7000 Walliser Tourismusattraktionen ermitteln und veröffentlichen; mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen das Reisen zu erleichtern. Nach einer erfolgreichen Pilotphase soll das Projekt nun auf das ganze Wallis ausgeweitet werden. Dafür sucht Emera Freiwillige.

Das Wallis leistet mit diesem Vorhaben Pionierarbeit. So ist der Kanton der einzige in der Schweiz,der diesen Ansatz umfassend inseinem Gebiet umsetzen will.

Zugang zu Fotos und Infos der Räumlichkeiten

Wenn man in seinen Bewegungen,seiner Wahrnehmung oder seinen Sinnen eingeschränkt ist, ist jede Bewegung eine Herausforderung.Um sicherzustellen,dass jeder Mensch mit einer Behinderung seine Ausflüge sorgenfrei und in voller Kenntnis der Sachlage organisieren kann, hat die Stiftung Emera ein gross angelegtes Projekt zur Erhebung von Daten über die Zugänglichkeit öffentlicher Plätze im Wallis gestartet. «Die in den Jahren 2017 und 2018 in den Bezirken Siders, Leuk, Östlich Raron und Goms durchgeführten Versuche ermöglichen es, Profile von 800 Hotels, Restaurants, Museen, Schwimmbädern und anderen öffentlichen Einrichtungen zu erstellen», berichtet Olivier Musy, Direktor Sozialberatung für Menschen mit Behinderung bei der Stiftung Emera. Heute seien diese Informationen auf den meisten Websites der betroffenen Tourismuspartner verfügbar.

Menschen mit Behinderungen können so Zugang zu Fotos der Räumlichkeiten erhalten oder Infos zu den genauen Abmessungen der für ihre Bewegung und ihren Komfort wesentlichen Infrastruktur; wie beispielsweise die Breite der Türen, der Haltebügel in der Dusche, die Höhe der Tische in einem Restaurant oder die Länge des Freiraums vor der Toilettenschüssel etc. «Diese Details sind entscheidend. Derzeit geben viele Rollstuhlfahrer das Reisen auf,weil sie keine Garantie für die Zugänglichkeit haben», weiss Jérôme Bagnoud, Präsident des Rollstuhl-clubs Unterwallis, aus eigener Erfahrung und merkt an: «Dank der neuen Daten ändert sich unsere Situation grundlegend. Kürzlich hatte ich etwa eine Sitzung in Crans-Montana. So konnte ich das am besten geeignete Lokal mit zugänglichen Parkplätzen und Toiletten auswählen.» Ferner seien diese Informationen auch für andere Menschen mit eingeschränkter Mobilität wertvoll, beispielsweise für ältere Menschen oder Familien mit Kinderwagen.

6000 weitere Standorte sollen folgen

Wie Musy bilanziert, war die Pilotphase sehr zufriedenstellend:«Dazu gehörten das Testen dervon Pro Infirmis entwickelten digitalen Methode zur Datenerfassung und der Beginn einer ersten Zusammenarbeit mit den Tourismusbüros.» Das Feedback sei positiv gewesen. Somit könne das Projekt nun in einem grösseren Umfang durchstarten.

Seit November 2019 bis Mai 2021 werden dazu mehr als 6000 weitere Standorte von speziell ausgebildeten freiwilligen Datenerfassern besucht. Das erklärte Ziel: die Erhebung von Daten über die Zugänglichkeit von Points of Interest,die von den Tourismusbüros gemeldet werden. «Wir sind alle sehr begeistert von dem Projekt. Es ermöglicht uns, verschiedenen Kundengruppen einen nützlichen Service anzubieten und gleichzeitig das Bewusstsein der Tourismusakteure zu schärfen. Dieser Ansatzist nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Image des Wallis sehr positiv», findet Michael Moret, Präsident des Verbands der Kur- undVerkehrsdirektoren.

Budget von 700000 Franken

Das Budget des Projekts beläuft sich auf 700000 Franken. Finanziert wird es vom Kanton Wallis, der Loterie Romande, der Stiftung Emera, Pro Infirmis und anderen privaten Sponsoren. «Um all diese Daten zu erheben, ist die Stiftung Emera auf der Suche nach motivierten Freiwilligen», so Stiftungspräsident Jean-Pierre Bringhen. Interessierte könnten sich an Projektleiter Antoine Bellwald wenden.

Barrierefreiheit ist eine sehr aktuelle Herausforderung. Schätzungen zufolge sind 20 Prozentder Schweizer Bevölkerung körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigt. Und mit der steigenden Lebenserwartung nimmt dieser Anteil weiter zu. «Es ist sehr wichtig, dass diese Menschen Zugang zu detaillierten und zuverlässigen Informationen über die Zugänglichkeit soziokultureller Dienstleistungen haben, damit sie ihre Aktivitäten so gut wie möglich auswählen und planen und damit am sozialen Leben teilhaben können», so Bringhen. Die Verfügbarkeit solcher Informationen würde die Attraktivität des Tourismuskantons klar verbessern. mk

Nachgefragt Bei Jean-Pierre Bringhen, Präsident der Stiftung Emera

«Gemeinden haben uns gewaltig unterstützt»

Jean- Pierre Bringhen, ist der Walliser Tourismus für Menschen mit Behinderungenheute schlecht zugänglich?

«Schlecht zugänglich würde ich nicht sagen. Aber es gibt sicher grossen Nachholbedarf Wenn man den Vorgaben der UNO-Konvention für Menschen mit Behinderungen gerecht werden will,muss man im öffentlichen Bereich einiges aufholen.»

Wie wollen Sie die Situationverbessern?

«Indem wir weitere 6000 Punkte erfassen, die dann auf der Homepage von Pro Infirmis Schweiz publiziert werden. So kann jede Person überprüfen, unter welchen Bedingungen und Einschränkungen was wie zugänglich ist, sodass man sich in den Ferien zurechtfindet und auf keine überraschenden Hindernisse stösst.»

Welche Bilanz ziehen Siezur Pilotphase?

«Eine sehr positive. Die Gemeinden, die dabei mitgemacht haben,waren sehr offen und haben uns gewaltig unterstützt. Das Projekt trägt langsam Früchte und wird im Endausbau sehr attraktiv sein.»

Beim Projekt geht es zunächst darum, den Istzustand zu erfassen. Wie hoch ist die Bereitschaft, konkret etwas zu investieren, damit sich die Situation vor Ort verbessert?

«Von den ganzen Erfassungen erhoffen wir uns einen Schneeballeffekt. Mit dem Ziel, dass die Leistungsträger merken, dass wenn sie ihr Hotel, Restaurant oder Kino den Normen für Menschenmit Behinderungen anpassen, sie dann auf zusätzlichen Plattformen präsent sind, sprich davon selbst profitieren.»

Wen sprechen Sie da konkretan? DieTourismusorganisationen, die Gemeinden,die Hotellerie oder die Bergbahnen?

«Im Grunde alle und jeden, der Leute bei sich aufnimmt. Das kann sogar eine Arztpraxis sein.Was auch immer. Wichtig ist, den Menschen zu zeigen, wo sie im Wallis barrierefrei Ferien machen können.»

Also muss jeder einenBeitrag leisten…

«Das wäre fantastisch. Ohne einebreitflächige Sensibilisierung der Gesellschaft werden wir auf diesem Gebiet nicht weiterkommen.»

Menschen mit einem Handicap machen bereits 20 Prozent der Bevölkerung ausTendenz steigend. Tut sich da eine Marktnische auf, von der das Wallis als Pilotkanton auch wirtschaftlich profitieren kann?

«Im Endeffekt will der, der Geld investiert, auch einen Return on Investment. Wenn das Wallis zu einem Ort wird, an dem man unabhängig von einer Behinderung seine Ferien verbringen kann, wäre das sicher ein schönes Aushängeschild. In den Städten ist man diesbezüglich schon sehr weit. Und das Wallis als Tourismuskanton könnte da sicher eine Nische besetzen- zum Wohl aller.»
Interview: mk

Bus – und Tram betriebe in der Kritik

(Aargauer Zeitung / Gesamt Regio)

Neue Studie: In den meisten Kantonen sind Billettautomaten und Info-Anzeigen zu wenig behindertenfreundlich.

Benjamin Weinmann

Wenn jemand eine Reise tut,dann kann er was erzählen. Wer kein Ticket lösen kann, nicht.

Viele Menschen mit Behinderungen, darunter auch Senioren, sind mit diesem Problem konfrontiert – trotz deutlicher Vorschriften, die eine solche Situation eigentlich verhindern sollten. Denn seit Ende 2013 müssten die Billettautomaten sowie die Informationssysteme für ÖV-Kunden in der Schweiz hindernisfrei zugänglich sein.So steht es im Behindertengleichstellungsgesetz.

Doch die Realität sieht anders aus. Agile.ch, der Schweizer Dachverband der Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderungen, hat 156 Transportunternehmen nach dem aktuellen Stand der Dinge befragt.80 haben geantwortet. Dabei ging es um Funktionen wie akustische Kundeninformationen, Schriftgrössen, die Signalisierung für Rollstuhlwege oder die maximale Höhe des Schlitzes für den Münzeinwurf. «Diese Resultate sind ernüchternd»,sagt Agile.ch-Sprecherin Silvia Raemy. «Ein Grossteil der Firmen hat noch nicht mal angefangen oder will nicht wahrhaben, dass sie etwas tun müssten.» Die Studie liegt CH Mediavor. Ein Wert von 100 Prozent wird bei keiner der Themen erreicht. Die Erfüllungsquote liegt zwischen 19 und 90 Prozent.

Als Beispiel für eine nötige Anpassung nennt Raemy die Möglichkeit, dass ÖV-Firmen die Haltestellen und Anschlussmöglichkeiten via Lautsprecher verkünden, damit auch Menschen mit Sehbehinderungen informiert werden, wo sich das Tram gerade befindet, ob der Zug ausfällt oder wann der nächste Bus fährt. Oft höre man von den Unternehmen, dass sie in erster Linie die grossen Haltestellen mit einer Sprachfunktion ausrüsten, sagt Raemy.«Das reicht aber nicht. Was sollen denn Reisende mit einer Sehbehinderung an kleineren Stationen machen?»


Silvia Raemy Sprecherin Agile.ch

 

Das Bundesamt für Verkehr weise die Aufsichtspflicht vons ich und verweise auf das Klageund Verbandsbeschwerderecht,sagt Raemy.

«Die Resultate sindernüchternd. EinGrossteil hat nochnicht mal angefan-gen oder will nichtwahrhaben, dass sieetwas tun müssten.»

Das Problem sei aber, dass die Gerichte oftmal sdie wirtschaftlichen Interessen der Transportfirmen generell stärker gewichten als das autonome Leben und Reisen von Menschen mit Behinderungen.Anstatt dass sichergestellt werde, dass die Firmen die Gesetzesvorgaben erfüllten, werde Menschen mit Behinderungen die Botschaft vermittelt: Passt euch an und geht mit den Hindernissen so gut wie möglich um. «Das ist absurd.»

«Bei den Bushaltestellen istes nur noch peinlich»

Agile.ch werde weiterhin versuchen, die Verantwortlichen für die Bedürfnisse von Menschenmit Behinderungen zu sensibilisieren, sagt Raemy. Dies habezum Teil schon gefruchtet, wie das Beispiel Stadt Bern zeige.Dort würden die Verkehrsbetriebe Bernmobil und die Behindertenkonferenz der Stadt und Region gut zusammenarbeiten -mit der Folge,dass viele Lösungen über die Vorgaben hinausgehen. So wird bei der Abfahrten-Anzeige eine grössere Schrift verwendet, sowie eine Beschichtung, die weniger spiegelt. Und eine Vorlese-Funktion ist auch vorhanden.

Markus Schefer, der erste Schweizer im UNO-Ausschuss für Behindertenrechte, hattekürzlich in dieser Zeitung die hiesigen Busbetriebe und die SBB scharf kritisiert. Dabei ging es um das selbstständige Einund Aussteigen. Tram- und Bushaltestellen müssen bis Ende 2023 behindertentauglich umgerüstet werden. Auch dies schreibt das Behindertengleichstellungsgesetz vor.

Gemäss der Fachstelle für Hindernisfreie Architektur waren 2018 von 50 000 Bushaltestellen erst 1000 umgebaut.«Bei den Bushaltestellen ist es einfach nur noch peinlich», sagt Schefer. Zudem ist die grösste Zug-Bestellung in der Geschichte der SBB in der Kritik. Schefer:«Es ist sehr bedenklich, dass die SBB über 60 Züge bestellt haben, welche die nächsten 30 oder 40 Jahre im Einsatz sein werden, die aber für durchschnittliche Rollstuhlfahrer mit Handrollstuhl nicht selbstständig benutzbar sind.» Für sie besteht wegen der steilen Rampe bei den Bombardier-Zugtüren die Gefahr, umzufallen und sichden Kopf aufzuschlagen.

In der Schweiz leben1,8 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen.

Wortlos,aber nichts prachlos

(Schaffhauser AZ)


Gehörlose müssen viele Barrieren überwinden. Vor allem jene, die Hörende im Kopf haben.

 

Romina Loliva


Kommunikation

 

Christa Notter, Patty Shores und Roland Hermann unterhalten sich angeregt. Es ist Montag, der Kantonsrat berät gerade das Budget fürdas nächste Jahr. Draussen im Regen verteilen die Staatsangestellten harte Brötchen. Im Saal geht es um eine langersehnte Lohnerhöhung und um weitere Krümel, um die das Parlament während des Tages streiten wird. Die drei sitzen auf der Tribüne und verfolgen die Debatte. Unten geben die Kantonsrätinnen und -räte ihre Voten zum Besten. Nach der Aufwärmrunde bei der Eintretensdebatte ringen sie in der Detailberatung um jeden Franken.

Plötzlich ruft Hermann aus. Der Ärger steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Frau,Patty Shores, mahnt ihn, ruhig zu bleiben. Der Mann aber rückt seine Hornbrille zurecht und wirft die Arme hoch. Was im Saal diskutiert wird, passt ihm ganz und gar nicht. Das merkt aber kaum jemand. Denn Hermann ist, wie die anderen an diesem Morgen auf der Tribüne,gehörlos. Wenn er spricht, hört man ihn nicht, man sieht ihn. Nur aus dem Ratssaal schaut niemand zu ihm hoch.

Unsichtbare Minderheit

Laute macht der Mensch vom ersten Moment seines Lebens an. Was zuerst ein Schrei ist, wandelt sich schnell in Silben, Melodien, in Worte und Sätze. Sprache ist die Basis für Kultur, Gesellschaft und Zivilisation und ist so vielfältig wie der Mensch selbst. Weltweit gibt es gemäss Max-Planck-Institut zwischen 6500 und 7000 verschiedene Sprachen. Dass uns Laute über die Lippen kommen, wenn wir den Mund aufmachen, ist selbstverständlich. Nur gilt das nicht für alle. Denn die gesprochene Sprache entwickelt sich nur dank dem Gehör. Ist diese Fähigkeit beeinträchtigt, müssen die Betroffenen ausweichen, auf Zeichen und Gebärden.Das machen sie vollkommen natürlich. Die Gebärdensprache ist ihre Muttersprache. Eine, die ausserhalb der gehörlosen Gemeinschaft jedoch fast niemand versteht oder gar spricht.

In der Schweiz, wo Kinder bereits im Kindergartenalter mit verschiedenen Sprachen in Berührung kommen, ist die Gebärdensprache eine Randerscheinung. Obwohl es rund 10000 nicht Hörende gibt, die 12 Dialekte der Deutschschweizer Gebärdensprache sprechen,ist diese kaum ein Thema. Schulen, Kulturinstitutionen, Behörden: Nirgends kommt sie zum Einsatz. Gehörlose besuchen eigene Schulen, für jede Kommunikation mit Hörenden ist eine Übersetzung nötig. Die Barrieren sind überall. Im Zug verpassen sie die Durchsagen, im Restaurant bekommen sie nicht das,was sie bestellt haben. Bei Notfällen können sie nicht einfach die 144 wählen. Und wenn sie nach dem Weg fragen müssen, bleibt niemand stehen. Sie sind unsichtbar.Das soll sich ändern.

Lobbyoffensive

Inzwischen ist es Mittagszeit. Die meisten Kantonsrätinnen und -räte sitzen irgendwo vor dampfenden Tellern. Nach der Pause wird bis zu später Stunde debattiert. Ein paar bleiben aber im Foyer des Kantonsratssaals, wo ein kleiner Apero stattfindet Bei Chäschüechli und Weisswein heisst der SP-Kantonsratspräsident Andreas Frei die Mitglieder der Gesellschaft der Gehörlosen Schaffhausen willkommen. Der Anlass wird zum 25. Jubiläum der Gesellschaft organisiert. Der Kantonsratspräsident hat die Mitglieder eingeladen und für eine professionelle Übersetzung durch zwei Dolmetscherinnen während der ganzen Debatte am Vormittag gesorgt. Für den Kantonsrat ein Novum. Schon öfters waren fremdsprachige Delegationen zu Gast, Gehörlose jedoch nie.

Eine gute Gelegenheit, um für die eigenen Anliegen zu lobbyieren. Denn die Gehörlosen haben viel zu sagen. «Natürlich interessiere ich mich für Politik», erzählt Christa Notter. Die 43-Jährige aus Beringen ist Stellenleiterin des-Vereins für Sprache und Integration Dima. «Ich gehe abstimmen und wählen und würde gerne mehr mitwirken», sagt sie entschieden, aber das gehe schlicht nicht. Auch die anderen Anwesenden, die sich während der kantonsrätlichen Sitzung ausführlich über die diskutierten Themen unterhalten haben, betonen, dass sie das alles sehr interessiere: «Ich bin ein aktiver Bürger», sagt Roland Hermann, «ich habe eine Meinung», seine Frau und er seien auch Mitgliederder SP. Aber für den Kantonsrat zu kandidieren? Das sei im Moment undenkbar. «Wir gehen vergessen», fügt seine Frau, Patty Shores, an.

Die anwesenden Politikerinnen und Politiker zeigen Verständnis. Lorenz Laich, der bald von Andreas Frei das Präsium des Kantonsrats erben wird, ist sichtlich erfreut: «Wir klagen immer über Desinteresse. Es ist schön,zu sehen, dass es Menschen gibt, die sich beteiligen wollen», sagt der FDP-Mann. Freude allein reicht jedoch nicht Der Kanton ist auf die Mitwirkung von Gehörlosen absolut nicht vorbereitet. Es gibt keinen Übersetzungsdienst,keine visuellen Kommunikationsmittel. Ein Parlament, das ausschliesslich auf dem gesprochenen Wort basiert, ist mit der Inklusion von nicht Hörenden überfordert. Auch das aktive Wahlrecht und das Abstimmungsrecht stellen Gehörlose vor Probleme. Denn entgegen der geläufigen Meinung, dass Lesen für Gehörlose kein Problem sei, ist die Schriftsprache für viele eine grosse Hürde. Die Deutsche Gebärdensprache ist nicht Deutsch in Gebärden, sondern ein Sprachsystem mit einer eigenen Grammatik,das sich von der Laut- und Schriftsprache deutlich unterscheidet Komplexe Texte zu lesen, ist für nicht Hörende eine Herausforderung. Immerhin habe der Bund reagiert, erzählt Shores:«Das Abstimmungsbüchlein gibt es nun auch als Video in Gebärdensprache, das erleichtert uns den Zugang zur Demokratie», vom Kanton erwarte man eigentlich dasselbe.

«Wir werden behindert»

Ob etwas geschehen wird, ist unklar. Dringender scheint es für die anwesenden Gehörlosen, dass man sie ernst nimmt. Und das fängt mit dem Abbau der Barrieren an, die die Hörenden im Kopf haben. «Wir sind nicht behindert», erklärt Christa Notter, «wir werden behindert.» Immer wenn es darum gehe, Inklusion zu fördern,würde die Kostenfrage gestellt und mit ihr diejenige der Verhältnismässigkeit: Ist es gerechtfertigt, Geld für eine Minderheit auszugeben? «Mit einem Preisschild versehen zu werden, ist ziemlich diskriminierend», sagt sie weiter.

Und dann geht es noch um den Respekt:Gehörlose sprechen mit Gesten, ihre Mimik istentscheidend, der Körpereinsatz gibt dem Gesagten Ausdruck, vermittelt Emotionen und Intention. Das alles verpasst man, wenn man sie nicht anschaut oder davon ausgeht, das ssie eine geistige Beeinträchtigung hätten. Was lange Zeit die Regel war. Bis Ende der 1980erJahre war es Gehörlosen in vielen Fällen verboten, die Gebärdensprache zu gebrauchen, man zwang sie, mit Stimme zu sprechen.

Dreissig Jahre später braucht es den Perspektivenwechsel, ein breiteres Verständnis von Kommunikation, die auch heissen kann: Hinschauen. Und vielleicht wird künfig manches Mitglied des Kantonsrats öfters den Blick nach oben richten.

Gehörlose haben vielzu sagen, auch in Bezugauf die Politik. Das siehtman.Peter Pfister

 

Kommunication

 

Kleine Hindernisse mit grossen Auswirkungen abbauen

(Schweizer Gemeinde)

Reise, Unterkunft und Freizeitaktivitäten sollen zuverlässig barrierefrei möglichsein. Dieses Ziel wollen die Bündner Destination Klosters, die Regional-entwicklung der Region Prättigau/Davos und Pro lnfirmis gemeinsam erreichen.


Auf der Madrisa fährt die erste Sesselbahn für Monoskifahrer, und es stehen für deren Bedürfnisse speziell ausgebildete Skilehrer bereit. In den nächsten Jahren soll die ganze Region Davos – Klosters möglichst umfassend barrierefrei gestaltet werden.Geplant sind unter anderem Zughilfen für Rollstühle, Tennisrollstühle sowie die Schaffung eines Sledge-Hockey-Angebots, ein Novum in der Schweiz.Bild: zVg

 

Projektpartner sind Pro Infirmis, die Destination Davos Klosters und die Regionalentwicklung der Region Prättigau/Davos. Ziel ist es, dass alle in der Mobilität eingeschränkten Personen in der Destination ein durchgehendes Angebot vorfinden, das auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Gemeint ist damit, dass die Reise, die Unterkunft und die Freizeitaktivitäten zuverlässig barrierefrei möglich sind. Steht man jetzt noch ganz am Anfang, so soll es schlussendlich möglich sein, vom heimischen Computer aus ganze Angebote buchen zu können.

Markt mit Wachstumspotenzial

Ganz so weit ist man allerdings noch nicht. In einem ersten Schritt ist man dabei, zuerst einmal das bereits vorhandene Basisangebot abzuklären. Das beinhaltet die Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehr wie auch das angebotsnahe Parkieren. Dann geht es um Unterkünfte, Restaurants,öffentliche WCs und andere Anlagen. Wichtig ist dies, weil der Barrierefreiheit im öffentlichen Leben immer mehr Bedeutung zukommt. Auf der einen Seite sind es immer mehr gesetzliche Vorschriften, die einen barrierefreien Zugang verlangen.Schwellen, Stufen und Treppen. Nadelöhre, die nur im Seitwärtsgang passierbar sind. Wege, die abrupt vor grossen Steinen enden. Zimmereinrichtungen,die nur im Stehen zu bedienen undTransportmittel, die nur mit einem grossen Schritt zu erklimmen sind. Das alles sind Barrieren, die Menschen, die auf Räder angewiesen sind, im Alltag einschränken. Gemeint sind damit ältere Personen oder Eltern mit Kinderwagen,aber auch Rollstuhlfahrer. Die IG Davos Klosters Access Unlimited hat sich vorgenommen, ihnen allen in Zukunft ein attraktives Angebot unterbreiten zu kön-Auf der anderen Seite wächst wegen des demografischen Wandels die Zahl älterer Mitmenschen. So tendieren ältere und behinderte Reisende dazu, länger zu reisen und eine grosse Bindung zum Reiseziel aufzubauen.Vorausgesetzt, sie finden dort eine ihren Bedürfnissen entsprechende, funktionierende Infrastruktur. Ausserdem reisen sie oft in Begleitung, was für Feriendestinationen zusätzliche Wertschöpfung bedeutet.Wenn Barrieren weggeräumt werden,kommt dies nicht nur den neuen Gästen zugute, sondern es profitieren auch die treuen Stammgäste und Zweitwohnungsbesitzer, die sich allmählich mit den Herausforderungen des Alterns konfrontiert sehen.

Standardisierte Beurteilung der Angebote durch Pro Infirmis

Voraussetzung für eine Bewertung als barrierefrei ist eine standardisierte von Pro Infirmis vorgegebene Beurteilung.Unter den lokalen Beherbergern hat sich bereits eine erfreulich hohe Zahl für diese standardisierte Erfassung ihrer Angebote angemeldet. In einem nächsten Schritt werden sie im kommenden Winter von Testern besucht, die von Pro In-firmis ausgebildet wurden. Diese, Rollstuhlfahrer wie auch Menschen ohne Einschränkungen, bewerten aufgrund genauer Vorgaben die von den Anbietern gemachten Angaben und übermitteln ihre Resultate an Pro Infirmis. Bis im kommenden Frühjahr sollen die Ergebnisse dort zusammengezogen und für die weitere Verwendung auf der Homepage der Destination aufbereitet werden. Denn das grundlegende Problem ist, dass viele attraktive Angebote zwar bereits vorhanden, aber noch zu wenig bekannt sind. So ist zum Beispiel die Madrisa weitgehend barrierefrei. Dort fährt die erste Sesselbahn für Monoskifahrer, und es stehen für deren Bedürfnisse speziell ausgebildete Skilehrer bereit. Diese und weitere Angebote zu finden und sichtbar zu machen, ist einerstes Ziel der IG. Bis im Herbst 2020, so die Projektplanung, will man bereit sein,potenziellen Gästen die Möglichkeiten in übersichtlicher und buchbarer Form anzuzeigen. Die Kosten hierfür belaufen sich auf gut 100000 Franken und sind dank Beiträgen der öffentlichen Hand sowie zahlreichen Sponsoren auf gutem Weg, gedeckt werden zu können.

Angepasste Freizeitangebote

In einem zweiten Schritt sollen auch die Freizeitangebote ausgebaut werden.Dazu gehören die Anschaffung von sogenannten Zughilfen für Rollstühle sowie die Schaffung eines Sledge-Hockey-Angebots,ein Novum in der Schweiz. Von Sponsoren schon zugesichert ist die Finanzierung von zwei sogenannten Tennisrollstühlen sowie einer Monoski-Ausrüstung. Denn heute werden Ausrüstungsgegenstände eher vor Ort gemietet als umständlich transportiert. Stimmt das restliche Angebot, steht dem sportlichen Plausch dann nichts mehr im Weg.


Stefan Steiner Leiter RegionalentwicklungQuelle: «Davoser Zeitung» vom 15. Oktober 2019

 

Weitere Informationen und Kontakt:Tel. 081 414 32 38,stefan.steiner@ praettigaudavos.ch

Zuger Bushaltestellen haben ein Manko

(luzernerzeitung.ch)


Die Bushaltestelle Obmoos hat auf der Bergseite noch kein Bänkli.
(Bild: Maria Schmid, Zug, 13. November 2019)

 

An der Ägeristrasse sind im September die Bagger aufgefahren: Die Bushaltestellen Rütli, Obmoos und Fadenstrasse wurden behindertengerecht gemacht – die Randsteine wurden angehoben, sodass nun alle Fahrgäste auch mit Rollstuhl oder Kinderwagen bequem ohne Stufe einsteigen können. Seit rund einer Woche sind die Arbeiten abgeschlossen. Was aber auffällt: Bei gewissen Bushaltestellen fehlen Sitzbänkli. Behindertengerechte Bushaltestellen, bei denen mobilitätseingeschränkte Personen nicht einmal eine Sitzgelegenheit vorfinden? Ein Unding, fand eine Leserin, die sich bei unserer Zeitung gemeldet hat. Baudirektor Florian Weber betont, dass es weder auf kantonaler noch auf eidgenössischer Ebene gesetzliche Vorgaben zu Sitzbänken an Haltestellen gebe:

«Als Minimalstandard genügt es, eine Haltestellentafel inklusive Fahrplan am Strassenrand aufzustellen.»

Weiter seien für die Ausrüstung der Bushaltestellen, wozu auch Sitzbänke gehören, die Gemeinden zuständig. Bei der Stadt verweist man auf die Bushaltestelle Obmoos, wo es stadteinwärts im Busunterstand eine Sitzbank habe. Bei den übrigen erwähnten Bushaltestellen fehle der Platz auf öffentlichem Grund. Die Trottoirbreiten liessen keine zusätzlichen Sitzgelegenheiten zu, weil ansonsten der Winterdienst und die Strassenreinigung nicht mehr durchkommen würden. Zudem handle es sich bei den Bushaltestellen Rütli und Fadenstrasse auf der Ägeristrasse Richtung Berg hauptsächlich um «Aussteigehaltestellen». «Die Passagiere kommen mehrheitlich vom Stadtzentrum und verweilen nach dem Aussteigen nicht dort, sondern laufen nach Hause oder in die Schule», heisst es bei der Stadt.

Zug steht im nationalen Vergleich gut da

Gemäss dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) des Bundes soll bis Ende 2023 der gesamte öffentliche Verkehr autonom benutzbar und somit hindernisfrei sein. Bis dann muss an allen relevanten Bushaltestellen die Trottoirkante so erhöht werden, dass auch ein Rollstuhlfahrer ohne fremde Hilfe in den Bus fahren kann. Die Kantone sind bei der Umsetzung allerdings massiv in Verzug. Laut einem Bericht von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz, sind erst zirka zehn Prozent der Schweizer Bushaltekanten barrierefrei benutzbar. Demgegenüber steht der Kanton Zug verhältnismässig gut da: Laut Baudirektion sind von den 311 Bushaltestellen an kantonalen Strassen bereits rund 35 Prozent (108 Haltestellen) behindertengerecht aufgerüstet. Für die Stadt Zug ist das Bild gar noch positiver: Von den 84 Bushaltestellen an Gemeindestrassen ist schon über die Hälfte barrierefrei.

Baudirektor Florian Weber räumt allerdings ein, dass es nicht möglich sein wird, bis Ende 2023 alle Bushaltestellen hindernisfrei aufzurüsten. Als Beispiel erwähnt er den Bahnhof Zug, der wegen seiner Kurvenlage die Normen nicht erfüllen kann. «Der Kanton Zug ist aber bestrebt, wenn immer mit verhältnismässigem Aufwand möglich, eine Baute so auszuführen, dass die öffentlichen Verkehrsmittel durch mobilitätsbehinderte Menschen hindernisfrei benutzt werden können.»

Verhältnismässigkeit als entscheidender Faktor

Weber betont, dass auch dem BehiG dieser Grundsatz der Verhältnismässigkeit zugrunde liege. Demnach sind Benachteiligungen hinzunehmen, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis zu folgenden Faktoren steht; dem wirtschaftlichen Aufwand, den Interessen des Umwelt-, Natur- oder Heimatschutzes sowie den Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit. Entscheidend sind auch die Zahl der Benützer einer Haltestelle und ihre Wichtigkeit als Umsteigemöglichkeit. «Bushaltestellen werden jeweils im Zusammenhang mit anstehenden Strassensanierungen und aufgrund der Prioritäten umgebaut», so Weber. Wo Haltestellen nicht hindernisfrei umgebaut werden, helfe der Chauffeur mit einer Rampe.

Tatsächlich befassen sich auch die Zugerland Verkehrsbetriebe mit der Umsetzung des BehiG. «So wurde die gesamte ZVB-Flotte auf Niederflurbusse umgestellt, die ein stufenloses Einsteigen ermöglichen», erklärt ZVB-Mediensprecherin Karin Fröhlich. Bezüglich barrierefreier Bushaltestellen stehen allerdings der Kanton und die Gemeinden in der Pflicht – und die Öffentlichkeit beobachtet die Geschehnisse mit Argusaugen.

Beat Husmann von der Fachstelle Hindernisfreies Bauen der Pro Infirmis Zug zieht eine durchzogene Bilanz. Zwar stelle man in den letzten zwei Jahren eine steigende Zahl angepasster Haltestellen fest.

«Bei Menschen mit Behinderung herrscht aber grosser Unmut über die fehlende autonome Benutzbarkeit des öffentlichen Verkehrs im Kanton Zug», so Husmann.

Hohe Bushaltekanten kämen zudem allen ÖV-Passagieren zugute – mit oder ohne Behinderung. «Und auch das Vorhandensein von Sitzbänken ist ein Nutzen für Reisende und ein nachvollziehbares Bedürfnis.»

Kaum einer will Sozialdetektiv werden

(bz Zeitung für die Region Basel)

Seit Anfang Oktober müssen die Überwacher eine Ausbildung vorweisen können. Doch das Interesse an den Kursen ist gering.

Tobias Bär

Nun ist er in Kraft, der «Schlüsselloch-Paragraph». Mit diesem Begriff machten die Gegner im Vorfeld der Volksabstimmung vor einem Jahr Stimmung gegen die Wiedereinführung der Sozialdetektive. Ohne Erfolg: Das Volk sagte klar Ja. Seit eineinhalb Monaten dürfen die Invalidenversicherung oder die Unfallversicherer bei einem Missbrauchsverdacht verdeckte Beobachtungen durchführen. Die Detektive brauchen dafür eine Bewilligung des Bundes. Eine solche erhält nur, wer unter anderem ein weisses Betreibungsregister vorweisen kann. Zudem müssen die Sozialdetektive über ausreichende Rechtskenntnisse sowie über eine polizeiliche oder «gleichwertige» Observationsausbildung verfügen.

Nur: Eine solche gleichwertige Ausbildung existierte in der Schweiz noch gar nicht, als der Bundesrat im Juni die Voraussetzungen für die Überwachung von Versicherten festlegte. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) sei daran, eine Ausbildung zu organisieren,hiess es damals. Diese solle im ersten Halbjahr 2020 erstmals angeboten werden. Inzwischen sind aber zwei Private in die Bresche gesprungen. In der Westschweiz bietet das Detektivbüro Agence Neuhaus Ericmetes Privees ab dem Frühling Ausbildungsgänge an.

Bereits losgelegt hat die Zürcher Detektei Business Control (Schweiz) AG, die neben einem zweitägigen Rechtskundekurs auch einen fünftägigen Observationslehrgang im Angebot hat. Dieser wird von einem ehemaligen Chef der Stadtzürcher Kriminalpolizei geleitet und ist auf 8 bis 12 Teilnehmer ausgelegt. Erstmals durchgeführt wurde der Lehrgang im September. Ein zweiter Kurs fiel ins Wasser, weil zu wenige Anmeldungen eingegangen waren.«Die Nachfrage liegt deutlich unter den Erwartungen», sagt Geschäftsführer Pascal Oswald.

Der Bund hat bis jetzt 27 Bewilligungen erteilt

Der Rechtsanwalt vermutet, dass die IV-Stellen und die Unfallversicherer die versteckten Beobachtungen zuerst wieder hochfahren müssen. In der Vergangenheit setzte die IV durchschnittlich in rund 150 Fällen pro Jahr auf die Hilfe von Detektiven. Der grösste Unfallversicherer, die Suva, tat dies in 10 bis 15 Fällen. Nachdem der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Herbst 2016 die fehlende gesetzliche Grundlage beanstandet hatte, wurden die Observationen eingestellt. Gemäss Oswald könnte die geringe Nachfrage auch mit der Übergangsregel zusammenhängen, die der Bundesrat aufgrund der zunächst fehlenden Ausbildungsmöglichkeit geschaffen hat: Während sechs Monaten gibt es auch ohne Observationskurs eine auf zwei Jahre befristete Bewilligung. Dies aber nur,sofern der Gesuchsteller über Erfahrungen als Sozialdetektiv verfügt. Tatsächlich heisst es beim BSV auf Anfrage, von den mittlerweile 27 erteilten Bewilligungen seien 14 auf zwei Jahre befristet. Die Personen mit befristeter Bewilligung müssen die Aus- oder Weiterbildung nachholen. Die Betroffenen warteten möglicherweise noch ab, «wie sich das Angebot in nächster Zeit entwickelt», teilt das BSV mit. Für Oswald zeigt sich jedenfalls bereits, dass die Gegner des Gesetzes mit ihrer Warnung vor einer «masslosen Überwachung» übertrieben haben. Die Agence Neuhaus Enquetes Privees kann die Nachfrage noch nicht beurteilen.

Gute Kenntnisse «auf dem Gebiet der Tarntechnik»

Die beiden bestehenden Angebote erfüllen die Anforderungen des Bundes.So müssen die Sozialdetektive nach dem Observationslehrgang in der Lage sein, eine Person «diskret per Fahrzeug» zu observieren. Weiter müssen sie mit optischen Hilfsmitteln umgehen können. Der Bundesrat hat dafür Leitplanken festgelegt: Es dürfen keine grossen Teleobjektive, Nachtsichtgeräte oder Drohnen eingesetzt werden.Die Ausbildung soll zudem «gute Kenntnisse auf dem Gebiet der Tarntechnik» vermitteln.

Ob es den vom Bund angestossenen Lehrgang angesichts des geringen Interesses noch braucht, ist offen. Das werde sich in den nächsten Wochen weisen, heisst es beim BSV.


Die Observationen in den Sozialversicherungen gestoppt.Ein Detektiv bei der Arbeit in Zürich, aufgenommen im Mai 2016. Kurz darauf wurden Bild: Gaetan Bally/Keystone

 

Bund muss IV-Arzt entmachten

(SonntagsBlick)

Für 14 Millionen Franken bestellte die IV von 2013 bis 2018 Gutachten bei Dr. Mast. Nun darf er keine neuropsycho-logischen Abklärungen mehr vornehmen.


Die Firma Dr. Mast erstellte in nur fünf Jahren IV-Gutachten für 14 Millionen Franken.Rechts:Auszüge des Urteils gegen die St. Galler IV-Stelle

 

REZA RAFI

Ist dieser Mensch arbeitsfähig oder hat er Anspruch auf Invalidenrente? Diese Frage entscheidet über das Schicksal eines ganzen Lebens.Für medizinische Gutachter ist sie Teil des beruflichen Alltags.Für manche ein gutes Geschäft.

Zu den grossen Playern der Branche gehört der Zürcher Neurologe Henning Mast. Beiseiner Firma PMEDA habendie Schweizer IV-Stellen inden Jahren 2013 bis 2018 Gutachten für über 14 Millionen Franken in Auftrag gegeben.Diese Zahl resultiert aus der Aufstellung des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV). Masts Firma bietet Krankenkassen, Rechtsanwälten und IV-Stellen medizinische Abklärungen in 20 Disziplinen an, darunter Rheumatologie, Onkologie oder Kardiologie. Mast erstellt auch selbst Gutachten.

Seit einigen Wochen ist Mast allerdings ein wenig zurückgebunden.

Am 3. Oktober flattert denkantonalen IV-Stellen ein Schreiben ins Haus.

Absender ist der Bund, genauer das BSV. Laut Betreff geht es um die «fachliche Qualifikation von Herrn Dr. med.Henning Mast». Der Arzt sei ab sofort nicht mehr für die Durchführung neuropsychologischer Gutachten zugelassen.

Unterzeichnet ist der Rundbrief von BSV-Vize Stefan Ritler. Er liegt SonntagsBlick vor.

Der Bund ergriff diese Massnahme nicht von sich aus: Die Verwaltung sah sich zu diesem Schritt gezwungen. Anlass ist ein Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts vom 5. September,das für Mast ungünstig erscheint.

«Lediglich sekundäres Grundwissen»

Eine Frau, die seit einem Verkehrsunfall mit Verdacht auf traumatische Hirnverletzung an Schmerzen im ganzen Körper leidet, hätte im Rahmen einer sogenannten polydisziplinären Abklärung auch von Mast untersucht werden sollen. Die Zuteilung erfolgte nach dem Zufallsprinzip.Doch die Patientin reichte Beschwerde ein:Neurologe Mastverfüge nicht über die Fachkompetenz, um neuropsychologische Gutachten zu erstellen.

Das Gericht gab der Frau recht.Das Urteil der drei Richterinnen könnte kaum deutlicher sein: Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologischeAus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundäres Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primä raufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».

Angesichts der Tätigkeit in einem derart heiklen Bereich lässt das Verdikt aufhorchen. Zwar betrifft das Urteil einen Einzelfall. Doch hat Masts Firma Hunderte von Patienten abgeklärt. Und der St. Galler Rechtsstreit ist nicht der erste,in den Mast involviert ist.Allerdings waren weder Mast noch seine Firma in dem Gerichtsprozess Partei.

Doch das Bundesamt für Sozialversicherungen relativiert das eigene Rundschreiben an die IV-Stellen gegenüber SonntagsBlick.Die Behörden erklären den Umstand, dass Mast als neuropsychologischer Gutachter gestoppt wird, zur Formalie.«Diese Einschränkung geht einzig auf die erklärten formellen Gründe zurück und hat keinerlei Zusammenhang mit der Qualität der Gutachten dieses Arztes», teilt der Sprecher des Amts auf Anfrage mit.

Zudem verweist man auf einen ähnlichen Prozess im Thurgau, bei dem Mast gestützt wurde. Er verfüge «über eine fachärztliche Ausbildung in Neurologie sowie über eine Zusatzausbildung in Neuropsychologie». Strittig sei nur,«ob diese beiden Ausbildungen zusammen dazu bemächtigen,neuropsychologische Gutachten durchzuführen».

An der Zusammen arbeit mit Mast hält das Bundesamt ausdrücklich fest: «Der erwähnte Arzt darf weiterhin neurologische Gutachten für die IV er-stellen. Nur für neuropsychologische Gutachten darf er nicht mehr eingesetzt werden.» Naheliegende Schlussfolgerung: Von einem Gericht lässt sich die Verwaltung nicht so schnell beeindrucken.

Masts Firma sagt: «Dass die Kompetenz und die Unbefangenheit eines Gutachters von den Anwälten der Begutachteten bezweifelt werden, wenn das Gutachten nicht das erwünschte Ergebnis erbringt, ist keine Neuigkeit und gehört zum Tagesgeschäft einer Gut-achterstelle.» Man werde den Entscheid des Bundesamtes für Sozialversicherungen nicht anfechten.

Als Konsequenz aus dem«fraglichen St. Galler Urteil»werde man «künftig für neuropsychologische Gutachten vorerst keine Neurologen einsetzen,bis die Frage, ob ein Facharzt für Neurologie ein neuropsychologisches Gutachten erstellen kann, anderweitig entschieden ist».


Fremde Ärzte als fremde Richter

 

Die Schweiz lässt Dutzende Ärzte, die ihre Praxis in Deutschland haben, als IV-Gutachter einfliegen. Sie sollen entscheiden, wer eine IV-Rente bekommt.

THOMAS SCHLITTLER (TEXT)UND IGOR KRAVARIK (ILLUSTRATION)
Das psychiatrische Gutachten erklärt eine Frau für gesund und arbeitsfähig – die IV-Rente wird ihr verweigert. Doch ihr Rechtsanwalt Pierre Heusser (50)aus Zürich hält die Expertise für unbrauchbar.In seiner Beschwerde präzisiert er, dass der zuständige Dr. H.* aus Deutschland stammt und eine psychiatrische Praxis in Hamburg führt. «Es ist also davon auszugehen, dass Dr. H. lediglich als sogenannter 90-Tage-Dienstleister inder Schweiz tätig ist und sonst keinen Bezug zur Schweiz hat.» Für Heusser ist das inakzeptabel. Die Frau habe das Recht, von einem Arzt begutachtet zu werden, der «mit den schweizerischen Gepflogenheiten vertraut» ist.

Dr. H. arbeitet für die SMAB AG,eine von rund 30 Firmen, die in der Schweiz «polydisziplinäre IV-Gutachten» erstellen dürfen. Also solche, die mehrere medizinische Fachbereiche umfassen.

Nun zeigen Recherchen von SonntagsBlick: Dr. H. ist kein Einzelfall. Die SMAB AG arbeitet mit mehr als zehn Ärzten zusammen,die in Deutschland praktizieren und in der Schweiz nur als Versicherungsgutachter arbeiten.

Auch andere Gutachterstellenwie die PMEDA AG von Dr. Henning Mast (Seiten 2 und 3) lassen Ärzte aus Deutschland einfliegen,um Schweizer IV-Antragsteller zu begutachten. Mehrere Dutzend sogenannte Flugärzte sind hierzulande in dieser Funktion tätig.

Versicherungsanwälten, Behindertenorganisationen sowie behandelnden Schweizer Ärzten sind sie ein Dorn im Auge. Die Zürcher Psychiaterin Maria Cerletti (55) kritisiert, die räumliche Distanz verführe zu übermässiger Härte. «Die Kollegen aus Deutschland kenne nuns behandelnde Schweizer Ärzte nicht.Sie müssen uns nicht in die Augen schauen und sie müssen sich auch nicht um ihren Ruf als Behandler in der Schweiz kümmern.»Die Behindertenorganisation Procap moniert, dass sich deren Qualität kaum überprüfen lasse, wenn diese Ärzte ihre Praxis im Ausland hätten.«Es bekommt hier zum Beispiel niemand mit, wenn ein Arzt in deutschen Medien kritisiert wird. Auch disziplinarische Massnahmen bleiben unter dem Radar»,so Alex Fischer, Bereichsleiter Sozialpolitik bei Procap.

Rechtsanwalt Heusser plädiert generell dafür, dass mit der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit Mediziner beauftragt werden sollten, die mit den Schweizer Verhältnissen vertraut seien – mit dem Arbeitsmarkt, dem gesellschaftlichen Umfeld, mit dem Gesundheitswesen.Er fragt rhetorisch: «Oder würde eseinem Gericht in den Sinn kommen, für die Schätzung eines Chalets in Grindelwald einen deutschen Immobilienmakler aus Berlin einzufliegen?» Heusser stellt fest:«Wir Versicherungsanwälte haben den Eindruck, dass genau jene Gutachterstellen mit vielen ausländischen Gutachtern inihren Reihen am häufigsten von der Beurteilungder behandelnden Schweizer Ärzte abweichen.»

Thomas Ihde (51), Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler FMI, will nicht alle Flugärzte in den gleichen Topf werfen.«Einige machen das seit Jahren,sind mit den Gegebenheiten in der Schweiz vertraut und arbeiten seriös», sagt er im Interview mit SonntagsBlick (Seite 6). Es gebebaber auch jene, die nur wegen des Geldes hier seien und die Schweiz kaum kennen:«Unter diesen Umständen ist ein seriöses Gutachten unmöglich.»

Das Bundesamt für Sozialversi-cherungen (BSV) weiss vom Einsatz der fremdländischen Experten.Der geballten Kritik zum Trotz verteidigt die Behörde die Praxis. Sprecher Harald Sohns: «Wir sehen darin kein Problem.» Relevant sei einzig die fachliche Qualifikation der Gutachter und nicht, wo diese ihren Sitz hätten.

Im Übrigen weist das BSV darauf hin, dass die Schweiz auf Gutachter aus dem Ausland angewiesen sei,weil es in bestimmten medizinischen Fachrichtungen einen Mangel an solchen Kräften gebe.

Auf die Frage, wie es komme, dass einzelne Gutachterstellen wie PME-DA und SMAB deutlich mehr Flugärzte in ihren Reihen hätten als andere, geht das BSV nur indirekt ein.Sprecher Sohns: «Die Gutachterstellen sind frei im Entscheid, mit welchen Gutachterinnen und Gutachtern sie zusammenarbeiten.» Es sei kein Mangel, wenn eine Gutachterstelle mehr deutsche Ärzte beschäftige als andere.

Die SMAB AG selbst betrachtet die zahlreichen deutschen Gutachter sogar als Glücksfall. Die beigezogenen Ärzte aus Deutschland hätten keine Berührungspunkte mit den schweizerischen Sozialversicherungsträgern oder der hier ansässigen Privatassekuranz.«Dies kommt unserem Credo, wonach die für uns tätigen Versicherungsmediziner frei von Interessenbindungen sein müssen, sehr entgegen», teilt das Unternehmen mit.Den Begriff «Flugärzte »hält die SMAB AG für despektierlich:«Unsere Gutachterinnen und Gutachter reisen jeweils in die Schweiz ein, in aller Regel mit dem Auto oder dem Zug.» In der Folge seien sie am Einsatzort zumeist mehrere Tage lang gutachterlich tätig.
* Name der Redaktion bekannt


Versicherungsanwälte sagen:«Jene Gutachterstellen mit vielen ausländischen Gutachtern weichen am häufigsten von der Beurteilung der behandelnden Schweizer Arzte ab.

 

Berner Chefarzt spricht Klartext
«Die IV-Stellen sind nicht neutral!»

INTERVIEW: THOMAS SCHÜTTLER

Thomas Ihde (51) ist Chef-arzt der Psychiatrie derBerner Oberländer Spitä-ler FMI und Präsident der Stif-tung Pro Mente Sana, die sichfür Menschen mit psychischenBelastungen einsetzt. Zudem ister als Gutachter für die Inva-lidenversicherungtätig (Photo PD).

Im Interview erklärt er, woran das IV-Gutachterwesen krankt.

Herr Ihde, vor einer Woche machte SonntagsBlick publik,dass einige Ärzte mit IV-Gutachten Millionen verdienen.Was sagen Sie dazu?

Thomas Ihde:Die Zahlen sind erstaunlich. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die Arbeitsfähigkeit von Menschen zu beurteilen.

Das soll angemessen entlöhnt werden.Wenn aber Ärzte, die ausschliesslich IV-Gutachten ausstellen, teilweise bis zu dreimal mehr verdienen als Ärzte, die Patienten behandeln,dann stimmt etwas nicht Anhand der Einkommen lässt sich errechnen, dass einige Ärzte pro Jahr 150 IV-Gutachten oder mehr ausstellen. Ist das seriös?

Nein. Zudem gibt es klare Hinweise darauf, dass einige IV-Ärzte einseitig urteilen. Von Patienten höre ich immer wieder, dass sich Gutachter für die psychiatrische Untersuchung nur 30 Minuten Zeit nehmen -und das, um komplexe Lebenssituationen zu beurteilen. Weiter bekomme ich für unterschiedlichste Menschen regelmässig Gutachten zu Gesicht,die praktisch identisch sind.Das ist ein klarer Hinweis auf Copy-Paste und reine Fliessbandarbeit.

Es gibt auch Ärzte, die ihre Praxis im Ausland haben, für ein paar gut bezahlte IV-Gutachten in die Schweiz fliegen und dann wieder verschwinden. Wie beurteilen Sie das?

Nicht alle Flugärzte sind schlecht. Einige machen das seit Jahren, sind mit den Gegebenheiten in der Schweiz vertraut und arbeiten seriös. Aber es gibt auch jene, die nur wegen des Geldes hier sind und die Schweiz kaum kennen. Unter diesen Umständen ist ein seriöses Gutachten unmöglich. Für die Patienten ist es zudem teils schwierig, wenn der Arzt kein Schweizerdeutsch versteht.Sie können sich auf Hochdeutsch nicht wie gewünscht ausdrücken.

Sie arbeiten ebenfalls als IV-Gutachter. Macht Ihnen das schlechte Image zu schaffen?

Ich möchte betonen: Der Grossteil der IV-Gutachter macht einen guten Job! Es sind einige schwarze Schafe, welche die ganze Branche in Verruf bringen. Das ist tragisch. Denn genau wegen dieses schlechten Rufs wollen viele behandelnde Ärzte, die seriös arbeiten, nicht als Gutachter tätig sein.

Wieso bekommen diese schwarzen Schafe immer wieder Aufträge?

Einige IV-Stellen scheinen jene Gutachter zu bevorzugen, die in ihrem Sinne entscheiden. Das lässt sich zwar nicht abschliessend belegen, weil die IV-Stellen keine Transparenz herstellen. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen: Ich erhielt von der IV schon mehrmals Rückfragen, weil ich einem Patienten eine Arbeitsunfähigkeit attestiert hatte. Ich bekam aber noch nie eine Rückfrage, wenn ich einen Patienten für gesund und arbeitsfähig erklärte …

Die Einschätzung von Gutachtern wird von der IV höher gewichtet als die Einschätzung jener Ärzte, bei denen die Patienten effektiv in Behandlung waren. Wieso?

Die behandelnden Ärzte gelten als voreingenommen und deshalb zu «weich» in der Beurteilung. Die Gutachter dagegen gelten als neutral. Wenn aber drei behandelnde Ärzte völlig anders urteilen als der Gutachter, dann stellen sich schon Fragen. Allerdings besteht auch Handlungsbedarf bei den Behandlern. Sie müssen besser geschult werden.

Haben Sie weitere Vorschläge, um die heutige Situation zu verbessern?

Die IV-Stellen sind nicht neutral,sondern Partei. Sie dürfen deshalb nicht darüber entscheiden,wer ein Gutachten erstellt.Sämtliche Gutachten müssen nach dem Zufallsprinzip vergeben werden. Zudem braucht es eine übergeordnete Qualitätskontrolle von Gutachten und Gutachtern. Eine unabhängige Stelle, bestehend aus Vertretern der IV, Patientenorganisationen sowie der Versicherungsmedizin, könnte so ein System entwickeln. Es braucht Transparenz über die Entscheide der einzelnen Gutachter. Und Gespräche zwischen Gutachtern und Patienten gehören aufgezeichnet.

Leitfaden „Ein Hindernisfreier Kulturbesuch“ Der Proinfirmis

(Büro dlb)

Die Behindertenorganisation Pro Infirmis hat in Zusammenarbeit mit dem Migros Kulturprozent und Expertinnen von Sensability den Leitfaden „Ein hindernisfreier Kulturbesuch“ entwickelt. Er informiert Kulturveranstalterinnen über spezifische Bedürfnisse von Besucherinnen mit unterschiedlichen Behinderungen und zeigt auf, wie Zugangshürden für alle Behinderungsformen abgebaut werden können. Der Leitfaden beinhaltet unter anderem Checklisten, die direkt im Kulturbetrieb übernommen werden können.

Zum Leitfaden:

https://www.kulturinklusiv.ch/admin/data/files/page_editorial_block_file/file_de/174/wegweiser_ein-hindernisfreier-kulturbesuch.pdf?lm=1572376598

Kontakt:https://www.kulturinklusiv.ch/de/startseite/kommunikation/publikationen-51.html?_fumanNewsletterId=47571:39dcefa4e91519ab8b675ac0264a59bd

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Einfacher lesbare IV-Verfügungen

(Tages-Anzeiger)

Versicherungen Die IV soll Entscheide und Mitteilungen so kommunizieren, dass sie von einer durchschnittlichen versicherten Person verstanden werden. Die Verfügungen sollen künftig mit einer Erklärung in leichter Sprache ergänzt werden.Das will der Bund in seine Zielvereinbarungen mit den kantonalen IV-Stellen integrieren. Der Bundesrat reagiert damit auf eine Motion des Aargauer GLP-Nationalrats Beat Flach. (sda)

IV-Ärzte bringen Invalide um ihre Rente

(SonntagsBlick)

Millionen füreinseitigen Gutachten

Ein Berner Arzt kassierte für IV-Gutachten 3,1 Millionen Franken. Der Mediziner ist bekannt dafür, kaum einen Patienten für arbeitsunfähig zuerklären-und er ist kein Einzelfall.

THOMAS SCHLITTLER (TEXT)UND IGOR KRAVARIK (ILLUSTRATION)

Verena Meier* ist 38 Jahre alt, als sie an einer Depression erkrankt. Die Pflegefachfrau muss drei Wochen in Therapie. Dann geht die junge Frau wieder ihrem Beruf nach,muss aber immer wieder in psychiatrische Behandlung.

Nach einem Stellenwechsel geht gar nichts mehr. Ihr Therapeut konstatiert «latente Suizid-gedanken». Ein zweiter Arzt stuft sie als berufsunfähig ein. Ein dritter diagnostiziert ebenfalls 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen.

Meier muss ihren Job aufgeben und beantragt eine Invalidenrente. Die IV-Stelle des Kantons Zürich gibt bei Dr. K.*“ (55) aus Bern ein externes Gutachten in Auftrag. K.s Diagnose: Die depressive Störung habe nachgelassen. Im Gegensatz zu allen Ärzten vor ihm erkennt er keine Krankheit, erklärt die Frau für 100 Prozent arbeitsfähig. Daraufhin lehnt die IV ihren Antrag auf eine Rente ab.

Eineinhalb Jahre später nimmt sich Verena Meier das Leben, am 27. September 2010. Im Sommer des folgenden Jahres wird K. um einen Ergänzungsbericht zum Fall gebeten. Darin hält er an seiner Diagnose fest: Die Verstorbene sei weder psychisch krank noch arbeitsunfähig gewesen. Unter Juristen ist K. berüchtigt für die Gesunderklärung von Patienten. Der Zuger Versicherungsanwalt Rainer Deecke (39) sagt: «Ich kenne keinen Anwalt, der je ein Gutachten von Dr. K. zu Gesicht bekommen hätte,in welchem eine relevante Arbeitsunfähigkeit attestiert worden wäre.»

Trotzdem – oder gerade deshalb- ist K. als IV-Gutachter gefragter denn je. Allein 2018 erhielt er von kantonalen IV-Stellen 334000 Franken.

Seit 2012 kassierte K. für diemedizinische Einschätzung von IV-Antragstellern 1,9 Millionen Franken. Das zeigt ein Dokument des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), das Sonntags-Blick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat.

Darin ist aufgelistet, welche Summen Ärzte und Kliniken zwischen 2012 und 2018 von kantonalen IV-Stellen erhalten haben.Eine Auswertung beweist, was Kritiker der heutigen Vergabepraxis schon lange vermuten: Die IV-Stellen vergeben die Aufträge für Gutachten extrem einseitig.

2018 bezahlten sie 683 Ärzte und Kliniken für die Erstellung von sogenannten monodisziplinären medizinischen Gutachten. Insgesamt vergüteten die IV-Stellen dafür 29,5 Millionen. Dabei erhielten zehn Prozent der Gutachter rund drei Viertel des gesamten Auftragsvolumens (siehe Grafik).Anwälte, Behindertenorganisationen und auch Ärzte monieren,dass Gutachter, die von den IV-Stellen Millionen erhalten, nicht mehr unabhängig urteilen. Sie sehen in der Ungleichverteilung einen Hinweis darauf, dass die IV-Stellen Gutachter bevorzugen,die in ihrem Sinne urteilen – also gegen eine Arbeitsunfähigkeit und damit gegen eine Rente.

Der St. Galler Anwalt Ronald Pedergnana (57) sagt:«Gutachter,die im Sinne der IV ein Gutachten abfassen,kriegen wieder und massenhaft Aufträge. Andere werden nicht einmal berücksichtigt.»Als Beleg dafür verweisen die Kritiker nicht nur auf Dr. K., sonder nauch auf andere Ärzte. Zum Beispiel auf Dr.(64) aus Basel.Der erhielt seit 2012 ebenfalls rund 1,9 Millionen für monodiszi-plinäre IV-Gutachten.

Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz konnte die Behindertenorganisation Procap einen kleinen Teil von G.s Gutachten einsehen.Ergebnis: Von den 23 Patienten,die der Mediziner im ersten Halb-jahr 2018 für die IV-Stelle der Stadt Basel beurteilte, stellte er nur bei jedem vierten eine Arbeitsunfähigkeit fest.


Sind die Hürden füreine 1V-Rentezu hoch?

 

Alle anderen Gutachter zusammen, die im selben Zeitraum für die Basler IV-Stelle 187 Gutachten erstellten,diagnostizierten durchschnittlich bei jedem zweiten Patienten eine Arbeitsunfähigkeit.

Noch schlechtere Chancen, für arbeitsunfähig erklärt zu werden,haben Patienten, die zu Dr. L.**(59) geschickt werden. Der Arzt,der ebenfalls in Bern praktiziert,stellt gemäss Recherchen des Solothurner Rechtsanwalts und SVP-Politikers Remy Wyssmann nicht einmal bei jedem zehnten Patienten eine relevante Arbeitsunfähigkeit fest: «Dank dem kantonalen Öffentlichkeitsgesetz konnte ich sämtliche 59 Gutachten einsehen, welche die IV-Stelle Solothurn zwischen 2012 und 2014 bei Dr. L. in Auftrag gege-ben hat. Demnach hat er nur in 5von 59 Fällen eine Arbeitsunfä-higkeit von 40 Prozent odermehr festgestellt.»

«Fehlleistungen»
Die Expertise von L. wurde auch schon vom Kantonsgericht Luzern in Zweifel gezogen. 2015 erging ein Urteil, gemäss dem auf L.s Gutachten nicht abgestellt werden könne. In dem Beschlussist von einer «gewissen Fehllei-tung des Untersuchers» die Rede.

Geschadet hat es Dr. L. nicht.Er stellt nach wie vor Gutachten um Gutachten aus. Seit 2012 hater von den verschiedenen IV-Stellen insgesamt 3,1 Millionen Franken kassiert.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) sieht trotzallem kein Problem darin, dass einzelne Ärzte von den IV-Stellen Millionen erhalten. Die Unabhängigkeit der Gutachter sei gewährleistet. Sprecher Harald Sohns: «Mit einem prozentualen Anteil bestimmter Arbeitsunfähigkeitsgrade kann sachlich fundiert keine qualitative Beurteilung einer Gutachtertätigkeit vorgenommen werden.»

Auf die Frage, was geschehen müsse, damit Gutachter als einseitig eingestuft und aus dem Verkehr gezogen werden, antwortet Sohns:«Ist belegt, dass ein Gutachter wiederholt die gestellten Anforderungen – versicherungsmedizinisch und juristisch – nicht erfüllt, so wird auf eine weitere Zusammenarbeit verzichtet.» Wie oft das geschieht, kann das BSV nicht sagen. Die Rückweisung von Gutachten durch ein Gericht sei jedoch im Einzelfall kein genügender Grund, weitere Gutachten nicht mehr in Auftrag zu geben.

Und was sagen die kritisiertenÄrzte zu den Vorwürfen?

Dr. K. (IV-Einkommen: 1,9 Mil-lionen Franken) teilt mit, dass er «wegen des Schutzes der Persönlichkeitsrechte» auf Einzelfälle nicht eingehen könne.Im Zentrum seiner Beurteilung stünden aber stets objektive, tatsächlich erkennbare und überprüfbare Defizite der Betroffenen. Es liege jedoch in der Natur der Sache,dass «ausunterschiedlichen Blickwinkeln unterschiedliche Einschätzungen» resultierten.

Dr. G. (IV-Einkommen: 1,9 Mio. Franken) lässt ausrichten,dass er seine Gutachten gemässden Vorgaben des Bundesamtes für Sozialversicherungen und den gesetzlichen Grundlagen entsprechend erstelle. Er betont:«Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen beurteilen die Gerichte die von mir verfassten Gutachten in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als überzeugend.»

Dr. L. (IV-Einkommen: 3,1 Mio. Franken) wollte sich trotz mehrfacher Kontaktaufnahme von SonntagsBlick nicht zum Vorwurf der Parteilichkeit äussern.

* Name von der Redaktion geändert** Name der Redaktion bekannt